Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten – Interview mit dem Autor Dr. Andreas Zeuch

andreas-zeuch-foto-256x256Ich hatte vor einiger Zeit ein Gespräch mit dem Unternehmesberater Dr. Andreas Zeuch (Xing-Profil) geführt, das ich hier gerne auch veröffentlichen möchte. Herr Zeuch hat sich schon während seines Studiums mit Aspekten des Arbeitens auf Augenhöhe und auch dem Aspekt der Nutzung der Intuition bei komplexen Entscheidungen beschäftigt und über seine Erkenntnisse geschrieben. Grund für das Gespräch ist sein neues Buch mit dem provokativen Titel „Alle Macht für niemand. Aufbruch der Unternehmensdemokraten„. Nun ist der Schwerpunkt unseres Forum der öffentliche Dienst. Da sich dieser aber zunehmend wandelt und inzwischen auch von Kunden und Dienstleistern gesprochen wird, lohnt es sich doch mal zu schauen, was sich an neuen Weltbildern die Arbeit in den Unternehmen erkennen lassen:

Cover_klein_rgb-150x150Martin Bartonitz: Lieber Andreas, schön, dass es wieder einen Anlass gibt, miteinander zu sprechen. Ich konnte mir ein gewisses Schmunzeln nicht verkneifen, als ich erfuhr, dass Du nach Deinem Buch Feel it!: So viel Intuition verträgt Ihr Unternehmen, das uns  vor über 4 Jahren zusammen gebracht hat, nun Dein nächstes Werk mit einem noch provokanteren Titel daher kommt. „Alle Macht für niemand“ lässt an die Konzepte der Anarchisten denken: Keiner habe das Recht über einen Anderen zu herrschen. Nach einer Jahrtausenden langen Zeit der Sklaverei und Leibeigenschaft in vielen Gebieten auf unserer Erde hat sich seit etwas über 200 Jahren die Idee der Demokratie in der westlich geprägten Welt mehr oder weniger zumindest auf politischer Ebene durchgesetzt. In unseren Unternehmen dagegen greifen überwiegend noch immer die alten Herrscherkonzepte: gedacht wird an der Spitze der Hierarchie, nach unten ist ungefragt zu gehorchen und umzusetzen. Die Teilung von Kopf- und Handarbeit, wie sie bei Ford im Zusammenspiel mit Taylor perfektioniert wurde. Was ist los, dass sich doch zunehmend Unternehmungen finden, die sich inzwischen ganz anders organisieren, die eine ganz andere Kultur von Selbst- und Mitbestimmung pflegen?

Andreas Zeuch: Da sehe ich ein ganzes Sammelsurium an Gründen, die zu Veränderungen führen. Einer der Schwerpunkte ist sicher die digitale Transformation, darüber habe ich auch im Blog der Unternehmensdemokraten etwas veröffentlicht. Die neuen Kommunikationstechniken sorgen für eine zunehmende Vernetzung  der Menschen. Durch die technischen Plattformen gewöhnen wir uns daran, uns selbst aktiv zu beteiligen. Inzwischen ist es sehr einfach, seinen eigenen Blog einzurichten und damit zum Beispiel ohne Anstellung bei einer Zeitung journalistisch tätig zu werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass durch die Globalisierung auf der einen Seite und durch die Beschleunigung der Technik- und Produtkionszyklen auf der andere Seite die Grenzen einer zentralen Steuerung erreicht sind. Schon seit ein paar Jahren wird diese explosive Mischung aus steigender Dynamik und Komplexität als Dynaxity bezeichnet.

Dynaxity: Zunahme von Komplexität und Dynamik (Bild: Wikipedia)
Dynaxity: Zunahme von Komplexität und Dynamik (Bild: Wikipedia)

Wer in dieser Welt nicht untergehen will, muss unter anderem dafür sorgen, dass Entscheidungen möglichst direkt an den Berührungspunkten von Unternehmen und Markt getroffen werden und Informationen nicht erst die Befehlskette rauf und runter müssen und dabei wertvolle Zeit verloren geht.

Martin Bartonitz: Was kann eine Firmenleitung sonst noch motivieren, Mitarbeiter verstärkt in Entscheidungen einzubinden? Und was ist dabei zu beachten?

Andreas Zeuch: Vorweg schicken möchte ich, dass es keine Garantie für Verbesserungen gibt, wenn ein Unternehmen die Transformation in Richtung Unternehmensdemokratie angeht. Es gibt aber eine lohnenswerte Wahrscheinlichkeit. Fundamental wichtig ist: Der Veränderungsprozess muss über die Geschäftsführung laufen, denn ein Mitglied der Geschäftsleitung muss bereit sein, Macht abzugeben, muss es nicht nur ertragen können, sondern gut heißen, dass fortan einige oder viele Entscheidungen nicht mehr alleine durch das Top-Management getroffen werden. Da stellen sich dann Fragen: Wie sehr vertraue ich meinen Mitarbeitern? Welche Kompetenzen muss ich mir noch erarbeiten? Aber diese Fragen zu beantworten lohnen, denn Unternehmensdemokratie erfüllt zentrale menschliche Grundbedürfnisse wie Autonomie und Kontrolle über das eigene Leben. Niemand will durchgängig fremdbestimmt sein. Wir müssen uns nur Kinder anschauen: Die fordern irgendwann vehement ein, die Dinge selbst tun zu dürfen. Somit geht es darum, unsere Unternehmen schlicht menschlicher zu gestalten.

In unserem Privatleben ist es die Regel, unser Leben selbst zu bestimmen. Dagegen sind die Meisten in den Firmen daran gewöhnt worden, das eigenständige Denken und Handeln an der Pforte abzugeben. Als Ausgleich engagieren wir uns dann in unserer Freizeit, teils ehrenamtlich, und packen mit an, sei es bei der freiwilligen Feuerwehr, Vereinen, der eigenen Gartenarbeit oder indem wir ein kreatives Foodblog betreiben. Wenn nun Menschen mehr ins eigene Tun, in den Entscheidungsfreiraum kommen, dann leben sie selbstbestimmter. In Firmen, in denen Menschen das erleben, finden wir eine geringere Fluktuation als auch einen geringeren Krankheitsstand. Zudem ist die Arbeitsqualität höher als auch die Kreativität. Unter dem Strich also ein großer Gewinn, auch wenn er nicht durch und durch zu quantifizieren ist.

Martin Bartonitz: Prof. Han sieht eine große Gefahr in der Selbstbestimmung (siehe). Während in der Sklaverei klar war, dass hier in Fremdbestimmung der eigene Körper ausgebeutet wurde, so sei nun festzustellen, dass im Gefühl der Selbstbestimmtheit das Ausbrennen viel stärker eintritt. Hast Du eine Erklärung dafür? Und eine Empfehlung, was getan werden kann, um das zu vermeiden?

Andreas Zeuch: Ja, die Gefahr des Ausbrennens ist tatsächlich gegeben. Denn wer Spaß an dem hat, was er tut, hängt sich so richtig rein. Und kann dann genau in diese Selbstausbeutungsfalle geraten. Hier ist es wichtig, dass die Menschen, die miteinander arbeiten, freundschaftlich auf den anderen achten: „Du, ich hab das Gefühl, dass Du Dich übernimmst, bitte pass auf Dich auf. Können wir etwas für Dich tun?“. Da wird Empathie als wichtige Führungs- und Kooperationskompetenz besonders deutlich. Allerdings möchte ich da auch noch kritisch anmerken: Nur weil es dieses Risiko gibt, ist das erstens kein Grund, die Arbeit weiterhin fremdbestimmt zu organisieren. Da gibt es einen fundamentalen Unterschied: In der Fremdbestimmung MUSS ich mich ausbeuten lassen, oder ich verliere meinen Job. In der selbstbestimmten Arbeit ist das eben nicht so. Zweitens habe ich noch von keinem Fall gehört, in dem sich Jemand selbst vor lauter Arbeitsfreude so ausgebeutet hat, dass er sich am Ende vor Verzweiflung umbringt – wie es umgekehrt tragischerweise bei massiv fremdbestimmten Unternehmen wie France Telecom oder Foxconn zumindest der Fall war. Also würde ich sagen: Lieber Prof. Han, lassen sie mal die Kirche im Dorf mit diesem Schreckensszenario.

Martin Bartonitz: Ich vermute, dass Du in Deinem Buch einige konkrete Beispiele von demokratisch agierenden Unternehmen nennst …

Andreas Zeuch: Da vermutest Du richtig. Der Kern des Buches bilden zwölf Fallbeispiele. Acht von diesen habe ich akribisch selbst recherchiert und analysiert. Elf der Firmen haben eine sehr erfolgreiche Unternehmensdemokratie entwickelt. Ich habe das auf Basis von Kennzahlen des Davor und Danach aufgezeigt. Es wird damit sehr schwer, mit Nachteilen einer Unternehmensdemokratisierung aufzuwarten. Zu den untersuchten Firmen gehören ganz unterschiedliche Unternehmen, wie z.B. die Autowelt Hoppmann, aber auch weitere, teils völlig unbekannte Unternehmen. Hoppmann ist seit erstaunlichen 40 Jahren demokratisch organisiert und ist seit dem organisch von rund 120 auf 400 Mitarbeiter angewachsen. Dabei konnte der Umsatz in der Zeit um 547% gesteigert werden. Ein weiteres Beispiel sind die Farbenwerke Wunsiedel, die seit zwei Jahren ein neues Innovationsmanagement eingeführt haben. Hier kann sich nun jeder mit Ideen einbringen, d.h. von der Geschäftsführung bis zum Reinigungspersonal. Ergebnis: 27% Steigerung an umgesetzten Innovationen. Über die Fallbeispiele im Buch hinaus gibt es aber natürlich noch weitere spannende Fallbeispiel, wie den Videotechnologieanbieter movingimage, der die agile Projekt- und Prozessmethode Scrum nicht nur zur Softwarentwicklung nutzt, sondern sie sehr erfolgreich auf das gesamte  Unternehmen anwendet.

Martin Bartonitz: Ich gehe mal davon aus, dass ein Unternehmer mit der Einstellung, dass die Mitarbeiter eher dumm und faul sind, Dich nicht ansprechen würde, ihn bei einer Transformation in demokratische Strukturen zu begleiten?

Andreas Zeuch:  So ist es. Es kommen eher Unternehmer auf mich zu, die schon eine Vorstellung davon haben, wie Menschen sein könnten, wenn man sie nur ließe. In einem ganz aktuellen Fall, der im Zusammenhang mit der Buchveröffentlichung entstanden ist, habe ich einem sehr agilen Geschäftsführer empfohlen, dass er erst einmal mit mir an sich selbst arbeitet, bevor er die anderen Geschäftsführer versucht zu überreden, mit ihm das Unternehmen zu transformieren. Was er glücklicherweise auch sinnvoll findet. Dann gilt es, viele Fragen zu stellen zu den eigenen Erwartungen genauso wie Sorgen und Ängsten. Zentral ist für die Geschäftsführer und Vorstände natürlich auch die Frage, wie die eigene Rolle zukünftig gestaltet werden kann, wenn er oder sie plötzlich nicht mehr alleine oder nur mit den Vorstandskollegen die Strategie festlegt. Mahatma Gandhi formulierte einst:

Sei du selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest.

Es geht also im ersten Schritt um die Arbeit an sich selbst, bevor man oder frau anfängt, an dem Unternehmen herumzudoktern. Diese Arbeit kann ganz unterschiedliche Aspekte umfassen, wie beispielsweise das eigene Menschenbild (siehe X-Y-Theorie), das eigene Rollenverständnis, das Selbstbild, den Selbstwert und das Selbstbewusstsein. Ich sehe das Top-Management als zentralen Katalysator des Wandels, was sich eben auch in meinem Buch zeigt. Deshalb ist es – nicht immer, aber meistens – unerlässlich, bei sich selbst zu beginnen.

Martin Bartonitz: Eine letzte Frage: Was zeichnet Dein Buch besonders aus.

Andreas Zeuch: Soweit ich den Buchmarkt durchforstet habe, gibt es kein vergleichbares Buch, das den Begriff der Unternehmensdemokratie so weit geschärft hat und so unterschiedliche Fallbeispiele derart ausführlich darstellt. Es gibt ja eine Reihe ähnlicher Begriffe wie Wirtschaftsdemokratie, solidarische Ökonomie, organisationale Demokratie, Labor-Managed-Firms und so weiter. Da herrscht ein ziemliches Durcheinander. Kurz zur Gliederung meines Buches:

Es beginnt mit der Entwicklung eines Bezugssystems mit vier Perspektiven: Die erste ist ökonomisch und behandelt die wirtschaftlichen Vorteile der Demokratisierung. Die zweite betrachtet die menschliche Perspektive und setzt sich mit den üblichen Gegenargumenten auseinander und hilft das misanthropische Menschenbild zu korrigieren, das sachlich falsch ist. Die dritte Perspektive ist die gesellschaftliche und zeigt die positiven Effekte auf, die aus den transformierten Unternehmen in die Gesellschaft zurückstrahlt, unter anderem in Form von größerer sozialer Verantwortungsübernahme. list of sites Mit Blick auf das derzeitige Gefühl, dass die Gesellschaft zunehmend verroht, liegt da eine Hoffnung, dass sich der Trend durch die Demokratisierung der Unternehmen vielleicht mit umkehren lässt. Die vierte und letzte Perspektive dieses Bezugssystems ist eine Landkarte der Unternehmensdemokratie mit einer begrifflichen Schärfung.

Dann folgt der Kern des Buches, der auch vom Umfang her den größten Teil ausmacht: Die insgesamt 12 Fallbeispiele aus völlig unterschiedlichen Branchen, Unternehmen mit unterschiedlicher Größe, aber immerhin mit einer durchschnittlichen Mitarbeiteranzahl von 670. Am Ende des Buches gibt es dann eine Rückschau auf diese Unternehmen mit einem wichtigen Fazit: Es lässt sich keine Best Practice ableiten, es gibt kein Rezept mit einem verlogenen Erfolgsversprechen: „Die 5 Erfolgsfaktoren der Unternehmensdemokratie.“ Nein, alle Fälle sind individuell, es führen viele Wege nach Rom. Am Ende der Fallbeispiele schlage ich 11 Thesen für Unternehmensdemokraten im Aufbruch vor, die aber eben bei anderen Unternehmen ganz anders lauten können.

Im dritten Teil folgt dann noch ein Überblick über verschiedene Instrumente und Methoden, wobei ich auf die Haltung fokussiere, die nötig ist, um mit diesen Werkzeugen ein Unternehmen oder eine Organisation erfolgreich zu demokratisieren. Methodensammlungen gibt es ja wie Sand am Meer, da muss ich nicht das Klein-Klein der Prozessschritte exakt aufführen. Danach schließe ich dann mit einem Plädoyer zum Aufbruch in eine neue Ära.

Martin Bartonitz: Vielen Dank, Andreas, für dieses Interview. Ich wünsche Dir und uns allen, dass Du Erfolg mit diesem Thema haben wirst. Es kann uns nur gut dabei gehen.

Zu Allerletzt noch ein kleines Video mit Andreas:

Und ein Hinweis auf ein weiteres Buch zum Thema, das gerade auf den Markt gekommen ist:

Das demokratische Unternehmen: Neue Arbeits- und Führungskulturen im Zeitalter digitaler Wirtschaft

Autor: Dr. Martin Bartonitz

Geboren 1958 und aufgewachsen in Dortmund, am Rande des Kohlenpotts, einem Schmelztiegel während der Gründerzeit eingewanderter Menschen. 1992 nach der Promotion in experimenteller Physik gewechselt von der Messprozess- in die Geschäftsprozesssteuerung. Mit Blick auf die Erfahrungen in der Optimierung der Effizienz von Prozessen in der Bürowelt kam in den letzten Jahren immer mehr die Erkenntnis: Das Business machen die Menschen. Und wenn nur nach der Effizienz geschaut wird, dann wird auch noch die letzte Motivation in den Unternehmen zerstört. Daher sollten Organisation und auch die eingesetzte Software die Menschen in ihrer Kreativitität unterstützen und sie nicht knechten. Selbstbestimmtheit statt Fremdbestimmung sollte uns den nächsten Schub in unserer gesellschaftlichen Entwicklung bringen.

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