Traditionelle Prozessoptimierung und agile Prozessoptimierung. Und die E-Akte. Und Weihnachten ist es auch.

Alle sind sich einig, dass die Einführung der E-Akte irgend etwas mit Prozessoptimierung zu tun haben sollte. „Wenn man einen schlechten Prozess digitalisiert, dann hat man einen schlechten digitalen Prozess“, lautet ein Standardspruch der Fachleute.

Was verstehen wir aber unter Prozessoptimierung? Das zu formulieren ist gar nicht einfach. Und bevor ich jetzt lange theoretische Ausführungen dazu mache, erzähle ich ein Beispiel aus der Praxis.

DMS und Traditionelle Prozessoptimierung

Das Beispiel ist übrigens anonymisiert, aber nicht fiktiv:

Die Stadtverwaltung Büttenwerder (Schleswig-Holstein) möchte ihre Prozesse optimieren und dafür ein Dokumentenmanagementsystem (DMS) einführen. Davon versprechen sich OB und Fachbereichsleiter eine erhebliche Beschleunigung der Durchlaufzeiten von Anträgen und eine Einsparung von Personalressourcen durch effizienteres Arbeiten.

Eine DMS-Software wird beschafft. Die Stadtverwaltung beschließt, als Erstes den internen Beschaffungsprozess durch das DMS abzubilden. Dabei ist viel von “elektronischer Akte”, “Workflows”, “Abbildung von Vertretungsregelungen” die Rede. Im Ergebnis werden die Beschaffungsanträge fortan nicht mehr auf Papier ausgefüllt und weiter geleitet, sondern mit elektronischen Formularen abgewickelt.

Nach erfolgter Umstellung werden die Pilotanwender befragt, ob sich ihre Zufriedenheit gesteigert hat. Zum großen Erstaunen des Lenkungsausschusses ist das nicht überall der Fall. Als einer der Unzufriedensten stellt sich Herr Leichtenberger heraus, der Leiter der Vermessungsabteilung. Der Projektleiter, Herr Schlenk, meldet sich zum Gespräch bei Herrn Leichtenberger an, um an seinem Einzelfall die Gründe für die Unzufriedenheit herauszubekommen.

Herr Leichtenberger schildert einen konkreten Fall. “Gerade letzte Woche war es. Wir brauchen hier unbedingt ein neues Tachymeter. Unser vorhandenes Tachymeter ist schon älter als 12 Jahre und hinkt hoffnungslos hinter dem heutigen technischen Standard her. Wir brauchen Ersatz, und zwar ein Qualitätsprodukt! Tachymeter gibt es schon ab 8.000 €, aber die richtige Qualität beginnt erst so ab 25.000 € aufwärts. Wichtig ist, dass ein neues Tachymeter reflektorlos und zielverfolgend ist. Bei der neuen Generation von Tachymetern werden die Seiten- und Höhentriebe elektrisch angetrieben. Dadurch kann der Tripelspiegel automatisch angezielt werden. Damit wiederum wird der Einmannbetrieb in der Vermessung möglich, weil der Benutzer am Gerät eingespart werden kann. Die Bedienung erfolgt nur noch vom Reflektor aus.

Ist das bei der heutigen Personalknappheit vielleicht kein Argument? Ein paar Tausend Euro beim Tachymeter einsparen (nur einmalig) und dafür das Zehnfache (dauerhaft) an Personalkosten ausgeben – wo bleibt da die Logik?”

Herr Schlenk kann Herrn Leichtenberger noch jetzt seinen Ärger deutlich ansehen. Der hatte den neuen elektronischen Beschaffungsantrag mit technischen Spezifikationen ausgefüllt. Dann hatte er in das Feld “Begründung der Anschaffung” seine Überlegungen zum geringeren Personalbedarf geschrieben. Als “Kostenansatz” hatte er 29.000 € eingetragen – zugegeben etwas überhöht, aber als Verhandlungsspielraum gedacht. Dürfte man auch gebrauchte Geräte bei eBay beschaffen, könnte man übrigens durchaus auch mit 15.000 € auskommen. Aber an eBay habe ja von der Beschaffungsstelle noch niemand gedacht, das sei denen viel zu modern.

Mit einem Klick auf “Versenden” war das Formular an die Beschaffungsstelle losgeschwirrt. Nicht einmal vier Stunden später – die Durchlaufzeit betrug wirklich nur noch ein Viertel des vorher Üblichen! – kam die Antwort von Herrn Helming von der Beschaffungsstelle: “Antrag genehmigt. Voraussichtliche Investitionshöhe 7.500 €.” Das schlug dem Fass den Boden aus! All seine Begründungen, warum nur ein besseres Gerät in Frage kam, wurden in den Wind geschlagen!

Herr Schlenk traut sich noch kein Urteil zu. Er verabschiedet sich und meldet sich bei Herrn Helming an, dem zuständigen Sachbearbeiter der Beschaffungsstelle.

Herrn Helming empfängt ihn aufgeräumt und leutselig. “Unser tüchtiger Herr Leichtenberger, hat er sich also bei Ihnen beschwert. Aber der Antrag zum Tachymeter war in dieser Höhe überhaupt nicht genehmigungsfähig. Tachymeter gibt es schon ab 5.995 €. Für etwas mehr gibt es übrigens bei eBay schon gute gebrauchte mit elektrischem Antrieb, wie er Herrn Leichtenberger vorschwebt. Aber mit eBay braucht man ja unseren Ingenieuren sowieso nicht zu kommen.“

Außerdem habe Herr Leichtenberger versucht, ihn auszutricksen. Er hat die technischen Spezifikationen aus dem Katalog von Schmalkopf GmbH & Co KG mit Copy und Paste übernommen. So wollte er den Anschein erwecken, dass nur ein Anbieter in Frage komme. Aber so leicht lässt er sich nicht übertölpeln!

Und dann die Begründung: geringerer Personalbedarf. Als ob das jemals nachweisbar wäre. Alle reden immer vom geringeren Personalbedarf, wenn sie etwas kaufen wollen, und hinterher wird das Personal doch aufgestockt. Und wenn ein einziges Tachymeter 30% des gesamten Beschaffungsetats der Vermessungsabteilung auffrisst? Und wenn dann im Herbst ein Nachtragshaushalt fällig wird? Wer wird dann verantwortlich gemacht? Genau, er, Herr Helming.

Herr Helming ist während seiner Erklärung sicherer geworden. Er fühlt sich jetzt voll im Recht. “Angeblich eingesparte Personalkosten kann man nicht messen. Tatsächlich eingesparte Beschaffungskosten aber schon. Und meine Zielvereinbarung sieht eine Einsparung von 10% des Beschaffungsbudgets vor. Das ist für mich der Maßstab für gute, nachhaltige Arbeitsergebnisse im Sinne der Stadtverwaltung.”

Der beschränkte Blick traditioneller Prozessoptimierung

Der geschilderte Ablauf kommt so oder ähnlich Tag für Tag in vielen Verwaltungen vor. Der Ablauf ist völlig verkorkst. Es besteht ein Machtgefälle zwischen den Beteiligten; Herr Helming vom Einkauf sitzt eindeutig am längeren Hebel. Herr Leichtenberger versucht, mit Tricksereien dagegen zu halten, die ihm aber Herr Helming genüsslich aufspießt. Gegenseitiger Ärger ist notwendige Begleiterscheinung.

Der Ablauf stellt bei beiden Beteiligten – Herrn Leichtenberger wie Herrn Helming – eine große Verschwendung an Energie und Nerven dar, die den produktiven Arbeiten verloren geht. Und das Ergebnis ist, egal mit welchem der beiden Protagonisten man sich als Beobachter identifiziert, sicher nicht optimal.

Was hat das teure DMS und der tolle „Beschaffungsworkflow“ also genutzt? Offenbar nicht viel.

Fragen:

  1. Warum hilft das DMS nicht bei einer „wirklichen“ Prozessoptimierung?
  2. Was wäre denn eine richtige Prozessoptimierung?
  3. Und wie könnte ein DMS diese richtige Prozessoptimierung unterstützen?

Fangen wir mit der ersten Frage an. Warum hat das DMS keine Prozessoptimierung unterstützt, die ihren Namen auch verdient?

Antwort: Es liegt an den Bildern, und es liegt an der verwendeten Sprache.

Das fängt an beim Wort „Dokumentenmanagement“. Eine unzutreffendere Bezeichnung als diese für das, was wir in der Verwaltung tun und was wir dafür benötigen, ist kaum vorstellbar. Es ist so, als würde ein Schreiner seinen Beruf als „Brettermanagement“ bezeichnen.

Damit einher geht ein Bild.

Abbildung 1: Der Lebenslauf eines Dokuments in einem DMS

Wenn ich mich an einem solchen Bild orientiere und mir beispielsweise einen Beschaffungsantrag darunter vorstelle, dann bleibt eigentlich als einzige „Stellschraube“ des zugehörigen Prozesses: BESCHLEUNIGUNG!

Das, was wirklich wichtig ist im Ablauf zwischen Herrn Helming und Herrn Leichtenberger:

  • das Machtgefälle
  • das Denken in Silos
  • das Nicht-Miteinander-Reden
  • die widersprüchlichen Zielvorgaben „Qualität! und „Sparen!“, die in ihren jeweiligen Silos „Vermessungsamt“ und „Einkauf“ absolut gesetzt werden

taucht in diesem Dokumenten-Flussdiagramm nicht auf. Das ist bei den üblichen ARIS-Flussdiagrammen genauso: das Unwichtige wird visualisiert (und zwar bis ins kleinste Detailchen), und das Wichtige wird verdeckt. Also läuft der Beschaffungsantrag mit DMS und „Prozessoptimierung“ vier Mal so schnell durchs Haus wie vorher, aber die Lösung bleibt genauso bekloppt.

Eine mögliche Lösung

Was könnte jetzt eine Prozessoptimierung im agilen Sinne sein? Dazu setzen wir unser Beispiel fort (wobei die folgende Lösung von mir ausgedacht ist; im wirklichen Fall kam es zu keiner Prozessoptimierung).

Der Projektleiter Herr Schlenk überlegt sich nach seinen beiden Gesprächen Folgendes: Die Lösung für einen besseren Prozess wäre gerade nicht ein automatisierter „Workflow“, sondern Verhandlung auf Augenhöhe. Dafür definiert die Stadtverwaltung sog. “Leitplanken”. Die wichtigste Leitplanke legt fest:

“Die Beteiligten an einem Beschaffungsantrag bilden ein Beschaffungsteam (Vorgangsteam). Zum Beschaffungsteam gehören immer der Bedarfsträger (Antragsteller) und der zuständige Sachbearbeiter der Beschaffungsstelle. Wenn für die Beschaffung besondere Fachkenntnisse erforderlich sind, über die die antragstellende Abteilung nicht verfügt – zum Beispiel IT-Beschaffungen -, wird auch ein entsprechender Experte in das Vorgangsteam aufgenommen. Das Vorgangsteam trifft die Beschaffungsentscheidung gemeinsam im Konsens. Wird ein Konsens nicht binnen einer Woche erreicht, wird der Vorgang auf die Ebene der Abteilungsleitungen eskaliert“.

Auf diese Art und Weise ist gewährleistet, dass das Gesamtziel im Sinne der Stadtverwaltung Büttenwerder (“leistungsfähiges und preisgünstiges Produkt”) zumindest im Blick bleibt. Silo-übergreifende Gesichtspunkte erhalten eine Chance.

Damit wird von der „Antragsbearbeitung“ übergegangen zur  Ko-Produktion zwischen Antragsteller und dem Einkauf. In der von Ines Mergel vorgestellten Terminologie handelt es sich um eine spezifische Art der Koproduktion zwischen Verwaltung und Kunde, nämlich um eine „Ko-Dienstleistungserbringung“ /1/. (Das Vermessungsamt ist hier ein interner Kunde des Einkaufs; die Überlegungen zur Prozessoptimierung sind natürlich auch für externe Verwaltungskunden gültig).

Wie könnte ein DMS diesen agilen Prozessansatz unterstützen?

Unterderhand ist aus einem einfachen, stark strukturierten Prozess ein komplexer Prozess geworden. Wie die Beteiligten verhandeln, ist nicht festgelegt. Das heißt, sie müssen nicht nur verhandeln, gemeinsam Standpunkte austauschen, Ziele wägen und priorisieren, vielleicht sich streiten – sie müssen auch diesen Weg immer wieder verhandeln. Verhandlungsverhandlung. Komplex eben.

Wie kann ein DMS das unterstützen?

Zuerst einmal muss der DMS-Projektleiter, Herr Schlenk, neue Bilder und Begriffe entwickeln. Im Zentrum von Verwaltungsprozessen steht nicht das Dokument, sondern der Vorgang.

Abbildung 2: Verwaltungsarbeit besteht in der Erzielung von Ergebnissen, nicht im Erstellen und Archivieren von Dokumenten

Die Funktion von Dokumenten in einem Vorgang kann sehr unterschiedlich sein und ihre Wege verschlungen. Viele Transaktionen zwischen Mitgliedern eines Vorgangsteams finden ganz ohne Dokumente statt, andere wiederum sind stark dokumentenzentriert.

Abbildung 3: Im Verlauf des Vorantreibens eines Vorgangs können verschiedene Dokumente auftauchen, erstellt werden, durch andere abgelöst usw. Beim Finden von Lösungen für komplexe Fragen spielen sie meist eine untergeordnete Rolle.

Die Unterstützung seitens des DMS für einen solchen Verhandlungsprozess wird jetzt ganz anders. Sie besteht zum einen darin, dem Vorgangsteam einen gemeinsamen Ordner (“Vorgangsakte”) zur Verfügung zu stellen. In diesem Vorgangsordner legen alle Mitglieder des Vorgangsteams ihre Dokumente ab (also alle Spezifikationen, Nutzenberechnungen, Notizen usw.), bis ein gemeinsamer Beschluss gefasst ist.

Des Weiteren gibt es meist den Bedarf, Aufgaben zu verteilen und ihre Abarbeitung zu tracken. Ein gutes DMS muss also so etwas wie eine „Board-Funktionalität“ haben – vielleicht mit einer Kanban-Anmutung.

Abbildung 4: Ein modernes DMS bietet den Vorgangsteam drei Hauptfunktionalitäten

Schließlich zeigt sich immer deutlicher der Bedarf von Arbeitsteams nach einem Chatroom, in dem man schnell neue Informationen austauschen oder Fragen stellen kann. Also so etwas wie WhatsApp oder Slack.

Was hat das mit Weihnachten zu tun?

Herr Leichtenberger schläft schlecht. Um drei Uhr nachts wacht er auf. Mit dem Schlaf ist es vorbei, die Zeit der Schattenkämpfe mit Herrn Helming beginnt.

Aber er hat keine Chance, und er weiß es. Er wird weiter gegen Wände laufen und keine gute Arbeit leisten können. Zum xten Mal schreibt er im Wachtraum seine Kündigung, um sie nachher wieder zu zerreißen. Er hat doch Familie! Was, um Himmels willen, soll er tun?

Agile Arbeitsweisen, die zumindest teilweise versuchen, Machtstrukturen durch Kooperation unter Gleichberechtigten zu ersetzen, führen nicht nur zu besseren Ergebnissen. Sie können auch einiges Unglück verringern.

Anmerkungen

/1/ Prof. Dr. Ines Mergel: Nutzerperspektive in den Vordergrund stellen, Innovative Verwaltung,  Ausgabe 10/2018, DOI: https://doi.org/10.1007/s35114-018-0124-9. Ines Mergel unterscheidet zwischen Ko-Planung, Ko-Design, Ko-Implementierung und Ko-Dienstleistungserbringung bei der Einbeziehung von Verwaltungskunden in Serviceprozesse. Während es bei der Prozessmodellierung bereits Ansätze zur Einbeziehung von Verwaltungskunden gibt – vor allem in Form eines Ko-Design – , kommen als Ergebnisse dann doch wieder nur Prozesse heraus, in denen der Sachbearbeiter hergebracht-einseitig über „Anträge“ entscheidet.

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

Ein Gedanke zu „Traditionelle Prozessoptimierung und agile Prozessoptimierung. Und die E-Akte. Und Weihnachten ist es auch.“

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