Die Einführung von Dokumentenmanagementsystemen (DMS) trifft auf Verwaltungen, die gut zwanzig Jahre Dokumentenerstellung und -verwaltung mit Hilfe von Office-Programmen und Fileservern hinter sich haben. Mit der schrittweisen Einführung von Arbeitsplatzcomputern haben sich Arbeitsweisen in den Verwaltungen stark verändert. Schreibbüros, die handschriftliche Notizen oder Diktate in Schreibmaschinentext übertragen, sind verschwunden, die Textarbeit ist größtenteils zu den Sachbearbeitungen gewandert. Die Aufgaben der ehemaligen Schreibkräfte, so noch vorhanden, haben sich stark geändert.
Hybride Dokumentenerstellung und -verwaltung beenden
Jetzt wo Dokumentenmanagementsystems immer stärker um sich greifen, entsteht eine ähnliche Situation. Sie werden schrittweise zwanzig Jahre hybrider Arbeit beenden. Mit hybrid ist zweierlei gemeint. Erstens, dass Dokumente zwar am Arbeitsplatzcomputer mit Office-Programmen erstellt, vielfach auch mit E-Mail transportiert werden, die zugrunde liegenden Abläufe jedoch immer noch der Papierlogik unterliegen. Hybrid meint auch, dass die Papierdokumente mit allen an ihnen angebrachten Bearbeitungshinweisen, Notizen und Unterschriften in physischen Akten – sei es in Ordnern am Arbeitsplatz oder sei es in Hängeregistern in einer Registratur – abgeheftet werden. Gleichzeitig aber die Dateien, mit denen sie erzeugt wurden, in umfangreichen Sammlungen auf Fileservern abgelegt werden. Eine Parallelwelt ist entstanden. Glücklich die Verwaltungen, denen es gelungen ist, den Unterschied zwischen Arbeitsdokumenten auf Fileservern und revisionssicheren Dokumenten in der Registratur/Ablage in allen Köpfen zu verankern. Glücklich, wer sicher sein kann, dass alles für die Dokumentation des Behördenhandelns Wesentliche in Akten abgelegt wurde und nicht irgendwo, praktisch unauffindbar, in tief verästelten Fileserverablagen herumdümpelt oder in persönlichen E-Mail-Postfächern der Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter quasi als Privateigentum versauern.
Diese Hybridzustände können, wie gesagt, von Dokumentenmanagementsystemen beendet werden. Dokumente können direkt in der Akte erzeugt werden. Es werden nicht mehr die Dokumente, sondern Informationen über die Dokumente transportiert. Unterschriften, sofern überhaupt notwendig, können digital im System geleistet und mit den Dokumenten verknüpft werden.
Wie bei der Einführung von PCs verändern sich Arbeitsweisen grundlegend. Viele Arbeitsschritte wandern von den Registraturen zu den Sachbearbeitungen, Kenntnisse über revisionssichere Ablage und den Umgang mit Akten werden nun flächendeckend benötigt.
Zwanzig Jahre hybride Arbeit bedeutet auch, dass die Kenntnisse, wie die Papierwelt funktionierte, welcher Sinn hinter manchen, heute antiquiert wirkenden, Vorgehensweisen steckte, bei vielen verblasst sind. Den neu Hinzugekommenen sind sie meist nicht vermittelt worden. Dies wird immer wieder ablesbar an den Diskussionen, die entstehen, wenn über die Bedeutung von Begriffen wie Vorgang, Akte und Aktenplan, Paginierung, Beschluss, Mitzeichnung oder Verfügung gesprochen wird. Oft wird eine erstaunliche Interpretationsvielfalt sichtbar, wo man eigentlich meinte, die Begriffe seien klar.
Klassische DMS-Einführung
Dokumentenmanagementsysteme sind komplex, sie greifen tief in geübte Verwaltungspraxis und persönliche Arbeitsweisen ein. Sie von einer kleinen Projektgruppe top-down einzuführen ist deswegen riskant. Der Standardablauf bringt mit sich, dass die Anwenderinnen und Anwender die Einführung als Big-Bang erleben. Im Prozess
„Marktsondierung – DMS einkaufen – an die Organisation anpassen – Pilotieren – bereichsweise Aktenplan einlesen, Nutzerinnen und Nutzer im System anlegen, Softwareschulungen durchführen – fertig‟
kommen sie als diejenigen, die mit dem DMS produktiv arbeiten sollen, erst sehr spät in Berührung mit dem neuen System. Alle wesentlichen Weichenstellungen sind schon erfolgt und via Customizing fest im System verdrahtet.
Den Anwenderinnen und Anwendern bleibt damit in der Regel keine Zeit für schrittweise Erkenntnis, keine Zeit für einen gedanklichen Reifeprozess, keine Zeit für organisationales Lernen, keine Möglichkeit Ideen oder spezifische Notwendigkeiten einzubringen. Was für das Lernen in Schule und Universitäten selbstverständlich ist, nämlich Lernen als einen Reifeprozess zu begreifen, wird mit der Standard-Vorgehensweise weitgehend ignoriert.
Dass Nutzerrepäsentanten Mitglieder der Projektgruppe waren, hilft nicht. Der erfolgreiche Einsatz eines so umgreifenden Systems braucht eine hohe „kritische Masse‟ an Wissenden, also breite Beteiligung, Mitwirkung, Mitgestaltung.
Chancen und Risiken einer DMS-Einführung
Die Einführung eines DMS als eine der Schlüsselanwendungen in der modernen Verwaltung verdient die bestmögliche Einführung. Wird die Einführung „gut gemacht‟, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die enormen Chancen, die ein DMS mit sich bringt, wirklich genutzt werden. Dass Abläufe und Recherchen in einer Organisation tatsächlich viel einfacher und schneller ablaufen können. Dass eine bessere Zusammenarbeit – besonders über Abteilungsgrenzen hinweg – möglich wird. Dass mehr Transparenz und Dokumentensicherheit erreicht wird und es gelingt, mühselige und ungeliebte Arbeit über Bord zu werfen. Das alles im Sinne einer besseren Aufgabenerledigung für die Bürgerinnen und Bürger und zur Schonung des Nervenkostüms der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung.
„Gut gemacht‟, reduziert auch Risiken. Beispielsweise die Gefahr, alte Strukturen und Abläufe, alte Denkweisen auf das digitale System zu übertragen und damit auf Jahre unveränderbar festzuschreiben.
Oder, das System nicht zur Herzangelegenheit derjenigen zu machen, die damit arbeiten. Warum das wichtig ist? Mit Einführung eines DMS kommt Mehrarbeit auf die Sachbearbeitungen zu. Wo man früher alle Vorgangsdokumente in ein Umlaufmappe geworfen, vorne Registratur vermerkt und auf die Reise geschickt hat, müssen nun die Sachbearbeitungen sukzessive Dokumente und zugehörige Metadaten in das DMS eingeben. Die Systematik eines Aktenplans musste früher nur die Registratur wirklich kennen, nun müssen auch die Sachbearbeitungen die Systematik verstehen. Wenn das DMS die Ablage auf Fileservern ablöst, kommt hinzu: Wo früher recht flexibel und selbstbestimmt (oft auch eigenwillig, unstrukturiert, chaotisch) abgelegt werden konnte, muss man sich nun, im DMS, an den Aktenplan halten. Man kann im DMS in der Regel in der Regel selber neue Vorgänge anlegen, neue Ordner auf der Systemebene (Akten, Teilakten, etc.) aber nicht. Das wird vielfach als deutliche Einschränkung wahrgenommen. Umso wichtiger, dass es für sie auch ein „Win‟ zu verbuchen gibt.
Ein letztes: Häufig wird übersehen, dass in einem DMS enorm viel Innovation steckt. Innovation, die nur nach und nach erkannt werden kann. Es braucht operative Erfahrung mit dem System, um zu verstehen, wie ein DMS funktioniert, wie es optimal für die Zusammenarbeit und die eigene Arbeit eingesetzt werden kann.
Mit anderen Worten, es braucht Zeit.
DMS-Einführung als Erkenntnisreise
Zeit ist das Schlüsselwort. Zeit für eine Erkenntnisreise. Zeit, die bei den konventionellen Einführungsmethoden nicht gegeben wird.
Richtig strukturiert, dauert die DMS-Einführung als Erkenntnisreise nicht zwangsläufig länger als eine zentrale Top-down-Einführung. Eine klassische Projektleitung braucht auch Zeit, viel Zeit, um alle Themen einer DMS-Einführung bis zur Umsetzungsreife zu durchdringen. Der oft jahrelange Projektvorlauf ist meistens schon vergessen, wenn es an die Umsetzung geht. Diese ist aus Sicht eines klassischen Projekts – bereichsweises Ausrollen des DMS, heißt es dann meistens – bildet nur die letzte Projektphase. Und jetzt soll es schnell, nach Zeitplan getaktet vorangehen.
Wäre es nicht viel geschickter, wenn alle, die am Ende mit dem DMS arbeiten, ihre Erkenntnisreise so früh wie möglich beginnen? Das macht Leitung und Koordinierung nicht überflüssig, sie muss allerdings anders organisiert werden.
Reifegradmodell
Einen guten Einstieg in die Erkenntnisreise ist die Entwicklung eines Reifegradmodells. Dieses kann gleichzeitig retrospektiv wie prospektiv, analytisch wie planend eingesetzt werden. Es ersetzt nicht die konventionellen Ablaufplanung, sondern ergänzt diese um eine Betrachtung der Erkenntnisreise, des Reifeprozesses.
Es ist hilfreich, das Reifegradmodell entlang des Dokumentenflusses aufzubauen. Also bei jedem Reifegrad Dokumenteneingang und Eingangsbehandlung, Verteilung, Vorgangsbearbeitung, Beschluss und Vorgangsdokumentation, revisionssichere Speicherung und Archivierung nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen separat zu betrachten.
Die folgende Tabelle zeigt exemplarisch, wie ein solches Reifegradmodell aussehen kann (Die Bilder werden von WP leider automatisch verkleinert und sind nicht gut lesbar. Im Abschnitt „Weiterlesen‟ gibt es eine Downloadlink zur Originaltabelle im Excel-Format).



Welche Erkenntnisse kann man durch das Modell gewinnen?
Nehmen wir an, die Analyse zeigt, dass die Ablagen auf den Fileservern individuell unterschiedlich strukturiert sind, die Namensgebung der Dateien uneinheitlich erfolgt, Wissens- und Vorgangsdokumente unsystematisch abgelegt und Vorgänge nicht chronologisch sortiert werden. Der Reifegrad bezüglich der Ablagen wäre damit niedrig einzustufen.
Diese Erkenntnis bietet die Möglichkeit, schon vor Einführung des DMS – völlig unbelastet vom Erlernen einer komplexen Software – im Team oder in der Abteilung gemeinsam Strukturen und Namensregelungen zu erarbeiten, Ordnerpatinnen und -paten zu installieren, Wissens- und Vorgangsdokumente sachgerecht abzulegen und für eine nachvollziehbare Ablage der Vorgänge zu sorgen. Man könnte also bezüglich der Ablagen bereits frühzeitig einen höheren Reifegrad anstreben und wäre damit besser für die DMS-Einführung aufgestellt. Man kann sich auf diese Weise Zeit geben, Dinge zu erlernen und zu üben, die später ohnehin gebraucht werden.
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Der Beitrag ist Teil des Implementierungsleitfadens DMS, der im Wiki des Forums Agile Verwaltung kostenlos heruntergeladen werden kann.
Die Reifegradtabelle kann hier als Excel-Datei heruntergeladen werden:
Danke, lieber Peter, für diesen wunderbaren Beitrag, der die Herausforderungen der Einführung und Nutzung von DMS so gut auf den Punkt bringt. Als weitere Fragestellungen trage ich bei: Die zeitversetzte Einführung des DMS in verschiedenen Bereichen führt dazu, dass mitunter die Struktur und Aktenzeichen im DMS nicht ganzheitlich gedacht und vergeben werden, sondern entsprechend der bestehenden Silostrukturen. Das führt dazu, dass die Zugriffsberechtigung für Schnittstellenthemen, an denen von verschiedenen Bereichen eigentlich verzahnt und gemeinsam gearbeitet werden sollte, ebenfalls entsprechend den Silos festgelegt wird. Der zuerst einführende Bereich definiert die Struktur, der später einführende Bereich muss seine Themen/sich in die vorgegebene Struktur ein-fügen. Ein gegenseitiger Zugriff wird so, wenn die beiden Bereiche auf exklusivem Zugriff bestehen, unmöglich. Oder die Struktur müsste mit sehr großem Aufwand verändert oder dupliziert angelegt werden – was in der Praxis, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, nicht mehr passiert. Schade, eine große Chance für eine unkomplizierte, ganzheitliche, bereichsübergreifende Kooperation an gemeinsamen Themen ist vertan und zementiert die organisationalen Grenzen und weiter die doppelte Ablage, und das Ganze dann auch noch digital.
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Hallo Christine,
Danke für Deinen Kommentar! Das entspricht auch meinen Erfahrungen. Es ist unheimlich schade, wenn sich im DMS die Silostrukturen wiederfinden. Einmal fixiert, dröselt das auf Jahre niemand mehr auf. Und genau wie Du sagst, Chance vertan, unkomplizierte Lösungen zu bekommen.
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Ich hätte zu diesem Beitrag zwei konzeptionelle oder wissenschaftliche Fragen:
1. Schubladen sind Schubladen – egal, ob sie dann Stufen, Typen oder Reifegrade nenne – weshalb war diese Operationalisierung notwendig? Man hätte doch z.B. Dimensionen und (Sub-)Skalen auch anders „aufspannen“ können.
2. Wenn ich Komplexität reduziere, zerstöre ich sie – sagte Prof. Kruse. Wie wird darauf reagiert bzw. in dem Modell berücksichtigt?
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Hallo Sascha,
vielen Dank für Deinen Kommentar! Das stimmt natürlich, Schubladen sind Schubladen, und man kann das Ganze auch anders aufziehen.
Ich fand es hilfreich, Analyse und spätere Planung entlang von Ablauf- und Zeitsträngen vorzunehmen. Horizontal sind die Etappen des Dokumentenflusses. So dargestellt wird sofort deutlich (und kommunizierbar), dass jede digitale Umsetzung am Ende, im Archiv beginnen muss, will man nicht systemische Medienbrüche provozieren. Auch wird unmittelbar deutlich, dass es wenig Sinn macht, den Reifegrad des Posteingangs nach oben zu zoomen, beispielsweise ein Scanzentrum für den Posteingang aufzubauen, wenn die nachgelagerte Sachbearbeitung noch in Steintafeln meißelt.
Die Reifegradachse kann erhellend sein, wenn es darum geht zu schauen, wie zu einem möglichst frühen Zeitpunkt die Mitarbeitenden aktiv in die Gestaltung einbezogen werden können. Durch die gewählte Darstellung kann leicht kommuniziert werden, dass bestimmte Mechanismen wie beispielsweise die vorgangsbezogene Ablage und die Ablage von Wissensdokumenten – einschließlich der dafür notwendigen Kommunikation und Abstimmung mit den an den Prozessen beteiligten – bereits auf Fileservern vollzogen werden kann, lange vor Einführung des DMS. Gewinn: Die spätere DMS-Einführung profitiert ganz enorm.
Den Hinweis auf Prof. Kruse habe ich noch nicht verstanden, aber ich bin erst kürzlich auf seine Clips gestoßen und habe nur wenig davon gesehen. Vielleicht könntest Du etwas näher erläutern, was du genau meinst.
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