Drei Vorgehensweisen bei der DMS-Einführung: Philosophien, Erfolgskriterien, Risiken

1.   Vom Ende her denken

Der folgende Beitrag ist die leicht geänderte Version eines Kapitels aus dem Implementierungsleitfaden DMS – Teil 1 Begeisterung für das Projekt wecken. Schon ganz zu Beginn eines E-Akten-Projekts muss der:die Projektleiter:in daran denken, wie später eine konkrete Einführung in einem begrenzten Sachgebiet stattfinden soll. Je nachdem, welche Vorstellungen man davon hat, wird der Projektplan ganz unterschiedlich ausfallen.

Deshalb stehen konkrete Zielbeschreibungen ganz am Anfang. Was heißt jedoch „konkret“ für einen späteres erfolgreiches Projekt? Oft finden wir zu Beginn von DMS-Projekten formale Vorgaben der Behördenleitungen wie diese: „Bis Ende 2022 sollen 11 von 23 Ämtern mit DMS ausgestattet sein.“ (Großstadt in Bayern) Damit wollen die Behördenleitungen sich selbst Sicherheit geben, dass eine bestimmte Geschwindigkeit bei der Einführung der E-Akte gewährleistet wird. Denn in der Öffentlichkeit wird immer häufiger Kritik am mangelnden Tempo der Digitalisierung geäußert. Auch die Medien haben am Thema Gefallen gefunden. Und die politischen Gremien, die oft in einer Rolle von Auftraggebern der Digitalisierung sind, geben diesen Druck ihrerseits an die Verwaltungsspitzen weiter. Eine solche Zielbeschreibung ist nicht konkret genug für ein erfolgreiches Projekt, dann was bedeutet „mit DMS ausgestattet“? Wer garantiert, dass diese Ausstattung auch sinnvolle Ergebnisse bringt?

Die Antworten auf diese Fragen sind von Verwaltung zu Verwaltung sehr verschieden. Und im gleichen Maße unterscheiden sich auch die Projekterfolge: In einigen Organisationen sind die Mitarbeiter:innen hinterher regelrecht begeistert von den Möglichkeiten der neuen Software, und in anderen sind sie deutlich ablehnend. (Die Projektleitungen und die politisch verantwortlichen Auftraggeber:innen werden in der Regel das Projekt als Erfolg bezeichnen und es verteidigen. Deshalb ist es besser, die Anwender:innen zu befragen, wenn man sich ein einigermaßen verlässliches Bild vom Projektergebnis verschaffen will.)

Ich möchte nun im Folgenden verschiedene Muster von Vorgehensweisen darstellen, wie ich sie in Projekten beobachten konnte. Dabei will ich aufzeigen, welche Methoden eher zu einem Projekterfolg führen (im Anwendersinne) und welche Vorgehensweisen eher Risiken beinhalten.

2.   Die fünf Aufgabenarten

Die Muster unterscheiden sich vor allem darin, von wem und in welcher Reihenfolge die Grundaufgaben einer DMS-Einführung wahrgenommen werden. Mit „Grundaufgaben“ meine ich diejenigen Leistungen, die in jedem derartigen Projekt erbracht werden müssen.

Abbildung 1: Die 5 Grundaufgaben einer DMS-Einführung

Ich habe für mich fünf solche Aufgaben identifiziert (zuzüglich Wissenstransfer bzw. „Schulungen“) (Abb. 1):

DMS beschaffen: Das betrifft die Definition von Anforderungen, die Auswahl eines Produkts (ggf. verbunden mit einer Ausschreibung) und den Abschluss eines Vertrages mit dem jeweiligen DMS-Lieferanten.

DMS installieren: Das DMS muss installiert werden, inklusive der Lieferung und Freischaltung von Lizenzen. Diese Aufgabe fällt an, unabhängig davon, wo sie anfällt und von wem sie erledigt wird. Das kann z.B. die eigene Abteilung Informations- und Kommunikationstechnik (IuK) sein, wenn das DMS on premise betrieben wird; oder es kann ein Rechenzentrum sein, das Installation und Betrieb als Dienstleistung anbietet. Oder es kann auch der Lieferant sein, der das DMS in Form von SaaS zur Verfügung stellt.

Neue Strukturen erarbeiten:  Das DMS arbeitet in der Regel in anderen Strukturen als z. B. Windows. Es muss meistens ein Aktenplan hinterlegt werden. Die Berechtigungsstrukur ist oft nicht mehr wie gewohnt nach Organigramm aufgebaut, sondern basiert auf Prozessen (wenn sich die Projektverantwortlichen dessen bewusst sind). Es müssen Vorlagen im System hinterlegt werden, vielleicht auch gewisse Musterordnerstrukturen. Und hin und wieder wird auch ein Workflow programmiert.

Strukturen im DMS anlegen: Die so erst einmal „theoretisch“ – in Worddateien, Excel-Tabellen, Anwender Storys, Customer Journeys und anderen Dokumenten – definierten Strukturen und Prozesse müssen im DMS angelegt werden – das DMS muss „customized“ werden.

neue Strukturen anwenden: Die „Kund:innen“ des Projekts, nämlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, müssen (bzw. dürfen) ihre Arbeitsweise umstellen. Sie müssen selbst neue Arbeitsweisen erproben, vielleicht auch im Team Absprachen treffen oder sogar Änderungen im DMS einfordern, wenn die dort angelegten Strukturen sich in der Praxis nicht bewähren.

Wissenstransfer, Schulungen: Wissenstransfer findet eigentlich im gesamten Projekt statt und auch innerhalb der dargestellten Aufgabenblöcke. Je mehr Erfahrungen man als Projektteam sammelt, umso mehr merkt man: die formellen Schulungen bilden davon den geringsten Teil. Trotzdem habe ich sie in Abb. 1 vorerst als eigene „Tasks“ dargestellt, die aber als Scharniere oder Verknüpfungen zwischen anderen Tasks dienen.

3.   Vorgehensmodell 1: Autoritäre Disziplinierung

Der Projektplan

In diesem Modell wird fast alles auf zentraler Ebene entschieden und organisiert: die oberste Projektleitung beschafft ein DMS und formuliert die diesbezüglichen Anforderungen ohne Beteiligung von Anwender:innen. Sie regelt die Installation des DMS zusammen mit dem DMS-Lieferanten. Sie bestimmt die im DMS anzulegenden Strukturen – meist beschränken sich diese auf einen zentral vorgegebenen Aktenplan und enge Vorschriften, wie die Strukturen unterhalb des Aktenplans auszusehen haben.

Diese Strukturen werden – meistens vom Lieferanten – in der Software hinterlegt. Und dann werden die Beschäftigten Abteilung für Abteilung oder Bereich für Bereich geschult und sollen dann im Anschluss – meist ab einem Stichtag, der ebenfalls von oben für jede Abteilung vorgeschrieben wird – in der neuen Umgebung arbeiten.

Abbildung 2: Das Top-Down-Modell in Reinform

Bei einem solchen Vorgehen kann ein sehr detaillierter Projektplan ganz zu Beginn aufgestellt werden. Der sog. „Roll-out“ benötigt nur minimalen Aufwand: ein oder zwei Schulungstage pro Bereich. Und solche Schulungstage kann man leicht terminieren.

Die Vorgehensweise wirkt beruhigend. Die Projektgruppe verspürt wenig Unsicherheit. Risiken scheinen nicht in Sicht. Es gibt ein definitives Projektende. Danach muss das DMS nur noch technisch betreut werden, aber keine Strukturänderungen werden noch nötig sein. Deshalb sind sowohl der Projekt- wie der laufende Betriebsaufwand überschaubar.

Details des Customizing

Ein extremes Beispiel autoritärer Einführung der E-Akte stellt die Landesverwaltung Baden-Württembergs dar. In Baden-Württemberg erhielt die PDV GmbH aus Erfurt im September 2018 den Zuschlag und damit Auftrag, in den Behörden des Landes ihr Produkt VIS einzuführen. Mittlerweile (Spätherbst 2021) ist der Roll-out in mehreren Landesbehörden in vollem Gange. Erste Erfahrungen seitens der Anwender:innen liegen vor.

Das neue Produkt wurde so customized, dass

  1. der Landesaktenplan Baden-Württemberg (LAP) für verbindlich erklärt wurde (mit Ausnahme einiger Bereiche, für die der Bundesaktenplan vorgeschrieben ist);
  2.  das Gliederungsprinzip „Akte – Vorgang – Dokument“ in seiner Reinform durchgeführt wurde. Dieses Prinzip wurde vom Bundesverwaltungsamt gegen Mitte der 1990er Jahre aus der Taufe gehoben und erbt sich über die verschiedenen DOMEA-Versionen bis heute ins „Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit“ des Bundesinnenministeriums wie eine ew‘ge Krankheit fort.

Beim Aktenplan gab es bisher grundsätzlich die Möglichkeit, die 5stellige Systematik zu erweitern. Zum Beispiel gibt es den Aktenplaneintrag

1704.8 = Benachrichtigungsnetz

Dieser Eintrag kann bei Bedarf durch sogenannte Ableitungen ergänzt werden, wenn die jeweilige Abteilung das für ihre Dokumentenablage braucht. In der Einleitung zum LAP steht demgemäß:

„Vor der Ableitung ist ein Bindestrich zu setzen.

Beispiel:

1704.8 = Benachrichtigungsnetz

1704.8-1 = – Teilbenachrichtigungsnetz

1704.8-2 = – Kreisbenachrichtigungsgesetz“

Diese im Aktenplan vorgesehene Möglichkeit, den Aktenplan an die Bedürfnisse des einzelnen Teams anzupassen, wurde von der zentralen Projektgruppe in Baden-Württemberg gestrichen.

Das oben unter b) genannte Prinzip „Akte – Vorgang – Dokument“ wurde von der federführenden Projektgruppe im Stuttgarter Innenministerium so verstanden, dass man Vorgänge nicht weiter untergliedern kann. Die Möglichkeit, Unterordner in Vorgängen zu bilden, wurde künstlich blockiert.

Die Silostrukturen der Behörden werden konserviert. Die Ablagen sind strikt nach Organigramm gegeneinander abgegrenzt. Bereichsübergreifende Zusammenarbeit ist nur punktuell möglich, indem ein:e Bearbeiter:in dem:der anderen ein Dokument oder einen Vorgang temporär freigibt. Wirkliche Teamarbeit als neue Normalität unserer Arbeitsweise ist nicht vorgesehen.

Schließlich wurde festgelegt, dass die einzelnen Sachbearbeiter:innen selbst keine Vorgänge mehr anlegen können. Das können nur die Registratoren. Wenn also eine Sachbearbeiter:in einen neuen Vorgang beginnen will, muss sie einen Antrag bei der Registratur einreichen und warten, bis dieser umgesetzt wird.

Ein Kuriosum des baden-württembergischen Projekts: Der Medienbruch, der mit einer Hybridablage notwendig verbunden ist, wurde in die VIS-Anwendung künstlich wieder hineinprogrammiert. Es wurde ein „Aktenbereich“ geschaffen, in den die „aktenrelevanten“ Dokumente abgelegt werden sollen, und ein „informeller Bereich“, in den unwichtige Dokumente abgelegt werden können, die nicht Teil der offiziellen Akte sind.

Erfahrungen der Anwender:innen

Viele Anwender:innen sind unzufrieden, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Die Meinungen reichen von „das Produkt bietet gewisse Vorteile“ bis hin zu „ich kann so nicht arbeiten – ich bin richtig verzweifelt“.

Als Vorteile werden gesehen:

  • Die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. Das funktioniert nur bei digitaler Aktenführung, denn man kann nicht meterweise Leitzordner mit nach Hause nehmen.
  • Die Möglichkeit, in gewissem Maße bereichsübergreifend zusammenzuarbeiten. Man kann an Kolleg:innen einer anderen Abteilung temporär Aufgaben delegieren und damit verbunden Dokumente oder Vorgänge freigeben. Das erspart umständliche Papierumläufe.

Negative Einschätzungen sind stark von den jeweiligen Arbeitsaufgaben abhängig.

  • Allgemein kritisiert wird der künstliche Medienbruch. „Welches Dokument soll ich denn jetzt in welche Ablage tun – in die informelle oder die aktenrelevante?“ ist eine Frage mit großem Verunsicherungspotenzial.
  • Bei bestimmten Abteilungen führt der Wegfall der Möglichkeit, den Aktenplan durch Ableitungen zu Ergänzungen, zu großer Kritik. Abteilungen, die dies in der Vergangenheit stark genutzt haben , müssen auf einmal ihren gesamten Teilaktenplan neu aufstellen. Und zwar nicht in Richtung auf eine Ausweitung der Arbeitsmöglichkeiten, sondern ihrer Einschränkung. Und – ganz wichtig! – die Anwender:innen empfinden diese Umstellung als unnötig und unproduktiv, weil die zentrale Projektgruppe auf Rückfragen keinerlei Begründung für diese Maßnahme geliefert hat. Die autoritäre Projektphilosophie führt zu starkem Widerwillen bei den Betroffenen und kostet Energie.
  • Ganz wichtig ist der Wegfall der Möglichkeit, Vorgänge zu untergliedern. Auf den Fileservern unter Windows ist die Bildung von Unterordnern (und Unterordnern von Unterordnern) bekanntlich unbegrenzt möglich, und das hatte natürlich zu Auswüchsen geführt. Erfahrungsgemäß führt das zu Unterordnern bis in die 10. oder 12. Ebene. Aber das völlige Abschneiden dieser Möglichkeit führt jetzt zum gegenteiligen Exzess. In großen Vorgängen – Kanalbauprojekte; Genehmigungen von Windparkanlagen; Ausweisung von Naturschutzgebieten – fallen Tausende von Dokumenten zu einem Vorgang an. Diese gigantische Dokumentenflut soll künftig in einen einzelnen Vorgangsordner abgelegt werden. Hier geht der Widerwille in Verzweiflung über. Verzweiflung nicht nur über die sachliche Herausforderung, sondern über die fehlende Offenheit der zentralen Projektgruppe gegenüber allen geäußerten Unterstützungswünschen. Das wird als Arroganz empfunden, mit der den “einfachen Sachbearbeiter:innen” ihre Machtlosigkeit demonstriert werden solle.
  • Stark unterschiedlich ist auch die Beurteilung der Regelung, nur Registrator:innen neue Vorgänge anlegen zu lassen. Abteilungen, die wenige große Vorgänge parallel bearbeiten, kommen selten in diese Verlegenheit. In anderen Bereichen, die z. B. täglich andere externe Anfragen bearbeiten müssen, führt das permanent zu „Flaschenhälsen“ bei der Arbeit.
Kultur und Projektphilosophie

Was sind die Grundlagen einer solchen Vorgehensweise? Welche Haltung bestimmt die Art und Weise, wie die zentrale Projektgruppe strategische Weichen gestellt hat? Darüber kann ich natürlich nur spekulieren. Meine Überlegungen dazu sind unbewiesene Hypothesen und mit Vorsicht zu betrachten.

Einhaltung von Regeln muss erzwungen werden

Was ich spüre, ist Ärger und Unverständnis gegenüber der Arbeitsweise der Sachbearbeiter:innen auf der operativen Ebene. Die Ordner- und Dokumentenstrukturen auf den Windows-Servern und die E-Mail-Versorgung in den Programmen wie Outlook oder Lotus Notes sind oft unübersichtlich und wirken chaotisch. „Damit soll jetzt aber Schluss sein!“ – höre ich mit meinem inneren Ohr aus der Projektgruppe.

Was die Projektverantwortlichen dabei übersehen: Menschen optimieren sich und ihre Umgebung ständig selbst. Die wirklich oft sehr unübersichtlichen Dokumentenstrukturen, die sich nach und nach gebildet haben, sind Ergebnis dieser Optimierungsbemühungen. Sie führen tatsächlich oft zu unzureichenden, unbeholfenen, unübersichtlichen Strukturen – sind aber eben Ergebnisse der Selbstoptimierung und damit auch individueller Anstrengungen. De facto werden sie auch deshalb unternommen, da seitens der Behörde keine adäquate Unterstützung zur Verfügung gestellt wurde.  Insofern ist diese Art der Selbstoptimierung in sich auch unbeholfen, denn sie beschränkt sich auf einzelne Mitarbeiter:innen oder auf kleine Teams, so dass ein:e Dritte:r keine Chance des Durchblicks hatte.

Von diesem Befund „unzureichende Optimierung“ sieht die Projektgruppe nur das Wort „unzureichend“. Und schließt daraus: Wir müssen in Zukunft alle Anwender:innen mit den Mitteln der Software zwingen, eine enge Korsettordnung einzuhalten. Bloß keine Möglichkeit zur Selbstorganisation mehr! Das führt nur zu Unordnung! Mit unserem Projekt zwingen wir alle Sachbearbeiter:innen zur Einhaltung von Regeln! Und wir beachten keinerlei Änderungswünsche, die ja nur dem Geiste des Chaos, der auf den unteren Rängen regiert, entsprungen sind.

Allwissenheit der Projektgruppe

Der Unterschätzung der Mitarbeitenden entspricht spiegelsymmetrisch die Selbstüberhöhung. Das zentrale Projektteam legt die Musik fest, nach der über 50.000 Anwender:innen tanzen sollen. In einer Mitteilung vermerkt die Pressestelle des Innenministeriums als Antwort auf die Kritik aus Anwendersicht:

„Während des Customizings (des DMS-Produkts VIS, WS) wurden verschiedene Akteure involviert, um auch die Anforderungen aus Anwendersicht zu berücksichtigen und entsprechend zu integrieren. Das Team der Stabstelle E-Akte BW ist interdisziplinär aufgestellt und bringt Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen der Verwaltung ein.“ /Anmerkung 1/

Dieser Verweis auf die eigene Klugheit und die Fülle der eigenen Erfahrung soll nun als Begründung genügen, warum man auf inhaltliche Mängelhinweise der Anwender:innen nicht eingeht?

Die Stellungnahme macht übrigens noch etwas anderes deutlich: aus dem Verweis auf „interdisziplinäre Teams“ kann man keineswegs auf eine partizipative, gar „agile“ Haltung schließen.

4.   Vorgehensmodell 2: Paternalistische Optimierung

Top-Down-Vorgehen, aber mit Optimierungsanspruch

Es gibt eine andere Vorgehensweise, die sich auf den ersten Blick – vor allem was den Projektplan betrifft – nur wenig vom strikt autoritären Modell zu unterscheiden scheint. Aber es steckt ein ganz anderer Anspruch dahinter, der mit der Einführung der digitalen Akte verbunden wird: nämlich der Anspruch einer Optimierung der Arbeitsmöglichkeiten der Beschäftigten, statt ihrer Gängelung und Einhegung aller Initiativen von unten den Vorzug zu geben.

Insbesondere ist hier, im Unterschied zu Vorgehensmodell 1, eine dezentrale Anpassung der im DMS hinterlegten Standardstrukturen an die Besonderheiten von Prozessen und Organisationseinheiten vorgesehen. Daraus ergibt sich, dass die Abteilungen und Bereiche in diese Anpassung in einem gewissen Maße einbezogen werden. Die Erarbeitung der neuen Strukturen obliegt aber nach wie vor hauptsächlich der zentralen Projektgruppe.

Abbildung 3: Ein Top-Down-Modell mit Elementen der dezentralen Anpassung

Das Vorgehensmodell 2 kommt vor allem in Kommunalverwaltungen vor. Die Kommunen haben im Vergleich zu Bundes- und Landesbehörden eine Vielzahl von Kernprozessen bzw. –produkten, die sie den Bürger:innen bzw. der Zivilgesellschaft anbieten. Das ist meist eine deutlich dreistellige Zahl. Das drückt sich auch in einer Vielzahl von Fachverfahren aus, je nach Verwaltungsgröße oft zwischen 50 und 200. Schon daraus ergibt sich ein gewisses Bewusstsein, dass ein DMS-Projekt abteilungs- oder prozess-spezifische Aktenstrukturen im DMS selbst und unterschiedliche Schnittstellen erfordert.

Deshalb finden wir in kommunalen Leitfäden zur DMS-Einführung einleitende Sätze wie:

„Wegen der mit der Einführung eines Dokumentenmanagementsystems verbundenen Umstellung auf eine elektronische Aktenführung handelt es sich hierbei in erster Linie um ein Organisationsprojekt (und kein IT-Projekt). (…) Auch die Mitarbeiter/-innen sollten möglichst frühzeitig eingebunden und über das Projekt und die damit verbundenen Auswirkungen auf ihre persönliche Arbeitsweise informiert werden.“ /Anmerkung 2/

Der Verweis auf den OE-Charakter des Projekts spiegelt das Bewusstsein wider, dass es nicht einfach um Installation eines Produkts und anschließender, bloß technischer Inbetriebnahme durch die Mitarbeiter:innen geht. Die Auswirkungen auf deren „persönliche Arbeitsweise“ werden antizipiert. Allerdings reicht es bei diesem Vorgehensmodell aus, zu diesem Zweck die Mitarbeiter:innen zu „informieren“ – eine aktive Beteiligung ist nicht vorgesehen.

Der Projektplan

Im Vergleich zum autoritären Modell kommt hier eine Prozessaufnahme an der Schnittstelle zwischen zentraler Projektgruppe (meist von Projektmitgliedern aus der Orga-Abteilung) und dem jeweiligen Einzelbereich hinzu (siehe Abb. 3). „Prozessaufnahme“ soll hier in einem allgemeinen Sinne verstanden werden: Es kann sich um die Anpassung des jeweiligen Teils im Aktenplan handeln oder um die Erarbeitung einer Musterakte für die jeweiligen Vorgänge (sehr häufig bei Bau- und Stadtplanungsabteilungen) oder auch um die Planung von spezifischen Workflows.

Die Realisierung der dezentralen Konzepte obliegt dann wieder der zentralen Projektgruppe. Diese führt meist auch die Schulungen durch, die aber ein Strukturelement enthalten. Es wird also nicht nur die rein technische Bedienung der Software beigebracht, sondern auch die besonderen Customizing-Elemente der Software im jeweiligen Bereich.

Erfahrungen der Anwender:innen

Nach unseren Eindrücken ist die Akzeptanz der Anwender:innen deutlich höher als im Vorgehensmodell 1. Die Möglichkeit, die Software in einem bestimmten Maße an die Bedürfnisse des eigenen Teams anzupassen, wirkt stark motivierend. Allerdings sind die führenden Software-Produkte, die sich den öffentlichen Markt gegenwärtig (Ende 2021) im Wesentlichen aufteilen, diesbezüglich sehr beschränkt. Immer wieder stoßen Wünsche der Anwender:innen an technische Grenzen. Das wird aber nicht der Projektgruppe angelastet und führt deshalb in der Regel nicht zu großer Unzufriedenheit.

Die Dilemmata der Top-Down-Methodik: Was ist der Projektnutzen? Was ist ein Projekterfolg?

Bei beiden Vorgehensweisen wird das jeweilige DMS-Produkt zentral und weitgehend ohne Anwenderbeteiligung ausgewählt. Dabei spielt natürlich die Vorstellung der Projektgruppe, worin der Nutzen des Projekts für welche Stakeholder bestehen soll, eine zentrale Rolle.

Im autoritären Modell ist, wie gesagt, eine Anpassung an die Einzelbehörden oder gar Einzelbereiche nicht vorgesehen. Im autoritären Modell ist, wie gesagt, eine Anpassung an die Einzelbehörden oder gar Einzelbereiche nicht vorgesehen. Zum Beispiel stellte die Projektleiterin in Baden-Württemberg, Dr. Daniela Oellers, in einem Vortrag Ende 2020 diese Rasenmähermethode als besonders positiv dar. Ihre Punkte waren:

  • „EINE Standardakte für ALLE
  • Die allermeisten Beschäftigten schulen wir nur über E-LEARNING!
  • PARALLELISIERUNG in der Pilotierung und beim Rollout
  •  Standardisiertes Einführungsvorgehen für alle Behörden mit zentralem Personal“ /Anmerkung 3/

Der Nutzen der neuen Arbeitsweisen für die Beschäftigten wird zwar ab und zu angesprochen. Aber der eigentliche Projektplan ist zeitgetrieben und an zentralen Vorgaben zur Einführung orientiert. Immer wenn dieser Zeitplan in Gefahr gerät, müssen die Anwenderbelange zurückstehen. Pro Behörde sieht der Projektplan Baden-Württembergs nur drei Monate für den „Roll-out“ vor – das reicht vielleicht gerade für das standardisierte „E-Learning“.

Auf kommunaler Ebene und im Vorgehensmodell 2 spielt der Nutzen für die Anwender:innen der neuen Arbeitsumgebung im Hintergrund eine etwas größere Rolle. Im Leitfaden des Bayerischen Landkreistages heißt es beispielsweise:

 „(…) Bei der elektronischen Aktenführung entfällt nicht nur der Aufwand, die zunehmenden elektronischen Dokumente und E-Mails auszudrucken und zum Papierakt zu nehmen, sie bietet auch zusätzliche Vorteile:

  • orts- und zeitunabhängige Verfügbarkeit der Akten,
  • gleichzeitiger Zugriff von mehreren Bearbeitern,
  • einfache, schnelle, umfängliche und komfortable Recherchemöglichkeit,
  • schnellere und bessere Auswertung, Darstellung und Verarbeitung,
  • Vermeidung einer fehleranfälligen mehrfachen Erfassung und Pflege von Daten,
  • Beschleunigung der Bearbeitung von Verwaltungsvorgängen,
  • Erhöhung der Transparenz des Verwaltungshandelns.“ /Anmerkung 4/

Diese Auflistung ist eher technisch bestimmt. Sie richtet sich auf die verbesserten Features eines DMS im Vergleich zur Papierwelt oder zu Windows, aber nicht um deren Nutzen für die Anwender.

Die Unterschiede zwischen beiden Perspektiven möchte ich noch etwas genauer ansehen.

Der Unterschied zwischen technischer und lustvoller Definition von Anforderungen

Wir kaufen uns ein Auto – ein Beispiel aus dem Privatbereich

Nehmen wir an, ich möchte oder muss mir ein neues Auto kaufen. Zu diesem Zweck begebe ich mich zu einem Kfz-Händler, der verschiedene Marken und Modelle im Angebot hat.

Mein Budget beträgt 22.000 €. Aber das muss nicht unbedingt ausgeschöpft werden. Ich überlege so bei mir: „Also ein bisschen besser beschleunigen sollte es schon als der jetzige Wagen. Und einen größeren Kofferraum – so oft muss ich die Rückbank vollstellen, weil nicht genügend Platz da ist. Eine gute Einparkhilfe – das wäre auch wichtig. Und beim jetzigen Navi muss ich die aktuellen Karten immer manuell importieren. Also solche Updates müssen künftig automatisch laufen.“

Auf einmal meldet sich eine innere Stimme, ein bisschen überschnappend und aufgeregt: „Und? Schon mal was von CO2 gehört?? Auf die Idee, ein E-Auto zu nehmen, kommst du wohl gar nicht, oder?“ – “Ja, aber,” wende ich schüchtern ein, “das Budget ist eben nicht so üppig. Trotz Subvention teurer als ein Benziner. Vielleicht könnten wir noch warten, bis der Ökostrom die Strompreise drückt. Lass uns mal schauen, was der Händler zu bieten hat.”

Werden wir – ich und meine innere Gewissensstimme – mit diesen Vorgaben ein gutes Auto finden können? Mag sein. Aber angenommen, wir beide Ichs stoßen auf Widersprüche, unvereinbare Bedingungen. Ein E-Auto ist teurer als ein Benziner – aber werden wir den Benziner 2025 noch verkaufen können? Vielleicht müssen wir doch sofort auf E umsteigen – dann aber an anderer Stelle Abstriche machen. Aber an welcher? PS-Zahl? Kofferraum? Wie sollen wir uns entscheiden? Wie kann der innere Konflikt gelöst werden?

Bei einer technischen Definition von Anforderungen verschwindet der Zweck hinter dem Mittel zu seiner Lösung. Zum Beispiel: Warum will ich einen großen Kofferraum? Weil ich alle Wochen einen Großeinkauf mache beim Supermarkt und es nervig finde, die Getränkekisten auf die Rückbank zu hieven. Ein E-Auto im Budgetrahmen aber hätte nur deutlich weniger Platz für Transporte.

Wir haben also zwei Anliegen und eine Lösung. Aber über die Anliegen sprechen wir nicht mehr – weder unter uns noch mit dem Händler – und deshalb wird es uns schwerfallen, mit Zielkonflikten umzugehen. Man kann nicht konstruktiv „E-Auto“ gegen „großer Kofferraum“ abwägen. Wir können uns aber sehr wohl über die Abwägung „Beitrag zum Klimaschutz“ und „bequemeres Reisen“ unterhalten. Das sind nämlich die wirklichen Alternativen, zwischen denen wir uns entscheiden müssen. Oder für die wir vielleicht auch ganz neue Lösungen suchen können (ist ein Dachgepäckträger für einmal Urlaub im Jahr nicht auch ein denkbarer Ersatz für einen Kofferraum? Aber was ist dann mit den Einkäufen?).

Damit kommen wir zum Thema Kreativität. Technische Lösungen stehen im Wirklichkeitsraum unseres jeweiligen Universums herum und verharren in stummer Starrheit. Ideen über künftige Nutzen hingegen bringen Bewegung, denn sie eröffnen Möglichkeitsräume: Wohin können wir überall in Urlaub fahren? Vielleicht auch öfter mal zu zweit. Landschaften tauchen vor dem inneren Auge auf und Begegnungen mit Reisebekanntschaften. Wie können wir unsere Einkäufe besser organisieren und brauchen wir wirklich alles, was wir so heranschleppen?

Anforderungen nach dem Nutzen formulieren – die Grundidee der sog. „Anwender-Storys“ aus dem agilen Instrumentenkoffer – ist eine zurückhaltende Formulierung für das, was die Methode uns ermöglicht: Ideen spinnen, überhaupt spinnen, Lust und Freude erzeugen, das Leben morgen als gestaltbar erleben.

Technische Nutzendefinitionen sind meist langweilig und konservativ

Jetzt wieder zurück zu unserem DMS-Thema. Richtig vom Hocker reißt z. B. die oben zitierte „Liste der Vorteile eines DMS“ durch den Bayerischen Landkreistag wohl keinen Sachbearbeiter und keine Sachbearbeiterin. Sie werden sich davon kaum motivieren lassen, das DMS-Projekt enthusiastisch zu begleiten.

Hinter der langweiligen Form liegt der inhaltliche Mangel an Neuheit, der dieser Liste innewohnt. Jan Fischbach hat darauf hingewiesen, dass diese sehr technische Formulierung der Projektanforderungen auf konservativen Vorstellungen über eine gute zukünftige Arbeitsweise beruht:

  • „(Das DMS) archiviert nur abgeschlossene Vorgänge. Das Archiv wird wie eine Bibliothek aufwändig und sehr korrekt verwaltet. Laufende Vorgänge bearbeitet jeder weiterhin, wie er will.
  • Alle Vorgänge lassen sich mit Workflows abbilden. (Deswegen wird oft mit dem Rechnungseingangsworkflow, Reisekostenabrechnungen oder Urlaubsanmeldungen begonnen.)
  • Jeder arbeitet als Spezialist in seinem Bereich. Der sog. Dienstweg ist einzuhalten.
  • Wissen kann man managen. Standards lassen sich vorab festlegen.
  • Hauptsache, das Projekt ist rechtzeitig fertig.“

Das Bundesinnenministerium hat in einem Leitfaden für die DMS-Einführung die Risiken von DMS-Projekten aufgelistet. Die zwei wichtigsten Faktoren stellen die mangelnde Motivation der Mitarbeitenden dar sowie ihr Eindruck, im neuen System arbeite man weiter wie davor:

  • „Das verwendete IT-System wird durch die Nutzer nicht akzeptiert.
  • Das IT-System ist teuer in Entwicklung und/oder Betrieb.
  • Das IT-System ist nicht innovativ.“ /Anmerkung 5/

Jede Behörde hat genug negative Erfahrungen mit IT-Projekten gesammelt. Mit der E-Akte wird eine neue Serie gestartet, die bei vielen Betroffenen wieder zu gemischten Gefühlen führen wird. Wieso ändert sich auch diesmal nichts?

Freudezentrierte Anforderungen für die E-Akte

Beispiel für den ersten Entwurf einer Vision durch eine Arbeitsgruppe im Rahmen eines internationalen Forschungsprojekts. Die AG soll für die ca. 1.600 Projektbeteiligten eine gemeinsame Arbeitsplattform beschaffen.

„Wie werden wir zusammenarbeiten, wenn wir ein DMS haben?

  1. Alle Teilnehmer speichern relevante Dokumente in einem einzigen Repository.
  2. Die Dokumente sind nicht mehr über verschiedene Orte auf einzelne lokale Systemen verteilt.
  3. Die Nutzer haben komfortable Möglichkeiten, Dokumente zu suchen. Verlässlichkeit: Wenn ein Dokument im DMS vorhanden ist, wird es gefunden.
  4. Die Anwender haben standardisierte Workflows für den Freigabeprozess und die Konfigurationssteuerung der Dokumente zur Hand.
  5. Dokumente gehen nicht mehr verloren, auch wenn es zu Personalfluktuationen kommt.
  6. Alle Zugriffe auf Dokumente sind auf autorisierte Benutzer beschränkt und werden vom System protokolliert.
  7. Alle Exporte von Dokumenten aus dem System sind durch Standards geregelt und werden durch das System verfolgt.
  8. Das System unterstützt eine Versionskontrolle für alle Dokumente.
  9. Es ist nicht nötig, „alte Projekthasen“ zu fragen, um Dokumente zu finden. Die Struktur ist leicht zu verstehen. Personen, die von einem Teilprodukt betroffen sind, ohne direkt daran zu arbeiten, können alle relevanten Container in weniger als 2 Minuten finden.
  10. Das System ist adaptiv. Wenn wir Strukturen ändern – Ablagestrukturen, Metadaten, Workflows … -, können das unsere Administratoren zu 90% selbst tun, ohne Hilfe des Herstellers anfordern zu müssen.“

Vorgehensweise 3: Demokratisches Empowerment

Dieses dritte Modell ist nach dem Gesagten jetzt schnell umrissen. Das erste Charakteristikum besteht darin, dass die Anwender:innen bzw. deren Vertreter:innen so früh wie möglich in die Entwicklung von Anforderungen und Visionen einbezogen werden. Sie begleiten schon die Aufstellung des Lastenhefts, die Ausschreibung eines DMS sowie dessen schlussendliche Auswahl.

Abbildung 4: Im demokratischen Modell werden die Anwender:innen von Anfang an beteiligt

Das Ziel des Projekts ist Empowerment der Anwender:innen: Sie sollen ermächtigt werden – auf der sozialen Ebene als Beteiligung an Entscheidungen, auf der technischen Ebene als Beherrscher:innen der Software – ihre Arbeitsumgebung nachhaltig zu gestalten.

Konkret bedeutet das im Projekt (vgl. Abb. 4):

  • Die Erarbeitung neuer Prozesse und Strukturen findet (auch) schon bei Projektbeginn statt, vor der Beschaffung. Mitarbeiter:innen aus ausgewählten Projektbereichen bewerten ihre Arbeitsumgebung daraufhin, wie stressfrei und reibungslos man in ihr seine Aufgaben erledigen kann. Diese subjektive Bewertung kann mit statistischen Auswertungen ergänzt werden, z.B. über den Umfang der Belastung mit E-Mails. Es schließen sich sog. „Wirkungsanalysen von Störungen“ in den Arbeitsabläufen an.
  • Die Anwender:innen entwickeln auf dieser Grundlage Ideen, wie eine zukünftige Arbeitsumgebung aussehen könnte, in der die Störungen und Behinderungen nicht mehr aufträten. Und daraus ergibt sich eine Vision, in welchem Maße und in welche Richtungen Änderungen überhaupt denkbar sind. Wir nennen das „Möglichkeitsräume der Gestaltung“.
    Auf einmal denkt man die E-Akte nicht mehr als irgendein Archiv, in dem man Dokumente ablegt und eventuell auch wieder findet. Sondern man entwickelt Phantasien über künftige flexible digitale Plattformen für indiviuelle, aber auch Teamarbeiten: mit Möglichkeiten schneller unkomplizierter Kommunikation, wie man sie im privaten Bereich kennt (WhatsApp zum Beispiel) – mit übersichtlichen Boards, auf denen ein Sachgebiet seine Aufgaben übersichtlich verteilt, oder auch mit digitalen Whiteboards (wie Miro), auf denen man gemeinsam Ergebnisse erarbeiten kann.

Diese Ideen finden dann Eingang in das Lastenheft für die Ausschreibung. Und das bringt den Anwendervertretern zwei Arten von positiv verstandenem Machtgefühl: Erstens ein Gefühl, die eigene Arbeitszukunft gestalten zu können und sich nicht nur an irgendwelche technischen „Trends“ passiv anpassen zu müssen; sondern sich ein Stück weit von den alten Gedanken der Papierwelt zu lösen und ganz neue Gedankenräume aufzuspannen. – Und zum zweiten die neue Erfahrung, auch „Diskursmacht“ in der eigenen Verwaltung zu besitzen: mit seinen Ideen gehört zu werden und nicht nur ausführendes Organ von Konzepten zu sein, die an ganz anderer Stelle ausgedacht wurden.

In derartigen Projekten kann man dann auch agile Methoden gut anwenden. Die iterative Vorgehensweise im Projekt – Prozess für Prozess im DMS abzubilden, und auch dies evtl. in mehreren Sprints mit inkrementellen Nutzenzuwächsen – ist quasi „alternativlos“. Man sieht es deutlich: agile Methoden sind kein Ziel an sich; wenn das Ziel autoritär ist, kann sich das Projektteam mit der Bezeichnung „interdisziplinär“ schmücken, so viel es will – es bleibt trotzdem „Old Old Work“.

Gleichzeitig findet auch ein Empowerment der zentralen Projekt- und Führungsebene statt. Denn was ist mächtiger als eine Vision und ein Anforderungskatalog, welche sich auf die Schwarmintelligenz der Vielen stützen können? Auch das ändert viel in den Köpfen von Führungskräften.

Abbildung 5: Das DMS-Einführungsprojekt hat irgendwann ein Ende. Aber die In-Dienst-Nahme der Software durch die Anwender:innen endet nie.

Der zweite Unterschied zu den Top-Down-Modellen: Das Projekt geht in eine permanente Verbesserungskultur über. Die Mitarbeiter:innen können sich selbst organisieren und so das DMS immer mehr in Richtung auf ihre Bedarfe anpassen. Das heißt, die neuen im Projekt erfahrenen Arbeitsweisen der Selbstorganisation und der Indienststellung der Software für die Mitarbeitenden (statt umgekehrt) kann – wenn dies zugelassen wird – auch die Routinearbeit nach Projektende in der Breite nachhaltig beeinflussen. Das Projekt wird dann nicht nur als OE-Projekt etikettiert, sondern OE wird gelebt.

Das setzt natürlich auf Seiten der Führungskräfte eine Bereitschaft voraus, die eigene Entscheidungsmacht zu teilen, auf Seiten der Software eine hohe Adaptivität. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Was ist ein Projekterfolg?

3 Vorgehensweisen – 3 Definitionen von „Erfolg“

Die drei Vorgehensweisen sind nicht “Varianten” innerhalb eines gemeinsamen Raumes, so wie Benzin-, Diesel- und E-Autos Elemente im Reflexionsraum “Individualverkehr” sind. Also miteinander vergleichbar in Bezug auf individuellen Nutzen, gesellschaftliche Auswirkungen und Kosten, beispielsweise. Ein Dieselfahrer kann mit dem Besitzer eines E-Autos über Vor- und Nachteile sprechen oder auch streiten – und dieser Streit kann innerhalb eines Kopfes stattfinden, wie oben geschildert.

Die drei Vorgehensweisen zur Einführung der E-Akten und ihre Vertreter:innen können nicht vergleichbar kommunizieren. Sie leben in ganz unterschiedlichen Denkwelten, und jede Vorgehensweise hat ihren eigenen Erfolgsmaßstab.

Das autoritäre Modell kennt nur den „Roll-out“. Sind x-Tausend Arbeitsplätze ans DMS angeschlossen – ja oder nein? Wenn ja, dann ist es ein erfolgreiches Projekt gewesen. Was auffällig ist, dass entsprechende Projekte offenbar sehr wenig Fürsorglichkeit für die Sachbearbeiter:innen, also die “Projektkunden”, haben. Diese kommen höchstens als zu Gängelnde, nie als zu Unterstützende vor.

Anders im paternalistischen Modell, das auf den ersten Blick so ähnlich aussieht. Hier wird durchaus von Anliegen der Mitarbeitenden gesprochen. Allerdings auch von einem Standpunkt aus: “Wir wissen, was für euch gut ist.” Einer Kritik am DMS seitens der Anwender:innen wird oft Verweis auf technische Hindernisse begegnet („also diese Schnittstellen! Das ist ja ein Fass ohne Boden, bis die mal funktionieren!“), und umgekehrt lasten die Betroffenen Projektmängel nur in seltenen Fällen der Projektleitung an.

Das demokratische Modell hat es am schwersten, zu einem Erfolg zu kommen. Die Ambitionen sind riesig und der zu leistende Sprung in neue Arbeitswelten ist der fordernste. Daran gemessen ist das Maß der Zielerreichung bei Projektende oft deutlich geringer als eingangs erhofft – so 50 bis 60% vielleicht. Aber qualitativ sieht es meist anders aus. Nicht nur die Schläuche sind neu, sondern auch der Wein ist es – auch wenn er noch sehr jung ist. Das ist oft spürbar: ein neuer Geist hat mit dem Projekt seinen Einzug in die Verwaltungsbüros gehalten.

Digitalisierung ist kein Ziel an sich

Die Beispiele zeigen auch, wie vorsichtig wir sein müssen. Oft werden Digitalisierung und agile Transformation als Synonyme verwendet oder zumindest als eng miteinander verwoben. Aber Digitalisierung ist nicht gleich Digitalisierung. Das Vorgehensmodell 1 „Autoritäre Disziplinierung“ ist auch ein Digitalisierungsprojekt und gleichzeitig eine Rolle rückwärts in die verstaubte Hierarchiewelt der 1950er Jahre.

Wenn wir das nicht wollen, müssen wir von Anfang an – und konsequent das ganze Projekt hindurch – unsere Anstrengungen am Nutzen für die Anwender:innen und für ihre Arbeitsfreude – ach, was! – ihren Enthusiasmus! – ausrichten. Eine so verstandene Digitalisierung wird wiederum den Kund:innen der Verwaltung zu gute kommen – denn nur motivierte Mitarbeiter:innen, die sich in ihrer Verwaltung als selbstbewusste, geachtete und wahr-genommene Menschen fühlen, können mit Empathie auf die Gesellschaft draußen zugehen.

Anmerkungen


/1/ Kommentar der Pressestelle des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 21.01.2021 zum Artikel „Digitalisierung als Rolle rückwärts? Anmerkungen zur DMS-Einführung in der Landesverwaltung Baden-Württemberg“ vom 05.10.2020

/2/ Bayerischer Landkreistag (Hrsg.): Leitfaden zur Einführung und zum Einsatz von Dokumentenmanagementsystemen, Mai 2017, Seite 4

/3/ Dr. Daniela Oellers: Aktenaustausch in Zeiten der Digitalisierung, Vortrag auf der Digitalisierungskonferenz Baden-Württemberg 13. Februar 2020, Folie 8

/4/ Bayerischer Landkreistag, a.a.O.

/5/ Bundesministerium des Innern, Referat O 1: Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit, Webseite des BMI, ohne Datum, abrufbar unter http://www.verwaltung-innovativ.de/DE/E_Government/orgkonzept_everwaltung/orgkonzept_everwaltung_node.html

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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