Die Neugier des Menschen, „hinter die Fassade“ zu schauen, ist unermesslich. Hinter die Fassade von Dingen: Warum bewegen sich die Sterne am Nachthimmel? Hinter die Fassade anderer Menschen: Warum handelt sie so und nicht anders? Schließlich auch hinter die Fassade von jenen merkwürdigen „Dingen der Dritten Art“, wie Gotthard Günther sie nannte: Organisationen, Institutionen, verschiedenste Artefakte – eindeutig von Menschen geschaffen und trotzdem von Menschen nicht mehr einfach kontrollierbar und manipulierbar.
Können Organisationen überhaupt eine „Kultur“ haben? Wie könnte man sie fassen? Die Systemtheorie tut sich damit nicht leicht. /Anmerkung 1/ Aber es gibt neuere Antworten.
Ich möchte hier eine spezielle Sichtweise auf die Frage nach der „Verwaltungskultur“ vorschlagen. Den Ansatz habe ich einem Buch von Philipp Hübl entnommen /Anmerkung 2/. Hübl stellt eine Liste von sechs „moralischen Grundprinzipien“ auf, die man bei allen Menschen auf der Welt in unterschiedlicher Ausprägung finde /Anmerkung 3/.
Was meint Hübl, wenn er sie als moralisch bezeichnet? Unter „moralisch“ versteht er Antworten auf die Frage:
Was sollte uns im gesellschaftlichen Zusammenleben wichtig sein?
Diese Frage und die möglichen Antworten beziehen sich also von vornherein auf das Verhältnis vom einzelnen Menschen zu den gesellschaftlichen Organisationen, denen er angehört (Organisationen hier im weitesten Sinne, also Familie, Freundeskreise, Vereine, Betrieb usw.). Das unterscheidet sie von anderen Klassifikationen. /Anmerkung 4/
Der Unterschied zwischen konventionellen Regeln und moralischen Prinzipien
Hübl bezieht sich auf Forschungen zweier amerikanischer Psychologen, Elliot Turiel und Richard Allan Shweder, die in verschiedenen Kulturkreisen Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts Fragen zu moralisch „richtigem“ Verhalten stellten /Anmerkung 5/.
Zum Beispiel wurden Grundschulkindern Fragen gestellt wie:
- „Warum darf man den Sitznachbarn nicht an den Haaren ziehen?“
- „Warum darf man in der Schule kein Kaugummi kauen?“
Im ersten Fall kamen Antworten wie
- „Weil es weh tut.“
Im zweiten Fall:
- „Weil es verboten ist.“
Dann wurde den Kindern die Frage gestellt:
„Stell dir vor, in einer anderen Klasse erlaubt der Lehrer das Kaugummikauen – wäre es dann okay, das zu tun?“
In diesem Fall antworteten die meisten der Erst- oder Zweitklässler: „Ja, das wäre dann okay“. Im Fall aber, dass der Lehrer das Haareziehen erlauben würde, lautete die Antwort trotzdem „Nein.“
Die Erlaubnis des Lehrers enthebt mich nicht der Notwendigkeit, mich selbst unabhängig von ihm zu entscheiden. Es macht einen Unterschied, ob es sich um „konventionelle“ Festlegungen (Kaugummikauen) oder um moralische Grundsätze (Schmerzen bereiten) handelt.
Moralische Grundprinzipien, wie Hübl sie im Gefolge dieser Forschungen versteht, sind demnach „intrinsische Entscheidungsgrundlagen“. Es sind Grundsätze, die wir Menschen als so tief im eigenen Selbst verankert erleben, dass auch andere Meinungen Dritter oder sogar von Menschen, von denen wir abhängig sind, uns diesbezüglich nicht schnell irre machen.
Schon hier beginnt bei mir eine Saite zu schwingen, hin zum Problem der Hierarchie, wie sie zur DNA traditioneller Verwaltungen gehört. Bevor wir zu diesem Thema kommen, schauen wir uns aber erst einmal die moralischen Grundprinzipien selbst an.
Die moralischen Grundprinzipien nach Hübl
Hübl zählt derer sechs auf:
- Fürsorge
- Fairness
- Freiheit
- Autorität
- Loyalität
- „Reinheit“
Menschen und ihre Kulturen unterscheiden sich dadurch, dass den einen diese und den anderen andere Grundprinzipien wichtig sind. Dabei gibt es natürlich Zusammenhänge. Wenn mir das Prinzip Freiheit über alles geht, habe ich vielleicht Probleme mit der Anerkennung von Autoritäten. Und so weiter.
Im folgenden stelle ich die Grundprinzipen kurz vor. Wem das zu viel Aufwand ist, der kann gleich zum Abschnitt „Verwaltungen und die Menschen in ihnen“ gehen.
Das Prinzip Fürsorge
Menschen, denen dieses Prinzip wichtig ist, treten für eine Verantwortung der Gesellschaft und jedes Einzelnen gegenüber anderen Menschen ein: sie sehen eine Verpflichtung zu Schutz und Unterstützung. Schwächere – Kinder, ältere Menschen, Behinderte – haben einen Anspruch auf unsere Hilfe.
Das Prinzip ist stark mit dem Begriff der Empathie verheiratet: ich versetze mich aktiv in andere hinein und beurteile, ob sie Hilfe brauchen oder nicht – auch wenn sie diesen Wunsch nicht selbst äußern können (aufgrund von Sprachbarrieren, Scham, geographischer Entfernung).
In Verwaltungen hat dieses Prinzip stark mit ihrem Verhältnis zu den Anspruchsberechtigten (Bürgern, Einwohnern, Unternehmen, Vereinen, Zivilgesellschaft …) zu tun. Handeln wir zum Beispiel nach dem Antragsprinzip: ein Bürger muss gefälligst aktiv auf die Verwaltung zugehen, wenn er etwas will!? Oder nach dem Prinzip aktiven Aufsuchens: Wir gehen auch in die Stadtviertel mit eher staatsferner Bevölkerung, um sie zu Corona-Impfungen einzuladen.
Das Prinzip Fairness
Fairness ist mit ganz unterschiedlichen Forderungen verknüpft: „Gerechtigkeit“. „Gleichheit“. „Nicht-Diskriminierung“.
Das sind alles keine einfach zu definierenden Begriffe. Über die verschiedenen Vorstellungen, was gerecht sei, kann man Bücher schreiben und sich mit Freunden entzweien. Gleichheit kann ökonomisch interpretiert werden, also eine Forderung nach Ausgleich extrem ungleicher Vermögensverteilungen nach sich ziehen. Oder politisch, also sich auf die Gleichheit vor dem Gesetz beschränken. Aber schon, dass ein Mensch dieses Prinzip in irgendeiner Ausprägung für wichtig erklärt und sich in diese Diskussionen einbringt, stellt eine bestimmte moralische Grundposition dar.
Für Verwaltungen könnte man vor allem als den Grundsatz „Umgang auf Augenhöhe“ übersetzen: Bürger:innen werden an den sie betreffenden Entscheidungen (bei individuellen Angelegenheiten wie bei Dingen der Stadtplanung) aktiv beteiligt, und wir entscheiden nicht einfach über sie hinweg.
Das Prinzip Freiheit
Für mich ist eines der prägnantesten Zitate der deutschen Aufklärung, in dem die Forderung nach Freiheit als Abwesenheit von Zwang durch einen anderen erhoben wird, der Ausruf von Emilia Galotti im Angesicht der Vergewaltigungsdrohung des Fürsten:
„Ich will doch sehen, wer mich hält, – wer mich zwingt, – wer der Mensch ist, der einen Menschen zwingen kann.“ /Anmerkung 6/
Das Wort Freiheit wird aktuell von einigen Kräften seines aufklärerischen Inhalts beraubt und in die ultra-individualistische Forderung nach „alles tun können, ohne auf Andere oder die Gesellschaft Rücksicht nehmen zu müssen“ verwandelt. Diese Art von Freiheit ist hier nicht gemeint
Denn Freiheit zu verstehen einfach als Möglichkeit, zu tun und zu lassen, was einem gerade in den Sinn kommt, verkürzt sie radikal. Freiheit im produktiven Sinne ist die Erlaubnis, Sinnvolles zu tun. In Verwaltungen heißt das: die Kreativität der eigenen Mitarbeiter:innen zu fördern. Selbstorganisation der Einzelnen und der Teams zuzulassen – damit sinnvolle Arbeit für die Gesellschaft geleistet werden kann. Statt diesen Wunsch nach Sinnstiftung in leergelaufenen Regeln und müden Hierarchiestrukturen zu lähmen.
Das Prinzip Autorität
Hier geht es um die Anerkennung von Über- und Unterordnungsverhältnissen in Gruppen, Organisationen und ganzen Gesellschaften. Man findet es in patriarchalen Familienstrukturen (der Mann hat das Sagen gegenüber Frau und Kindern) und natürlich in Verwaltungen: der Vorgesetzte hat ein Anordnungsrecht gegenüber dem Mitarbeiter – und zwar hier nicht in einem bloß juristischen Sinne verstanden, sondern moralisch: „Das ist auch richtig so! Mitarbeiter:innen sollten die Ansagen der Amtsleitung nicht ständig hinterfragen, sondern einfach mal tun, was man ihnen aufträgt.“
Wichtig dabei: Die Anerkennung von Autorität verläuft in zwei Richtungen – von unten nach oben („ich erkenne an, dass du mein Chef bist“) und von oben nach unten („ich habe ein Anrecht darauf, dass du meine Autorität anerkennst und ihr folgst“).
Das Prinzip Loyalität zur Gemeinschaft
Auf meine Familie lasse ich nichts kommen. Ich stehe zu meinem Fußballclub. Right or wrong – my country. Ich bin stolz, Deutscher zu sein. Diese Art von Verhalten, zu „seinen“ Gemeinschaften zu stehen, stellt natürlich eine Basis der Beziehung zwischen Individuen und Gruppen dar.
In Verwaltungen geht es zum einen um das Verhältnis der Gesamtverwaltung nach außen: Wie gehe ich mit Bürger:innen und anderen Anspruchsberechtigten um, zum Beispiel, wenn ein Fehler vorgekommen ist. Gebe ich den Fehler zu? Oder verteidige ich „meine Stadt“ oder „mein Bistum“ bis aufs Messer gegen eine – möglicherweise auch berechtigte – Kritik? Bei vielen eher konservativen Verwaltungen gilt eine Art von Nibelungentreue der Beschäftigten als unverzichtbare Tugend; alles andere wird als Nestbeschmutzung geahndet.
Dann betrifft das Prinzip auch das Binnenverhältnis. Die Loyalität zum eigenen Amt gegenüber anderen Ämtern ist ein wichtiger Zement, der das Silodenken befördert.
Das Prinzip „Reinheit“
Das ist das – finde ich – am schwierigsten zu verstehende Prinzip. Deshalb habe ich es in Anführungszeichen gesetzt.
Um mich dem Thema zu nähern, spreche ich erst einmal über Gefühle. Für alle Prinzipien gilt: wenn ein Mensch eines von ihnen in einem konkreten Fall verletzt fühlt, dann löst das (oft sehr starke) Gefühle in ihm aus. Fühle ich mich oder andere ungerecht behandelt (Prinzip Fairness), dann werde ich zornig oder gar wütend.
Welches Gefühl löst das Erlebnis einer „Unreinheit“ aus? Ekel. Jawohl: Ekel! Oft uns gar nicht bewusst und ein Stück weit verdrängt. (Deshalb wurde lt. Hübl dieses moralische Grundprinzip als letztes und erst beim Studium südasiatischer Kulturen entdeckt, bei denen der mit Unreinheit verbundene Ekel noch offener gezeigt wird.)
Wenn Menschen zum Beispiel gleichgeschlechtliche Liebe ablehnen, ist damit oft die Vorstellung von etwas Schmutzigem verbunden, das einen abstößt. Dann wird vielleicht irgendwie versucht, diese Ablehnung „sachlich“ zu begründen (dass die Natur diese Art von Liebe nicht vorsehe oder Ähnliches), aber diese Gründe sind nur nachträglich zusammengesucht. An erster Stelle steht der Ekel, der von der Vorstellung eines homosexuellen oder lesbischen Paares ausgelöst wird, und die Basis diese moralischen Grundprinzips bereitstellt.
Und so merkwürdig es klingt: Das Grundprinzip der Reinheit spielt auch in Verwaltungen durchaus noch eine Rolle. Mir ist das aufgefallen am Beispiel der E-Akte ( ja wirklich). Da wurde ich nämlich mit Projekten bekannt, in denen die Verantwortlichen sehr stark mit „Ordnung schaffen als Prinzip“ argumentierten: Wie unordentlich doch viele Mitarbeiter:innen seien und dass man jetzt Ordnung in den Laden reinbringen müsse, auch wenn es vielen nicht passe usw. Dass man Laufwerke und Outlook-Fächer endlich mal „säubern“ (sic!) müsse und den Mitarbeitenden ihre laxe Haltung aberziehen – auch durch Zwangsmaßnahmen wie Laufwerke sperren und Ähnliches.
Also Maßnahmen der Digitalisierung nicht zur Befreiung der Arbeitsweisen von unnötigen Behinderungen, sondern beinahe entgegengesetzt: Digitalisierung als Möglichkeit der Kontrolle und koerzitiver Korsettierungen.
Verwaltungen und die Menschen in ihnen
Ich habe in einigen der Beispiele zu den moralischen Grundprinzipien auch deren Rolle in Verwaltungen genannt. Aber Verwaltungen als Organisationen „haben“ keine moralischen Grundprinzipien. Das hängt damit zusammen, dass die Verletzung moralischer Grundprinzipien immer starke Gefühle hervorruft. Wenn ich einem Bettler kein Geld gespendet habe, obwohl ich das Portemonnaie voller Münzen hatte, kann ich starke Scham empfinden (Verletzung des Prinips „Fürsorge“). Wenn ich mich von jemand anderem ungerecht behandelt fühle, kann das Zorn oder gar Wut in mir auslösen („Fairness“). Vor jemandem, der ungewaschen und stinkend in der Straßenbahn sitzt, kann ich Abscheu empfinden, die sich bis zum Ekel steigert („Reinheit“).
Verwaltungen können aber keine Gefühle empfinden. Sie sind mehr oder weniger abstrakte Systeme. Wenn ich also zum Beispiel sage: „In der Stadt X wird die traditionelle Autorität noch hochgehalten“, dann heißt das, dass die Menschen sich entsprechend verhalten. Die Führungskräfte also Gehorsam fordern und ihre Mitarbeiter:innen ihnen Gefolgsam leisten. Das mag auch in formalen Regeln kodifiziert sein – aber Regeln „regeln“ eben nicht das Verhalten. Sie verteilen nur Machtressourcen – ein Vorgesetzter kann den unbotmäßigen Nachgesetzten abmahnen. Er muss es aber nicht, das entscheidet er als Mensch.
Jede:r hat so seine zwei, drei moralischen Grundprinzipien, die ihm wichtig sind, während er andere eher ignoriert oder gar ablehnt. Sie mögen ihm gar nicht so bewusst sein, denn sie wurden meist in frühester Kindheit von der Vorgeneration vermittelt und sind „in Fleisch und Blut“ übergegangen. Das heißt aber keineswegs, dass man sie sich nicht bewusst machen könnte. Das kann man, und man kann sie sich auch bewusst machen und gegen sie handeln.
Die Herausforderungen agilen Handelns
Und man kann seine eigenen Grundprinzipien ändern und weiter entwickeln. Das ist gerade – und deshalb schreibe ich diesen ganzen Artikel -, was der Übergang zu agilen Arbeitsformen von uns verlangt.
Agilität propagiert zuerst einmal Gleichheit. Innerhalb eines agilen Teams sollen keine Hierarchien gelten, sondern die Mitglieder sollen auf Augenhöhe miteinander umgehen. Jede:r soll ihre Meinung sagen dürfen – nein, sagen sollen. Nur so lotet man alle Möglichkeiten einer Situation aus, nur so praktizieren wir Schwarmintelligenz und so vermindern wir Risiken, die sonst übersehen würden. Nicht „einer denkt für alle mit“, sondern alle denken, reden, handeln.
Als zweites hat Agilität offenbar etwas mit verantwortungsvoller Freiheit zu tun. Dabei geht es – wie immer – vor allem um Gedanken- und Redefreiheit. Es soll (soweit uns das Menschen gegeben ist) keine Tabus geben, keine Denkverbote, keine Redezensur. Alle Entscheidungen sollen sich dem „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments unterwerfen, also der in freier Rede geführten Abwägung. Nicht dem „Basta!“ eines Chefs.
Und dann geht es natürlich auch um Fürsorge. Niemand im Team soll Angst haben, zum Beispiel die Angst, als „Schuldiger“ von Fehlern gebrandmarkt zu werden (wie es in vielen Verwaltungskulturen gang und gäbe ist). Wir wollen eine Atmospäre gegenseitiger Hilfe und solidarischer Unterstützung schaffen, in denen jede:r Einzelne von uns sich entwickeln und die anderen bei ihrer Entwicklung unterstützen kann.
Das bedeutet aber, dass in Verwaltungen, in denen Autorität, Loyalität und Reinheit noch den traditionell hohen Stellenwert genießen, Agilität nur um den Preis tiefgreifenden Kulturwandels zu haben ist. Da reicht nicht ein Vortrag über „agiles Mindset“ hier und eine Scrum-Schulung dort nicht aus. Da geht es richtig ans Eingemachte, an die Wurzeln.
Ich bin mittlerweile sehr skeptisch gegenüber dem optimistischen Slogan „culture follows process“. Also dass die Änderung von Prozessen mehr oder weniger zwangsläufig oder gar automatisch den notwendigen kulturellen Unterbau nach sich ziehe. Im Gegenteil: in der Praxis erleben wir, dass Vorhaben der sog. „agilen Transformation“ (horribile dictu) nach den ersten hoffnungsvollen Schritten ins Stocken geraten und schließlich versanden, weil die alte Kultur letztlich die Oberhand behält und das Neue erstickt. Die Argumente von höherer Effizienz der agilen Vorgehensweisen, die vorher so gerne gehört wurden, stoßen dann auf einmal auf taube Ohren. „Lieber in der Reinheit betonierter Strukturen verharren, die Ordnung versprechen und Chaos liefern – als ein Stück Chaos und mutiges Experimentieren zuzulassen und Erfolge möglich zu machen“: Das ist das Motto, das sich dann durchsetzt.
Scheinbar nehmen agile Entwicklungen noch zu – und für einige Verwaltungen gilt das sicherlich. Aber in vielen Organisationen des öffentlichen Dienstes erleben wir schon den Roll-back – zum Teil auch als Usurpation: also als Aneigung des Agil-Sprechs bei Leugnung agiler Moral.
Was wir vielleicht zum Beispiel tun könnten
Bis jetzt ist alles noch Hypothese. Folgende Frage stellt sich als erstes:
Hilft uns das Modell der sechs moralischen Grundprinzipien dabei, unsere Verwaltungen zu verstehen?
Das hat zum Beispiel zur Voraussetzung, dass es einigermaßen stabil ist.
Konkret: Angenommen, wir fassen eine bestimmte Verwaltung ins Auge und lassen 10 Beschäftigte eines Amtes schätzen, wie stark jedes der 6 Grundprinzipien in ihrem Amt beachtet wird – auf einer Skala von 0 bis 10.
Wenn die Unterschiede zwischen den 10 Befragten hoch sind, hat das Modell keinen Erklärungswert. Umgekehrt umgekehrt.

Dann könnten wir tatsächlich mit dem Modell etwas anfangen. Wir könnten „Kulturprofile“ von Verwaltungen oder einzelnen Fachbereichen aufstellen und schauen, welchen Einfluss sie auf die Einführung agiler Denkweisen haben und ob sie sich selbst in diesem Prozess entwickeln. Und wir könnten Vorgehensweisen entwerfen, wie sich Verwaltungskulturen parallel zu den Prozessen ändern können.
Hat jemand unter unseren Leser:innen Lust, sich an einem solchen Tauglichkeitstest zu beteiligen? Ich denke, dass unser FAV-Buchprojekt „Agile Verwaltung 2040“ einen guten Rahmen bilden könnte, um darüber gemeinsam nachzudenken.
Anmerkungen
/1/ Kühl, Stefan: Organisationskultur. Eine Konkretisierung aus systemtheoretischer Perspektive, in: Managementforschung (2018) 28:7–35
/2/ Hübl, Philipp: Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken. C. Bertelsmann 2019. ISBN 978-3-570-10362-3
/3/ das. S. 14
/4/ Die sechs Grundprinzipien bedeuten eine ganz andere Art von Kategorisierung, als es z.B. die „Big Five“ der Eigenschaften von Persönlichkeiten vorschlagen. Und sie unterscheiden sich auch von den drei Quellen der Motivation, die Heinz Bayer als „dreibeiniges Trampolin“ beschrieben hat. Sie begeben sich nicht in Konkurrenz zu diesen anderen Klassifikationen, sondern ergänzen sie.
/5/ Hübl, S. 74 ff.
/6/ Lessing, Gotthold Ephraim. Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, 1772. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 45, 2021; 5. Aufzug, 7.Auftritt
Ein grandioser Artikel, besten Dank dafür.
Mein Kommentar ist rein theoretisch und nur als weiterer Impuls gedacht:
Sofort hatte es mich beim Lesen des Artikels an die zwei emotionalen menschlichen Grundbedürfnisse erinnernt, die gerne mal miteinander ringen: Autonomie und Zugehörigkeitsgefühl – agile Organisationen decken beide sehr gut ab, partizipative Organisation noch mehr, zB der Schindlerhof in Nürnberg beweist, dass es geht und hervorragend funktioniert. Die Info kommt vom Lighthouse Lab Kongress neulich, sehr zu empfehlende Inhalte. Bei Interesse teile ich gerne meine Mitschrift, kontaktiert mich einfach. Verwaltungen (als absolutes Gegenteil) kamen natürlich nicht vor, dennoch haben auch diese Organisationen Verwaltungstätigkeiten, vielleicht lässt sich etwas lernen.
Die Frage ist doch immer, wo wird Mehrwert erzeugt. Und im Spätkaptialismus nunmal auch immer wo und wie fließen Gelder / Budgets, darum kommt man noch nicht herum.
„Ekel“ hat mich sofort an die global einheitlichen 7 Grundemotionen erinnert: Angst, Wut, Ekel, Freude, Verachtung, Überraschung, Trauer – keine Ahnung ob das vielleicht auch noch ein Ansatz sein könnte. Abstrakte Organisationen können zwar keine Gefühle empfinden, die Menschen darin hingegen sehr wohl. Und solange die Maschinen noch nicht die Entscheidungen für uns treffen ist das zu berücksichtigen meiner Meinung nach. Ich sage immer die „Kultur“ einer Organisation setzt sich (hoch komplex dymisch) aus den einzelnen „Mindsets“ / Haltungen der Menschen in ihr zusammen.
Zu guter Letzt, „culture follows process“ kannte ich so noch nicht, sondern „culture follows structure“, das fünfte Gesetz nach den Larman’s laws of organizational behavior. Die anderen vier Regeln machen es vielleicht klarer. Dies glaube ich sehr wohl und Struktur ist mehr als nur Regeln. Agile self-managing teams setzen diese Prozesse und Regeln immer selbst innerhalb eines von außen klipp und klar vorgegebenen Rahmens, sonst sind sie nicht agil.
Sorry das sind nur Gedanken aneinandergereiht, eine Lösung haben wir (noch!) nicht.
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Herzlichen Dank für den spannenden Artikel und die inspirierenden Denkanstösse!
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