Agile Sommerhäppchen (1/x) – Von fiesen Fragen zu tragendem Trampolin

Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt: Eigentlich wollte ich, während der elf (11) Stunden währenden Fährüberfahrt gestern, einen profunden Artikel zaubern, den ich schon seit geraumer Zeit schreiben will
(über junge Menschen frisch in der Arbeitswelt, über ihre Werte, über das was sie können und die Betriebe nicht und das was sie noch nicht können, aber die Betriebe aber schon. Über die teilweise erschreckenden Missachtungen ihrer Motivation und ihrer dargebotenen mitgebrachten Möglichkeiten durch die «empfangenden» Organisationen bzw. Betriebe. Über Gründe für das Phänomen, das mir gerade so oft begegnet und vor allem über Lösungsangebote dafür.)
Aber dann wurde ich auf der Fähre leicht seekrank und es gab weder Internet noch Strom auf dem Kahn. Bref: Für derart profund langt es jetzt nimmer…. Entschuldigung. Also verschieben wir den Artikel auf später mal und ich habe heute kurzerhand das neue Format «Agile Sommerhäppchen» aus der Taufe gehoben:
Ein kurzer Artikel mit Anwendungsangebot, frisch und ‚amächelig‘ wie ein Marktstand in der Provence...

Es geht um die Nasty-Questions-Technik. Auch etwas, das mir bzw. den Menschen, mit denen ich arbeite in den letzten sechs Monaten in immerhin fünf Projekten und Anlässen konstruktiv und lösungszugewandt erfolgreich zur Seite stand. Eigentlich in der politischen Kommunikation beheimatet. Aber – einem Schweizer Offiziersmesser gleich – auch in anderen Situationen durchaus hilfreich, so zum Beispiel für neu zusammengestellte Teams, bei Veränderungen des Status Quo (Führungswechsel, verändertes Portfolio der Abteilung oder gar neu zu digitalisierende Prozesse), zu Beginn eines Projektes (da gleich mehrmals) und/oder in Sackgassenmomenten jeder Couleur.

Die Nasty-Questions-Technik funktioniert so:

1. Schritt – Fragen (er-)finden

Hier geht es darum, möglichst gemeine, investigative, dumme, schwierige, kritische, nörgelnde, provokative Fragen zu sammeln. Solche, von denen man nicht möchte, dass sie einem gestellt werden, schon gar nicht öffentlich und unvorbereitet. Das, was böse Reporterinnen und Interviewer fragen, um ihre Gegenüber in die Enge zu treiben.

Was zum Beispiel fast immer dabei ist, ist:

«Was genau ist das übergeordnete | praktische | realistische … Ziel Ihres Vorgehens?
Warum so, warum nicht ganz anders?
Warum machen Sie das überhaupt? Oder: Warum machen denn ausgerechnet Sie das?
Ist das nicht viel zu teuer für das bisschen Ergebnis?
Was soll denn nun wirklich herauskommen? Welche Wirkung und für wen wird erzielt?
Warum war das Vorherige, das nun geändert werden soll, so schlecht?
Wer ist schuld?
Hätte man nicht schon vor xy Jahren….? »

Solche, so ähnlich und noch ganz andere und viel mehr Fragen werden er- und gefunden, manchmal sogar konstruiert und aufgelistet. Keine werden als ‘nicht realistisch’ oder ‘nicht relevant’ aussortiert, im kreativen Prozess des Fragenerfindens kann ruhig der Denkraum gross gemacht werden.  Dabei darf auch gern jemand externes helfen. Immer sollten mehrere Menschen mit unterschiedlichen Blickwinkeln die Nasty-Questions zusammenstellen.

Ganz wichtig ist: Dabei noch gar nie überhaupt sicher keinesfalls und ganz sicher gar nicht an potenzielle Antworten denken. Es geht in diesem Schritt nur und ausschliesslich um Fragen – NICHT UM ANTWORTEN.


2. Schritt – Mit den Fragen konstruktiv arbeiten (und mitnichten gegen sie)

Also zunächst: Die Fragen auflisten, evtl. thematisch gruppieren und jede (!) Frage beantworten (lassen). Dabei können und sollen unterschiedlichste Personen beteiligt werden – jeweils die, die am angemessensten antworten können. Manchmal sind das Menschen, die man vor den Fragen gar nicht so auf dem Radar hatte…, die aber Wichtiges beizutragen haben, aus der Vorgeschichte oder aus einer Nutzendenecke, die man vielleicht kennen muss, um sie zu sehen. Ganz wichtig ist dabei:

a. Alle, jede einzelne und ausnahmslos wirklich alle Fragen haben eine Antwort verdient.

Weil hier das Thema, um das es geht, bis in alle Ecken beackert wird – im geschützten Raum, bevor es hinaus muss in die Welt.
Weil hier blinde Flecken sichtbar werden. Oder Tabus sich zeigen und bearbeitet werden können.
Weil unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten oder schon bestehende unterschiedliche Auslegungen auffallen.
Und weil ein Team, ein Projekt oder eine Abteilung durch die gemeinsame Sprachregelung, die in dieser Arbeit entsteht, gemeinsamen Boden herstellt und mit einer Stimme sprechen kann – anstatt unter Umständen von den verschiedenen Linienvorgesetzten, Externen oder gar wirklich Journis auseinanderdividiert oder aufs Glatteis geführt zu werden.

b. Die Antworten müssen so einfach und klar wie möglich formuliert sein.

Mit vielen Haupt- und wenig Nebensätzen. Eine gute Hilfe sind Auszubildende oder ganz und gar Fachfremde: Wenn sie die Antwort verstehen, ist sie gut.

c. In den Antworttexten können und sollen ganz zentrale Begriffe bewusst gewählt werden und durchaus mehrfach fallen.

Um ein eingängiges Bild mitzugeben: Einmassieren, bis es blutet….
Das ist ein probates Mittel, bereits relativ am Anfang eines Themas oder Projektes sichtbar und inhaltsbasiert die Deutungshoheit zu erlangen – und dabei helfen Begriffe, die aus Team- oder Projektsicht wünschenswert sind.

Es ist halt ein Unterschied, ob etwas
«Langjähriges Desaster wird endlich in Angriff genommen»
heisst, wenn jemand Kritisches als erstes in einer Sitzung oder einem Text etwas zu dem Thema äussert und im sprachlichen Passiv ein Defizit anprangert und Kriegsrhetorik benutzt.
Oder ob ihr als Erste für relevante Personen und Kreise informiert, so, wie Team oder Projekt es sehen und wofür ihr arbeitet:
«Mit zukunftsfähigen Ansätzen machen wir den Weg frei für neue Möglichkeiten» und damit Chancen und aktiv Vorankommen in den Mittelpunkt des Geschehens stellt.

3. Schritt – Ernten

Das Frage- und Antwortwerk kann nun genutzt werden, oft am besten wirklich in der Frage-Antwort-Form. Für zukünftige interne und externe Lesende oder Zuhörende ist die Form einer Frage, die sie vielleicht selbst haben oder haben könnten, und eine klare Antwort darauf ein relativ einfach aufnehmbares und gut nachvollziehbares Format.

(Team-) extern publiziert als FAQ können die Nasty Questions – oder zumindest ein Teil davon, je nachdem wie kreativ ihr wart – gute Dienste leisten, sei es zu Beginn im Projektmarketing zentrale Informationen zu geben, die Blackbox klein zu halten, Gerüchten den Weg zu versperren, erste Weichen zu stellen oder einfach als nachweisliche Transparenzoffensive. Oder auch um im Projektverlauf immer weider in der Frage-Antwort-Form über aktuelles Fortschreiten zu berichten.

Ganz sicher helfen die Fiese-Fragen-tragende-Antwort-Werke als ein wichtiges Spielfeld für gemeinsame Bilder und Verständnisse intern im Team und können somit als das im Titel versprochene Trampolin wirken:

Je früher

  • Voneinanderwissenundsichverstehenlernen sich einstellt,
  • interne Abweichungen oder Unklarheiten durch eine schwierige Frage oder eine kaum zu findende oder durch unterschiedliche Antwortmöglichkeiten relativ schnell «erwischt» werden,
    [anstatt fälschlicherweise anzunehmen «wir meinen ja schon eh alle das Gleiche, wer gesunden Menschenverstand hat, sieht das genau gleich wie ich, ist ja eh logisch» und dann, wenn grade genau kein guter Moment für unerkannte Missverständnisse ist, teamintern vor der Wand zu stehen. Ich habe das in uuuunnnzääähligen Projekten erlebt, die falsche Annahme «ist uns ja eh allen gleich klar» gehört zu den häufigsten Gründen für üble Projektkrisen bis hin zum Projektscheitern.],
  • daraus ein gemeinsames Grundverständnis (das Trampolin) entstehen kann,
  • Identifikation wächst (unser Trampolin),
  • erweiterte Gestaltungs- und Handlungsfelder von den Akteurinnen und Akteuren erkannt und behandelt werden (das hohe Springen auf dem Trampolin mit Blick in die Weite),
  • eine interne gemeinsame einheitliche Sprachregelung für das neue Team oder Projekt vorliegt (unser gemeinsames, nützliches Trampolin),

desto effektreicher und deutlicher kann die Sprungskraftverstärkungswirkung der Nasty Questions früh im Projekt oder Prozess ihre volle Wirkung entfalten.

Viel Spass beim Umbauen fieser Fragen zu tragenden Trampolinen.

Und damit einen schönen Gruss von den Ufern des Lot und ‘Bon appétit’ mit dem ersten Agilen Sommerhäppchen.

Und wer von euch schreibt das nächste Sommerhäppchen und von wo aus?

Cordialement et bises

La Vero

Autor: Veronika Lévesque

Veronika Lévesque ist beim Institut für Arbeitsforschung und Organistionberatung iafob in Zürich (CH) Organisationsentwicklerin. Und Projektmensch mit einer Vorliebe für Fragen, für die es noch keine fertige Antwort gibt. Begeisterte Grenzgängerin: Unterwegs in 4 Ländern, 3 Sprachen und am liebsten in den Zwischenräumen zwischen Disziplinen. Schwerpunkte: Nutzbarmachung von Übergängen und Transformationshebammerei, Organisations- und Entwicklungshandwerk (Manufaktur, nicht von der Stange), Agile Spielfelder in nicht-agilen Umwelten, Methodenentwicklung, Umgang mit Nicht-Planbarem, Bildungssysteme vs. nicht-formale Bildungswege und 'Fehler machen schlauer.’

2 Kommentare zu „Agile Sommerhäppchen (1/x) – Von fiesen Fragen zu tragendem Trampolin“

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