Stärker als die Angst: Bewältigungsstrategien für Veränderungen und Verlust im Arbeitskontext

„Hilfe, es verändert sich alles!“ – Wie der Abschied von Bewährtem in Veränderungsprozessen leichter wird. Mit Praxisbeispiel.

Jede Veränderung in Organisationen bedeutet auch einen Verlust, ein Abschiednehmen von Vertrautem. Auch wenn wir es uns im beruflichen Kontext kaum eingestehen wollen: Wo Verlust ist, findet sich Trauer. Ich verstehe Trauer als eine natürliche Reaktion.

Quelle: per KI-Bildgenerator erstellt

Veränderungen und Trauer: Eine unterdrückte Herausforderung im Berufsleben?

Der Verlust von Vorbildern, vom Systemverständnis, von Glaubwürdigkeit des einst Gewussten, des eigenen Selbstverständnisses, von Prozessen, von Kollegen und Vertrautem und so weiter.

Wo Trauer ist, sind Ängste nicht weit: Verlustangst, Versagensängste, Angst vor Enttäuschung. Die Optionen, wie Menschen in Momenten der Trauer und Angst reagieren, sind vielfältig.

Wut, Ohnmacht, Starre – es gibt viele Facetten. Alle Reaktionen dienen dazu, so schräg es auch klingen mag, überlebenswichtige Funktionen aufrechtzuerhalten:

  • Soziale Beziehungen aufrecht erhalten
  • Emotionales Gleichgewicht bewahren
  • Negative Einflüsse regulieren oder vermeiden
  • Perspektiven für Erholung sehen

„Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, die anderen bauen Windmühlen.“

(Chinesische Weisheit)

Der Umgang mit Verlust und Angst in Organisationen

Veränderungen fallen uns oft schwer. Für eine kurze Zeit des Übergangs bewegen wir uns in einem Schwellenzustand zwischen Altem und Neuem, obwohl wir eigentlich nach Sicherheit und Stabilität streben. Die Angst vor dem Unbekannten und die fehlende Weitsicht erschweren und belasten zusätzlich den Veränderungsprozess. Doch was bringt uns aus unserer Komfortzone heraus? Schmerz oder Gewinn sind die entscheidenden Faktoren, die Menschen zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung bewegen.
Wenn Sie üble Kopfschmerzen haben, werden Sie sich einiges einfallen lassen, um sie loszuwerden. Das Gleiche gilt, wenn Sie für eine Idee brennen, die Ihr Leben zu verbessern verspricht.

Ich lade Sie ein, über folgende Fragen nachzudenken:

  • Wer verliert oder gewinnt, wenn die Veränderung kommt?
  • Wer, wenn die Veränderung nicht kommt?
  • Was brauche ich, um die Veränderung (mit)tragen zu können?
  • Was soll bleiben?
  • Wovon kann ich leicht Abschied nehmen?

Vor kurzem hatte ich ein interessantes Gespräch mit einer Kollegin kurz vor dem Rentenalter.
Anfang der 90er Jahre verlor sie ihren Arbeitsplatz in der ehemaligen DDR. Sie war Mitte 30 und hatte 3 kleine Kinder. Ihre bisherige Karriere wurde offiziell infrage gestellt. Mit viel bürokratischem Aufwand sollte sie nachweisen, welchen Wert ihre beruflichen Abschlüsse und Berufserfahrungen haben.

In den darauffolgenden Jahren durchlebte sie tiefe Phasen der Depression. Ich fragte sie, was das Schwerste war, das sie in dieser Zeit zu überwinden hatten.

Sie antwortete: „Alles, was ich bis dahin erreicht hatte alles, was ich gelernt, woran ich geglaubt und was ich an meine Kinder weitergegeben hatte, sollte von einem Tag auf den anderen falsch sein.
Diese selben Leute, die mich in Strukturen zwangen, wollten mir nun sagen, dass alles nicht mehr stimmte.“

Ich fragte, was ihr in dieser Zeit geholfen hätte. Sie sagte: „Was fehlte, war die Anerkennung dessen, was erreicht worden war. Nicht alles war schlecht. Einiges davon war es wert, bewahrt zu werden, und sei es in der Erinnerung. Das hätte mir geholfen.“

Rituale und Wertschätzung: Schlüssel zur erfolgreichen Veränderungsarbeit

Rituale, Gedenkfeiern: Erreichen solche Inszenierungen nicht genau das? Sich an das zu erinnern und zu schätzen, was uns wichtig war und ist?

  • Wir nehmen mit, was uns antreibt (Werte, Prinzipien, Ressourcen).
  • Wir lassen zurück, was uns belastet (z. B. alte Gewohnheiten).
  • Wir würdigen, was uns im Kern wichtig ist/war.
  • Wir erkennen an, was wir vermissen, um uns zu verabschieden.

Diese Anerkennung, diese Wertschätzung, könnte ein entscheidendes Element in der Veränderungsarbeit sein. Entscheidend ist hier die Grundintention, die vermittelt werden soll.

„Ich sehe Dich“

Vieles kann in diesen kleinen Satz vermittelt werden.
Ich sehe DICH als Individuum, als Teil MEINES Systems, als Teil des Systems, in dem WIR sind. Ich erkenne DICH an.
Was für ein wunderbarer Gedanke, dass eine kleine Botschaft so viel bewirken kann. Und es kostet nichts!

Die Ausgestaltung und Formulierung dieses Ereignisses oder Meeting kann an den organisationseigenem Stil angepasst werden. Direkt ausgesprochen, könnten sie im beruflichen Kontexten irritierend und grenzüberschreitend wirken. In welchen Bereichen im täglichen Berufsalltag kann der Raum für Abschied und Trauer eine Rolle spielen?

Hier einige Beispiele:

  • Ein Kollege verlässt das Unternehmen
  • Ein Projekt wird beendet
  • Prozesse verändern sich grundlegend
  • Eine neue Software wird eingesetzt, die eine grundlegende Einarbeitung nötig macht
Wie kann ein ritualisierter Abschied aussehen? Ein Praxisbeispiel

Ein Beispiel aus meiner Praxis:
Eine Kollegin hat sich für eine berufliche Neuausrichtung entschieden. Ihr Austritt hat innerhalb des Teams ziemlich viel Wind aufgewirbelt. Als geschätzter Teil des Teams kamen viele Fragen und Sorgen auf, die meistens in der Kaffeeküche besprochen wurden.

Um diesen Sorgen einen Raum zu geben und der Kollegin einen würdigen Abschied zu ermöglichen, haben wir ein Meeting angesetzt. In diesem Meeting standen folgende Fragen im Mittelpunkt:

Was verbinden Sie mit Sabine? Was hat sie für Sie einzigartig gemacht?
Welchen Schatz (Arbeitsergebnisse, übernommene Gewohnheiten …) lässt sie da?
Welchen Fähigkeiten und Kompetenzen möchten Sie in Ihre Arbeit einfließen lassen?
Die Kollegin wurde parallel eingeladen, folgende Fragen zu reflektieren:

  • Was möchten Sie dem Team mitgeben?
  • Welche Ressourcen haben Sie besonders an Ihren Kollegen geschätzt?
  • Wofür sind Sie dankbar?
  • Was wurde ermöglicht?

Sowohl das Team als auch Sabine haben Wertschätzung und Anerkennung empfangen. Dinge, die bis dahin selbstverständlich waren, wurden im Angesesicht des Abschieds präsenter. Die helfende Hand, das offene Ohr in schwierigen Situationen. Die perfektionistische Ader, die im Alltag auch mal nervig sein konnte, wurde in diesem Moment aus einer versöhnlichen Perspektive betrachtet.

Gleichzeitig stimmten die Fragen auf die Zukunft ein. Die entstehende Lücke im Team wurde kleiner: die Schätze, die sie hinterlässt, werden bleiben. Das Team wurde sich bewusster, über Dinge, die sie selbst tun können.

Die Integration des Vergangenen in die neue Teamsituation machte es den Teammitgliedern leichter, das Ausscheiden der Kollegin zu akzeptieren. Der Fokus auf die eigentliche Arbeit konnte schnell wieder hergestellt werden. Eine tolle Erfahrung für das Team und auch für mich in der Rolle als Prozessbegleiter.

Einladung zur „Agile Mittagspause‘: Netzwerken und Wachstum im digitalen Zeitalter

Sie sind auf der Suche nach Wegbegleiter:innen, frischen Wissens-Impulsen von Expert:innen und Erfahrungsaustausch mit anderen Organisationen?

In unserer „Agilen Mittagspause“ bieten wir regelmäßig spannende Themen an.
In interaktiven Formaten haben Sie Gelegenheit:

  • Impulse für Ihren Arbeitsalltag mitzunehmen
  • sich aktiv einzubringen
  • in den Austausch mit anderen Branchen zu kommen
  • neue Perspektiven und Blickwinkel kennenzulernen

jeweils Mittwochs

Zeitraum: 12:15 Uhr bis – 13:15 Uhr via Zoom.

Hier kostenfrei buchbar über Eventbrite.

Über die Autorin

Maria Kühn, systemische Organisationsentwicklerin

Systemische Organisationsentwicklerin mit systemisch agilen Kontexten Common Sense Team GmbH
Blogautorin & Speakerin

Haben Sie Fragen, Ideen oder Themen rund um Agilität und Organisationsentwicklung?
Vernetzen Sie sich gerne via LinkedIn.

Mitarbeiter in hierarchiefreien Organisationen: Verantwortung übernehmen und eigene Entscheidungen treffen

Entdecken Sie die Geheimnisse einer hierarchiefreien Organisation! In diesem Blogbeitrag erfahren Sie, wie klare Prinzipien mehr bewirken, warum Handbücher meist überflüssig sind und welche Fähigkeiten Mitarbeiter:innen und Führungskräfte mitbringen sollten. Lassen Sie sich inspirieren und erfahren Sie mehr über Selbstorganisation, Soziokratie und Verantwortungsbewusstsein.

Im zweiten Teil unseres Interviews sprechen wir über die Voraussetzungen und Erfolgsfaktoren einer hierarchiefreien Organisation. Lesen Sie, warum klare Prinzipien mehr bewirken und Handbücher meistens überflüssig sind.

Ersten Teil verpasst? Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.

Weiterlesen „Mitarbeiter in hierarchiefreien Organisationen: Verantwortung übernehmen und eigene Entscheidungen treffen“

Aus der agilen Methodenkiste | Selbstorganisierte Besprechungen mit der „Solution Driven Method of Interaction“ (SDMI)

Über das niederländische Pflegeunternehmen buurtz.org habe ich einen spannenden Ansatz für selbstorganisierte Besprechungen kennengelernt: „Solution Driven Method of Interaction“ (SDMI). Die Methode ist ergebnisorientiert und vor allem verhaltensbezogen. Und sie ist einfach umzusetzen.

Photo by fauxels on Pexels.com

Grundstruktur

Jede Besprechung folgt nach dieser Methode der gleichen Grundstruktur:

  1. Diskussion und Abnahme des Ergebnisprotokolls aus dem vorangegangenen Meeting
  2. (vorab angemeldete) Mitteilungen
  3. Weitere Informationen/Themen

Erstellung der Tagesordnung

Zu Beginn der Besprechung wird eine vorläufige Tagesordnung erstellt. Diese enthält die Punkte, die vor der Sitzung beim Moderator eingereicht wurden. Das Hinzufügen neuer Elemente während des Meetings ist möglich, jedoch nur, wenn es die Zeit (Timebox) erlaubt.

Es gilt: Jeder darf Tagesordnungspunkte (TOP) einreichen. Das Teammitglied, das den Tagesordnungspunkt einreicht, ist der „TOP-Eigentümer*in“ und definiert die Dauer des Tagesordnungspunktes (Timebox). Die Tagesordnungspunkte werden – wenn möglich – als Fragen formuliert.

Der/die Moderator:in erstellt vor Ort mit allen Sitzungsteilnehmenden eine endgültige Liste der Tagesordnungspunkte. Die Moderation entscheidet nicht über die Tagesordnung, sondern die Gruppe. Er listet alle Tagesordnungspunkte für alle sichtbar auf. Kommt es während der Besprechung zu einer Diskussion, werden die Besprechungsteilnehmenden gefragt, ob ein zusätzlicher Tagesordnungspunkt aufgenommen werden soll. Und entsprechend ergänzt (sofern die verfügbare Zeit dies zulässt).

Grundregeln für den Ablauf

Der/die TOP-Eigentümer*in stellt die Frage oder den Vorschlag vor, die/den er/sie ansprechen möchte, und begründet, warum das Thema für die Sitzung relevant ist. Der Zweck der Besprechung wird ebenfalls genannt. Drei Optionen sind üblich: Information, Einholen von Rat, Herbeiführen einer Entscheidung.

Die Themen werden innerhalb des vorgeschlagenen Zeitfensters (Timebox) behandelt, wobei die TOP-Eigentümer jeweils für die Einhaltung des Zeitfensters verantwortlich sind. Entscheidungen werden wenn möglich sofort getroffen. Kommt kein Konsens zustande, bleibt der ursprüngliche Status erhalten. Wird ein Konsens erzielt, werden die nächsten Schritte durch die Beantwortung zweier Fragen festgelegt: Wann wird die Entscheidung umgesetzt? Und wer führt sie aus?

Ist der jeweilige Punkt abgeschlossen, geht das Team zum nächsten Tagesordnungspunkt über. Das Verfahren wiederholt sich.

Zeichnet sich eine umfangreichere Diskussion ab, die über das eigentliche Thema hinausgeht, fragt die Moderation, ob ein weiterer Tagesordnungspunkt aufgenommen werden soll.

Für Diskussion werden folgende Leitfragen vorgeschlagen:

  1. Wer hat einen Vorschlag?
  2. Was sind die Vor- und Nachteile?
  3. Was sind die Konsequenzen?
  4. Wer ist für und wer dagegen und weshalb?
  5. Irgendwelche neuen oder anderen Vorschläge?
  6. Irgendwelche neuen oder anderen Argumente

Was tun, wenn die Besprechung nicht rund läuft?

In den Fällen, in denen die Diskussion aus dem Rahmen fällt, haben sich einige einfache Praxistipps bewährt, bei denen die Moderation die Teilnehmer einbezieht:

  • Wenn sich die Beiträge zu wiederholen scheinen: „Hast Du/haben Sie andere oder neue Informationen?“
  • Wenn Besprechungen sich zu sehr zieht: „Wie ist die Beziehung zu dem Thema, über das wir diskutieren?“
  • Wenn es chaotisch wird: ein Teammitglied zu benennen, warten bis diese Person Aufmerksamkeit erhält und fragen: „Was denkst du?“

Unser Tipp

Für die Visualisierung der Tagesordnung ist ein „Personal Kanban“ eine gute Unterstützung. Ebenso hilft die Visualisierung der Timebox mit einem gut sichtbaren Timer. Hilfreich ist es auch, wenn die Themensammlung im Vorfeld für alle Teilnehmer einsehbar ist.

Die Methode braucht gerade zu Beginn etwas mehr Unterstützung in der Umsetzung, da sie für viele zunächst ungewohnt ist. Wenn sie sich im Team eingespielt hat, führt sie zu einer Qualitätssteigerung der Besprechungen, da die Teilnehmenden konzentrierter bei der Sache sind.

Quelle

Astrid Vermeer/Ben Wenting – Selbstorganisierte Teams in der Praxis, Houten 2018, S. 78 ff.

Den Verbesserungsmuskel der Organisation trainieren

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Jede Organisation hat einen Verbesserungsmuskel. Wie jeder andere Muskel muss der Verbesserungsmuskel regelmäßig trainiert werden, damit er nicht verkümmert. Wenn in einer Organisation der Verbesserungsmuskel regelmäßig trainiert wird, dann ist das Weiterentwickeln und Reflektieren in der Organisation fester Bestandteil des Arbeitsalltags. Damit meine ich, dass auf allen Ebenen einer Organisation das permanente Reflektieren, Weiterentwickeln der Abläufe und Prozesse und der Zusammenarbeit aller Akteure ganz selbstverständlicher Teil des alltäglichen Handelns ist. Das Bewusstsein und alle Sinne sind geschärft, immer auf der Suche nach Möglichkeiten, die Dinge besser Gelingen zu lassen. Kaizen – als die Philosophie des permanenten Lernens und Weiterentwickelns – ist für mich daher selbstverständlicher Teil der agilen Organisationskultur – auch und gerade in der öffentlichen Verwaltung.

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Verbesserungspoteniale finden, Unnötiges weglassen

Wenn ich so manche Retrospektive im Team oder mit Anspruchsgruppen Revue passieren lassen, fällt mir eines wiederholt auf. Wir sind uns zwar immer alle einig, dass eine regelmäßige Retro sinnvoll ist. Wir wollen besser werden. Aber tun uns erstaunlich oft schwer damit, Verbesserungspotenziale zu identifizieren. Wir sehen anhand der Velocity, Durchlaufzeiten o. ä. Metriken sehr gut und transparent, ob unsere Experimente erfolgreich sind. Aber wo wir als nächsten Ansätzen können, da tun wir uns dann doch oft schwerer als gedacht.

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Standards, Standardisierung und Agilität – ein Widerspruch?

Sogenanntes Shadowboard als Beispiel für einen „Standard“ der uns die Arbeit erleichtert.
Quelle: Wikimedia, Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International

Ich weiß, im agilen Umfeld hört man das Wort „Standard“ und Prozess ungern. Standard klingt nach Gängelung fehlender Anpassungsfähigkeit. Zu Unrecht, wie ich finde. Standards sind per se nichts Schlechtes. Ganz im Gegenteil. Jedes agile Managementrahmenwerk wie Scrum oder Kanban setzt Standards. Und zwar bewusst. Und diese Standards in Form von Dailys, Retrospektive, Review, Sprintlänge basieren auf empirischen Beobachtungen.

Wikipedia definiert den Begriff wie folgt:

Ein Standard ist eine vergleichsweise einheitliche oder vereinheitlichte, weithin anerkannte und meist angewandte (oder zumindest angestrebte) Art und Weise, etwas zu beschreiben, herzustellen oder durchzuführen, die sich gegenüber anderen Arten und Weisen durchgesetzt hat oder zumindest als Richtschnur gilt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Standard, aufgerufen am 22.02.2022

Warum haben Standards einen solch schlechten Ruf? Ich denke, dass dies unter anderem darauf zurückzuführen ist, dass wir häufig mit „schlechten“ Standards zu kämpfen haben. Schlechte Standards und Prozesse unterliegen dem Denkfehler, man müsse den Mensch als Ausführenden standardisieren. Schlechte Standards behandeln daher Menschen wie Dinge. Gute Standards sehen im Gegensatz dazu den Menschen als das ausführende und bestimmende Element.

Die Standardisierung unterstützt den Menschen dabei, indem sie die Gründe für das Gelingen absichern. Gute Standardisierung soll sicherstellen, dass wir die Dinge, wir brauchen, um unsere Arbeit leisten zu können, schnell und einfach wiederfinden. Sie wirkt entlastend. Genau dann, wenn wir sie brauchen. Es geht um das Absichern der Gelingensbedingungen. /Anmerkung 1/

Wir können Sachen/Dinge standardisieren, aber nicht den Menschen. Er ist derjenige, der bestimmt, wie die Dinge passieren und was die Dinge tun. Der Mensch gestaltet, die Dinge helfen ihm dabei. Gelegentlich kommt es mir vor, dass wir dazu neigen (in Europa/USA), den Menschen im Prozess bestimmen zu wollen, statt uns auf die Rahmenbedingungen und Hilfsmittel zu fokussieren. Vielleicht resultieren hieraus die Auswüchse einer fast krankhaften Effizienzfixierung, wie sie Gunter Dueck 2020 in einem Buch beschrieben hat. /Anmerkung 2/ Ein guter Standard ist daher ein Referenzpunkt, der Reflexion erlaubt und Lernen erlaubt. Er ist nicht in Stein gemeißelt (wie es häufig leider verstanden wird), sondern wird beständig an neue Erkenntnisse aus der Reflexion angepasst, um die Bedingungen des Gelingens zu sichern.

Standards erzeugen daher auch Verbindlichkeit. Wir können uns darauf verlassen, dass das Daily immer zu gleichen Zeit am gleichen Ort stattfindet. Und wir können uns darauf verlassen, dass alle Teammitglieder zum Daily erscheinen. Wir wissen, dass eine Iteration eine einheitliche Länge hat und können verlässlich planen. Wir wissen, dass wir am Ende jeder Iteration ein fertiges Teilprodukt liefern, für das wir Feedback bei unseren Anspruchsgruppen einholen können.

Gute Standards liefern uns einen Referenzpunkt. Eine Vergleichsmöglichkeit, mit der wir die Realität abgleichen können. Sie ermöglichen uns das Lernen als Team und Organisation. Sie sind nicht für alle Zeit in Stein gemeißelt und definiert, sondern sie passen sich an. Sie passen sich an die Menschen an, die mit diesen Arbeiten, weil sie dazu da sind, die Menschen zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, die Gelingensgründen zu sichern. Wenn der Standard nicht mit unserer beobachtbaren Realität übereinstimmt und nicht dazu beiträgt, dass uns unsere Arbeit gelingt, dann passen wir den Standard an unsere Erkenntnisse an. Damit wir dies auch tun können, brauchen wir regelmäßige Reflexionsschleifen und machen unsere Standards – auch die Impliziten – explizit, sodass wir in der Lage sind, diese immer wieder zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Auf Basis unserer Erkenntnisse über die Gründe für das Gelingen. Ich hatte bereits Scrum als Beispiel zu Beginn erwähnt, hier gibt es am Ende jeder Iteration die Rückkopplungsschleife in Form eines Review und der Retrospektive.

Der Scrumleitfaden wurde von Beginn an von der Gemeinschaft der Anwender beständig weiterentwickelt und an die neuen Erkenntnisse für die Gelingensbedingungen angepasst. /Anmerkung 3/ Der Standard passt sich an die Bedürfnisse der Anwender an. Nicht umgekehrt. Und das Erstaunliche dabei ist, dass der Standard in all den Jahren nicht „aufgebläht“ wurde, sondern – auch dies gehört zu einem guten Standard dazu – immer auf das Wesentliche fokussiert geblieben ist. Vergleichbar mit Kanban, dass mit einen evolutionären, sich beständig weiterentwickelnden Ansatz verfolgt, bei dem die regelmäßige Reflexion der Standards Teil des Verständnisses ist. /Anmerkung 3/

Das Geheimnis, das eigentlich keins ist, liegt darin, die Frage aufzuwerfen, was wollen wir erreichen? Und danach erst die Frage aufzuwerfen, wie wir möglichst einfach genau dieses Ziel erreichen. Was brauchen wir wirklich, um das Ziel zu erreichen? Was brauchen wir nicht? Was trägt wirklich zu Gelingen unseres Tuns bei und was nicht.

Wenn wir die Erkenntnis in unseren Alltag – auch jenseits von Scrum und seinen Anwendungsfeldern – integrieren wollen, bedeutet dies, unsere Prozesse und Standards aus Sicht dessen zu betrachten, was wir als Ergebnis erreichen wollen und was wir als die Ausführenden und Gestaltenden dafür brauchen, um dieses Ergebnis zu erzielen. Was davon trägt dazu bei? Was können wir weglassen? Und genau die Dinge zu identifizieren, die dazu beitragen, dass wir brauchen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Diese sichern wir dann als Standard ab und stellen unseren Standard regelmäßig auf den Prüfstand beispielsweise mit einer Verbesserungsiteration (im Sinne der Verbesserungskata) 😉.

Anmerkungen

/1/ Mari Furukawa-Caspary: Lean auf gut Deutsch, Band 1 und 2, Books on Demand, 2015

/2/ Gunter Dueck: Heute schon einen Prozess optimiert?, Campus 2020

/3/ Mike Burrows – Kanban – Verstehen, einführen, anwenden, D-Punkt Verlag, 2015


Aus der agilen Methodenkiste: Ganz im Gegenteil – Denken in Alternativen

Entweder – oder…? So manches Mal fallen Entscheidungen schwer. Keine der Varianten scheint die richtige zu sein. Wie wir in Dilemma-Situationen – auch paradoxe – Alternativen finden können und bessere Entscheidungen treffen, davon handelt dieser Beitrag.

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Nordstern – mehr als eine Vision: Wie wir den Kurs für unsere täglichen Verbesserungen bestimmen

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Ich habe mich in meinen letzten Blogartikeln für das Forum Agile Verwaltung mehrfach mit dem Thema Kaizen und Verbesserung auseinandergesetzt. Daran möchte ich auch heute wieder anknüpfen und dabei ein Teilelement in den Fokus stellen, das wir brauchen, um unseren Bemühungen eine Richtung zu geben. Eine Navigationshilfe, die es uns ermöglicht, den „Kurs“ zu bestimmen: den Nordstern als Teil der Verbesserungskata. Und wieder bediene ich mich beim berühmten japanischen Automobilkonzern Toyota.

Eigentlich ist es einfach. Der Nordstern, auch True North Star genannt, ist eine Vision. Ein Zukunftsbild, das uns als Referenzpunkt dient. Anders als die meisten Zukunftsbilder in Form von Visionen beschreibt der Nordstern keinen Zielzustand, sondern ist eine zeitlose und prozessuale Beschreibung. Ein Zielbild, das – wie der Nordstern – immer fest am Horizont zu finden ist und wie der Nordstern am Horizont dabei hilft, zu bestimmen, ob wir uns auf dem „richtigen Kurs“ befinden. Das Bild der Verbesserungskata verdeutlicht es besser. Mit dem „Zielzustand“, den wir als Teil der Verbesserung definieren, tasten wir uns näher an den „Nordstern“ heran. Der Nordstern hilft uns dabei, einzuordnen, ob das Teilziel in Form des nächsten Zielzustands tatsächlich in die richtige Richtung führt, bzw. im Nachgang bei der Reflexion, ob wir uns der Vision unserer Organisation nähern und was wir als nächsten Zielzustand „anpeilen“ sollten. Der Blogger Tim McMahon (Quelle: http://www.aleanjourney.com/2014/01/what-do-we-mean-by-true-north.html, abgerufen am 29.11.2021) beschreibt den Nordstern als Vision, die beschreibt, was wir tun sollen, und nicht, was wir tun können. Er wird als Ideal oder den Zustand der Perfektion zu bezeichnet, den Organisationen kontinuierlich anstreben sollten. Der Nordstern hilft uns dabei, in der Praxis der täglichen Verbesserung und Weiterentwicklung in der Organisation durch alle ihre Mitarbeiter die Richtung bestimmen zu können.

Verbesserungskata

Der Nordstern beschreibt also selbst keinen Zielzustand, kein Ziel, das wir irgendwann erreichen im Sinne eines konkreten Ergebnisziels. Er ist eine idealtypische Beschreibung, wie Prozesse in einer Organisation gestaltet werden sollen, und lenkt den Fokus auf das Verhalten der handelnden Personen in der Organisation. Er ist eine prozessuale Vision mit einer idealen Ausrichtung. Ganz bewusst sogar kompromisslos und wohlwissend, dass das Erreichen des Nordsterns in der Praxis unmöglich ist. Der Nordstern selbst gibt ausschließlich eine Richtung vor, definiert aber in keiner Weise, wie sie erreicht werden soll. Er lässt die Methode offen. Ich glaube, dass dies einer der vielen Punkte ist, die bei der Adaption der Ideen von Toyota als „Lean Management“ leider übersehen wurden. Die Methoden sind Werkzeuge, nicht der Zweck. Der Zweck selbst steckt im Nordstern oder besser darin, die Dinge zu tun, die eine Organisation näher an den Nordstern heranführen. Und hierfür entsprechende Experimente zu wagen.

Schaut man sich den oder besser die Nordsterne von Toyota näher an, fallen einem 4 Schlüsselelemente ins Auge (Quelle: Mike Rohter, Die Kata des Weltmarkführers, Campus 2013: 61)

  1. Null-Fehler
  2. 100 Prozent Wertschöpfung
  3. One-Piece-Flow, in Abfolge, nur auf Kundenanforderung
  4. Sicherheit für Menschen

Darin verbirgt sich

  • die Verpflichtung aller Mitarbeiter, die Prozesse und die Organisation kontinuierlich zu verbessern (Kaizen)
  • die Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit zu sichern und zu festigen
  • vermeidbare „Verschwendung“ im Sinne der Kaizen-Philosophie zu minimieren
  • und eine maximale Wertschöpfung zu erzeugen

An keiner Stelle ist von Gewinnmaximierung die Rede. Für ein Unternehmen der Größe von Toyota finde ich es überraschend. Und wenn man genau hinschaut, nichts, was wir nicht auch für die öffentliche Verwaltung wünschen würden. Ganz im Gegenteil.

Ein Nordstern für die öffentliche Verwaltung könnte also in der Tat lauten,

  1. dass wir als öffentliche Verwaltung unser Handeln vollständig daran bemessen, dass wir täglich und ständig unsere Prozesse weiterentwickeln und verbessern
  2. dabei unseren Erfolg daran bemessen, dass wir Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit verbessern
  3. alle Handlungen unterlassen, die nicht zu 2) beitragen und
  4. die nicht „wertschöpfen“, also unnötig sind und keinen Beitrag zur Erreichung der definieren Zielzustände beitragen

Damit haben wir schon einen Bewertungsmaßstab gesetzt, mit dem wir jeden unserer Abläufe und Prozesse analysieren können. Was von dem, was wir täglich tun, zahlt auf die die genannten vier Punkte ein? Wenn wir Verbesserungsmaßnahmen definieren, führen diese wirklich zu mehr Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit? Was können wir weglassen, ohne unser Ziel zu erreichen? Letzteres passt perfekt zu meinem agilen Lieblingsprinzip:

„Einfachheit – die Kunst, die Menge nicht getaner Arbeit zu maximieren – ist essenziell.“ (Quelle: https://agilemanifesto.org/iso/de/principles.html, abgerufen am 29.11.2021)

Und das Schöne ist: ein Nordstern besteht nur aus wenigen Zeilen, die wirklich Jeder und Jede jederzeit im Kopf haben kann. Was nicht für alle „Verwaltungsleitbilder“ gilt, die ich Laufe meines Berufslebens gesehen habe. Diese waren und sind oft sehr spezifisch, befristet gültig und so spezifisch formuliert, dass sie für die alltägliche Arbeit wenig brauchbar sind.

Klar, eine Vision allein bringt uns nicht weiter. Wir müssen sie auch mit Leben füllen. Dazu braucht es mehr als nur eine Vision, und auch die Verbesserungs- und Coaching-Kata allein wird uns nicht dabei helfen, den Nordstern mit Leben zu füllen. Es braucht etwas mehr. Aber immerhin haben wir uns jetzt einen Referenzpunkt geschaffen, an dem wir unser Tun und Handel in der Organisation auf allen Ebenen ausrichten können. Sehr gut vorstellen kann ich mir auch die Idee der Verbesserungs-Kata, den Nordstern mit Objektives und Key Results für die „Zielzustände“ zu untermauern. Aber so schlau war man auch schon bei Toyota und nutzt dort bereits etwas Ähnliches: Hoshin Kanri, ein iterativ-inkrementelles Zielsystem 😉

Brutkasten der Hoffnung – In fünf Schritten zum gelingenden Experiment

Titelbild: Jackie Ramirez, pixabay

Im Zusammenhang mit agilen Vorgehensweisen werden Experimente als eine Möglichkeit beschrieben, Ideen zu testen. Bei dem Wort „Experiment machen“ klingeln in Verwaltungen allerdings die Alarmglocken. Für viele gehören Experimente in Labore oder wenigstens in ein Innovation Lab, aber nicht in den Verwaltungsalltag. Möglicherweise liegt das an falschen Vorstellungen vom richtigen Ausprobieren. Wie Experimente nicht nur Gedanken bleiben, sondern tatsächlich gelingen und welche Nebeneffekte sie bringen, das erwartet Dich in diesem Beitrag.

Weiterlesen „Brutkasten der Hoffnung – In fünf Schritten zum gelingenden Experiment“

Agilität am Scheideweg: Um den gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen unsere agilen Methoden besser werden

Anlass dieses Beitrags ist eine Frage, die vor einigen Jahren von Richard Nelson aufgeworfen worden war:

“Warum bringen es Gesellschaften, die innovative Großtaten wie die erste Mondlandung realisierten, nicht zustande, gesellschaftliche Herausforderungen wie die Existenz von Slums oder das Analphabetentum zu besiegen oder auch nur organisiert anzugehen?” /Anmerkung 1/

Daraus folgen für mich zwei Fragen für unsere heutige Situation:

  1. Sind die vor uns liegenden großen Herausforderungen – Klimawandel, Pandemie, Digitalisierung, autoritärer Populismus – eher von der Art „Mondlandung“ oder von der Art „Slums und Analphabetentum“? Also können wir sie voraussichtlich ohne fundamentalen gesellschaftlichen Wandel bewältigen oder laufen sie wohl oder übel auf tiefgreifende Änderungen in unserer gesamten Lebensweise hinaus?
  2. Einmal angenommen, diese Änderungen wären vom zweiten Typ: Sind unsere agilen Methoden ausreichend, um diese gesellschaftlichen Änderungen so zu moderieren, dass wir nicht ins Chaos gleiten, die Änderungen also nicht „disruptiv“ werden?
Weiterlesen „Agilität am Scheideweg: Um den gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen unsere agilen Methoden besser werden“