Agile Arbeitswelten im Wandel: Zukunft oder Auslaufmodell? Ein Tagungsrückblick
Ein Beitrag von Carolin Hirsch und Ursula Brummack
Am 18. November 2025 versammelten sich im Atrium des geschichtsträchtigen O-Werks in Bochum zahlreiche Wissenschaftler:innen, Expert:innen, Praktiker:innen sowie Interessierte aus Industrie- und Sozialunternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräten, um das Tagungsthema: „Agile Arbeitswelten im Wandel: Zukunft oder Auslaufmodell?“ zu diskutieren.
Die Tagung bot eine Plattform für intensiven Austausch und kritische Reflexion über das Konzept Agilität, über die Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis und darüber, wie agile Arbeitsorganisation für die nachhaltige Gestaltung der Erwerbsarbeit in verschiedensten Branchen fruchtbar gemacht werden kann.
Der Tagungsort als Symbol für Resilienz und Zukunftsfähigkeit
Die Wahl des Veranstaltungsortes unterstreicht symbolisch den Gedanken unsers Tagungsthemas. Das Gelände, auf dem wir uns zusammengefunden haben, ist das stillgelegte Opel-Werksgelände. Seine Geschichte ist tief in der industriellen Vergangenheit Deutschlands verwurzelt. Zunächst eine Zeche, ein Ort der Urproduktion, wurde es in den 1960er Jahren zu einem Ort der Ingenieurskunst und Automobilindustrie umgewidmet.
Seit der Schließung des Opel-Standorts 2014 wird das Gelände schrittweise neu entwickelt, es siedeln sich Technologie- und viele weitere Unternehmen des Dienstleistungssektors an. Und insbesondere das letzte erhaltene Opel-Verwaltungsgebäude, heute der O-Werk Campus, bietet Raum für Unternehmen der Wissensgesellschaft: Start-Ups, Teile der Ruhr-Universität Bochum und Zusammenkünfte wie die unsrige.
Diese Entwicklung zeigt, wie ein Ort sich neu erfinden kann, indem Altes nicht negiert, sondern transformiert wird. Das O-Werk symbolisiert die Fähigkeit, sich von starren, überkommenen Strukturen zu lösen und sich flexibel an neue Gegebenheiten anzupassen. Sein Atrium bot uns nicht nur einen geschützten Raum für unseren Austausch, sondern lieferte auch die perfekte, greifbare Metapher für die zentralen Themen der Tagung: Resilienz, Wandel und die Bemühungen von Arbeitnehmer:innen, Betriebsrät:innen und Gewerkschafter:innen um die nachhaltige Gestaltung der zukünftigen Erwerbsarbeit.
Leistungssteuerung und Vergütung agiler Arbeit
Organisiert wurde die Tagung von der Hans-Böckler-Stiftung, dem Helex Institut, der Input gGmbH und der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten. Diese vier Institutionen waren über Forschung und Förderung zusammengekommen: Das Forschungsprojekt des Helex Instituts „VerA. Vergütung von Agilität: Entgeltsysteme zwischen Stabilität und Dynamik“ und das Projekt des Forschungsverbundes von Input und der Hochschule Kempten „Leistungssteuerung Agiler Arbeit: Funktionsweise und Gestaltungsansätze“ werden jeweils von der Hans-Böckler-Stiftung finanziert.
Beide Projekte wurden von Dr. Stefan Lücking betreut, der die Tagung offiziell eröffnete. Inhaltlich startete sie mit der Vorstellung der beiden Projekte.
Gestaltung von Vergütungssystemen
Dr. Claudia Niewerth als Leiterin des VerA-Projektes stellte den Ansatz, die empirische Basis und die Erkenntnisse nach zwei Jahren Projektlaufzeit vor. Ausgang war die Fragestellung, inwiefern Agilität die Gestaltung von Vergütungssystemen beeinflusst und welche Herausforderungen sich dabei ergeben
Die Projektergebnisse zeigen, dass der Grad der Agilität stark kontextabhängig ist und sich oft nur „agile Inseln“ in Organisationen etablieren. Das Projekt kommt zu dem Schluss, dass die Zukunft der Entgeltgestaltung sich nicht mit der Vergütung von Agilität, sondern mit der Suche nach Regelungen für eine agile Vergütung beschäftigen muss.
Leistungssteuerung
Das Leistungssteuerungs-Projekt wurde von Markus Hoppe und Carolin Hirsch vorgestellt. Das Projekt mit insgesamt drei Jahren Laufzeit befasst sich mit Aspekten der Leistungssteuerung in agilen Arbeitskontexten. Zur Leistungssteuerung gehören die vier Eckpunkte Entgelt, Arbeitszeit, Belastung sowie die Einbindung agil Arbeitender.
Die Forschung ergab, dass agile Arbeit zu einer transparenteren, selbstorganisierten Arbeitszeitgestaltung beitragen kann, aber auch Belastungen mit sich bringt, insbesondere, wenn Arbeitnehmer:innen von Seiten des Unternehmens nicht ausreichend Räume zur Wissensaneignung und Umsetzung bereitgestellt bekommen.
Keynotes: Impulse aus Praxis und Wissenschaft
Die nachfolgenden Keynotes boten sowohl praktische Einblicke als auch wissenschaftliche Perspektiven auf agile Arbeitswelten.
Felix Veerkamp (IG Metall) und Leon Schmitz (Betriebsrat CARIAD)
teilten ihre Erfahrungen aus der Praxis. Veerkamp beleuchtete die Bewertung von Arbeit und nutzte dabei die Scrum-Metapher aus dem Rugby, um die Dynamik agiler Prozesse zu veranschaulichen. Schmitz gab Einblicke in die agile Arbeit im Volkswagen-Konzern, insbesondere bei CARIAD, und sprach über die Herausforderungen bei der Aushandlung von Entgeltsystemen und der Einordnung agiler Rollen. Dabei wurde deutlich, dass Kompetenzbreite weniger vorteilhaft für die Entlohnung ist als Kompetenztiefe.
Prof. Dr. Sabine Pfeiffer (FAU Erlangen-Nürnberg)
lieferte eine kritische wissenschaftliche Perspektive. Sie betonte, dass sich die grundlegenden Anforderungen an Unternehmen seit der industriellen Revolution über die Zeit kaum verändert haben, und kritisierte die Diskrepanz zwischen agiler Theorie und Praxis. Pfeiffer warnte davor, Agilität als reines „Toolwirrwarr“ oder Kommunikationswerkzeug zu missverstehen, da eine schlechte Umsetzung zu Burnout führen kann.
Gleichzeitig hob sie hervor, dass eine „gut gemachte“ Agilität einen Schutzraum für Mitarbeitende schaffen und die Arbeitsqualität verbessern kann. Ihr Fazit: Agilität dient nicht primär der Beschleunigung oder Kostensenkung, sondern der Selbstorganisation und Qualität der Arbeit. Sie betonte auch, wie wichtig es ist, das Konzept der Agilität an sich von Geschäftsmodellen zu Agilität wie Scrum zu unterscheiden.
Workshops und Podiumsdiskussion: Vertiefung und Austausch
Nach den inspirierenden Keynotes boten vier Workshops Raum für vertiefende Diskussionen über spezifische Aspekte agiler Arbeitswelten:
- Vergütung und Entgeltgestaltung in agilen Kontexten, Dr. Claudia Niewerth, Helex Institut
- Betriebliche Mitbestimmung und ihre Herausforderungen, Markus Hoppe, Input Consulting
- Krisenszenarien und Innovationspotential agiler Ansätze, Prof. Dr. Stefan Sauer, Hochschule Kempten
- Arbeitsbelastung und „unternehmerische Sorgearbeit“, Carolin Hirsch, Hochschule Kempten
In konzentriertem Austausch wurden die unterschiedlichen persönlichen Sichtweisen gesammelt und eingeordnet. Die gemeinsamen Ergebnisse jedes Workshops stellten wir im Nachgang in einem Gallery Walk vor.
Abschließendes Highlight war das Agile Podium, moderiert von Prof. Dr. Manfred Wannöffel, das sich mit der Ausrichtung der Praxis beschäftigte und letztlich Wert legte auf die Unterscheidung zwischen „Doing Agile“ (Methoden ausführen) und „Being Agile“ (Agilist:in sein).
Die Fragen an die Teilnehmenden, Prof. Dr. Stefan Sauer, Prof. Dr. Claudia Niewerth, Betriebsratsvorsitzender Leon Schmitz und Bildungsreferent der IG Metall Marcello Sessini, befassten sich mit den Vor- und Nachteilen sowie Herausforderungen bei der Einführung agiler Arbeitsstrukturen in der betrieblichen Praxis. Insbesondere wurden die Koexistenz von herkömmlichen und agilen Organisationsformen, die Aktualität des Themas Agilität (inklusive möglicher Rollbacks), die Chancen und Risiken agiler Arbeit aus Arbeitnehmer:innenperspektive, die Rolle von Betriebsräten und Gewerkschaften bei der Gestaltung von Entgeltsystemen sowie der Trend zur Aushandlung von Haustarifverträgen diskutiert.
Begleitet wurde die Tagung von den Podcastern „Die Wertstoffsammler“ Holger Koschek und Alexander Marquart, die Interviews mit den Keynote-Sprechenden führten und bereits im Vorfeld bei den Interviews tätig geworden waren; nachzuhören hier und hier.
Fazit und Ausblick
Der Geist des O-Werks spiegelte sich in unserer interdisziplinären Runde wider. Agile Arbeitsorganisation erfordert, ebenso wie die ständige Transformation des Veranstaltungsorts, die Bereitschaft zur Anpassung, die Fähigkeit, aus Rückschlägen zu lernen und die Offenheit, neue Wege einzuschlagen.
Zielführend ist sie, wenn sie nicht nur als bloßer Management-Trend verfolgt wird. Angemessen ausgeführt, kann sie als Konzept zur nachhaltigen Gestaltung von Erwerbsarbeit beitragen.
