Rat der Weisen im Stadtschulamt Frankfurt am Main – ein Weg zu mehr organisationalem Wandel?!
Es ist Freitagvormittag. Ich öffne eine E-Mail mit dem Betreff „Einladung zum Rat der Weisen – Stadtschulamt“ und lese einen kurzen Text, was der Rat der Weisen ist und wie Mitarbeitende des Stadtschulamts mitmachen können. Dann erinnere ich mich: 2021 war meine Kollegin ausgelost worden, ausgelost als Weise! Zusammen mit 11 weiteren Menschen aus dem Stadtschulamt wurde ihr die Möglichkeit gegeben, Empfehlungen für das Stadtschulamt zu erarbeiten. Begleitet und unterstützt durch eine externe Prozessmoderation aus dem Bereich des Dynamic Facilitation. An drei aufeinanderfolgenden Arbeitstagen.
Kurzer Blick zurück
Obwohl das bereits zwei Jahre her war -damals wurde der Rat der Weisen ins Stadtschulamt der Stadt Frankfurt eingeführt- hatte ich eine sehr lebendige Erinnerung an die Begeisterung meiner Kollegin im Nachklapp des Formates. Nie zuvor habe sie in einem so vertrauensvollen Rahmen mit ihr zum Teil unbekannten Kolleg:innen so intensiv zusammengearbeitet. Und das über alle Hierarchieebenen. Das Besondere dabei sei, so erzählte sie uns damals, dass im Rat alle den gleichen Status haben. Jede Stimme zählt gleich viel, egal, ob Führungsposition oder Mitarbeitende, egal ob am Hauptstandort tätig oder in Schulverwaltung vor Ort. Das fand sie, selbst Assistentin in unserem Team, doch irgendwie bemerkenswert und außergewöhnlich.
Diese Geschichte -man könnte auch sagen mein Prozess der Auseinandersetzung mit dem Rat der Weisen im Stadtschulamt- endet an dieser Stelle noch nicht. Zunächst einmal möchte ich jedoch beschreiben: was ist das genau, der Rat der Weisen?
Was ist der Rat der Weisen?
Der Begriff „Wisdom Council“ oder „Rat der Weisen“ bezeichnet die Anwendung von Dynamic Facilitation in größeren Systemen, wie zum Beispiel ganzen Organisationen oder Gemeinschaften. Mit dieser Methode können zentrale Herausforderungen und „große Fragen“ bearbeitet werden. Dafür wird das Wissen im System durch die Beteiligung der Mitarbeitenden aktiviert. Dies geschieht auf besondere Art und Weise, die der Erfinder der Methode -der US-Amerikaner Jim Rough- „choice creating“ nennt.
Als Prozess folgt der Rat der Weisen einer klaren Struktur: Durch das Zufallsprinzip werden Personen aus einem System ausgelost und zu einem zweitägigen Workshop eingeladen. Inhaltlich wird nur ein Tagesordnungspunkt vorgegeben: „Welche Probleme sind aus ihrer Sicht die wichtigsten in unserer Organisation oder Gemeinschaft und wie würden Sie sie angehen?“ In der Auseinandersetzung mit dieser Frage werden die Teilnehmenden durch einen Facilitator dabei unterstützt, Übereinstimmungen zu identifizieren und zu einem Ergebnis zusammenzuführen. Vier Ergebnisplakate werden ausgefüllt. Am dritten Tag präsentieren die Weisen ihre Geschichte und ihre Ergebnisse in einem World Café, zu dem alle Organisationsmitglieder eingeladen sind. In dieser großen Gruppe werden die Lösungen und Empfehlungen des Rats der Weisen reflektiert, um auf diese Weise ein größeres Gespräch zu initiieren. [1]
Meine Bewerbung
Nun wieder zurück zu meinem Mailpostfach und dem Einladungstext. Hier lese ich, dass ich meine Chance auf einen Platz im diesjährigen Rat der Weisen erhöhen kann, wenn ich alle beide Verlosungstermine im Outlook zusage. Meine Chance verdoppelt sich dadurch, Wahnsinn! Wie könnte ich davon nicht Gebrauch machen? Ich sage beide Termine zu und drücke mir insgeheim selbst die Daumen.
Ein paar Wochen später ist klar: das Los ist NICHT auf mich gefallen. Schade, denke ich. Aber meine Chance unter 600 Mitarbeitenden ausgelost zu werden ist auch nicht besonders groß, versuche ich mir mein Scheitern zu erklären. Vielleicht klappt´s nächstes Jahr hoffe ich. (Dass meine Chance eigentlich höher war als ursprünglich angenommen, habe ich erst vor Kurzem erfahren. Mehr dazu am Ende des Textes).
Meine Gedankenreise und Erkenntnisse
Plötzlich fange ich an intensiver darüber nachzudenken: welche Veränderungsideen hat der Rat der Weisen in den Jahren 2021 und 2022 eigentlich hervorgebracht? Konnte ich mich als Mitarbeiterin mit dem verbinden, was der Rat empfohlen hat? Fand ich das anschlussfähig? Was ist aus den Ideen geworden, welche davon sind in die Praxis umgesetzt worden? Welche werden noch heute gelebt? Und was ist eigentlich mein Beitrag?
Meine Gedanken um diese Fragen kreisend, wurde für mich immer deutlicher: der Rat der Weisen ist nicht nur ein (Veranstaltungs-) Format, er ist ein Prozess. Ein Prozess, des organisationalen Wandels, der viele verschiedene Akteur:innen und Perspektiven umfasst. Gleichzeitig ist der Rat der Weisen eine agile Methode, die implementiert in den organisationalen Kontext, Wirkung erzeugen kann. Mein tiefgehendes Interesse am Thema führte schließlich zu einem Interview mit Jim Rough, dem Erfinder der Methode. Bei dem Interview erfuhr ich, dass durch das Rat-der-Weisen-Tool, wie Rough es nannte, das sogenannte „choice creating“ entsteht. Gemeint ist hier eine neue Qualität des Denkens im Dynamic Facilitation, die auf der individuellen Gefühlswelt aufbaut, gleichzeitig aber eine Öffnung zum Gegenüber miteinschließt. Lösungsansätze, die so entstehen, werden, so Rough, sowohl vom Einzelnen als auch von der Gemeinschaft getragen.

All das, was ich von Jim Rough, und darüber hinaus von der Amtsleiterin und Mitarbeitenden des Stadtschulamtes erfahren habe, verarbeitete ich schließlich in einem Aufsatz mit dem Titel „How do we become collectively intelligent?“ Gelesen werden kann der Aufsatz hier: Rat der Weisen – Stadtschulamt Frankfurt (Pdf).
Spannend mag nun die Frage sein: was sind das eigentlich für Veränderungsideen, die in Zusammenhang mit dem Rat der Weisen bislang im Stadtschulamt in die Umsetzung gebracht wurden?
Drei Beispiele
- Einführung der Wir-Zeit: Das bedeutet, Mitarbeitende bekommen 30 Minuten Zeit zusätzlich geschenkt, um in einen persönlichen Gesprächs- und Gedankenaustausch mit Kolleg*innen aus dem gesamten Amt zu gehen. Diese Zeit findet innerhalb der Arbeitszeit statt.
- Der interne Tag der offenen Tür: Jede Abteilung hat alle Mitarbeitenden eingeladen und Einblicke hinter die vielfältigen Tätigkeitsfelder gegeben.
- Workhacks: Meetings im Café, beim Spaziergang oder sonst wo – der Wechsel der Arbeitsatmosphäre bringt neue Perspektiven und kreative Abwechslung. Für die (digitale) Zusammenarbeit und Einarbeitung neuer Kolleg*innen wurden verschiedene Meetingformate wie Daily‘s und Weekly’s ausprobiert.
Eine kleine Bilanz
Deutlich wird, dass die bereits implementierten Veränderungsideen auf unterschiedlichen Ebenen der Organisationsentwicklung ansetzen. Während es bei der WIR-Zeit um die Stärkung der informellen Kommunikation als wichtigen Baustein für Veränderungsprozesse geht, zielt der interne Tag der offenen Tür auf den abteilungsübergreifenden (fachlichen) Austausch auf übergeordneter Ebene. Die Workhacks hingegen zahlen auf die Weiterentwicklung der methodischen Kompetenzen der Mitarbeitenden ein.
Dass Veränderungsideen wie diese das Potenzial haben, die Organisation weiterzuentwickeln und nachhaltig zu verändern, davon sind insbesondere diejenigen Mitarbeitenden überzeugt, die selbst einmal als Weise oder Weiser ein Teil des Rats der Weisen waren. Zugleich merken sie aber an, dass wirkliche Systemveränderungen breite Beteiligung erfordern, damit das, was im kleinen System -im Rat- entwickelt wurde, überhaupt Resonanzen im größeren System -also im gesamten Amt- hervorrufen kann. Daher müsse ein besonderes Augenmerk auf die Ergebnispräsentation, der sogenannten Reflection, gelegt werden, um möglichst viele Menschen „mitzunehmen“.
Aktuell nehmen im Stadtschulamt etwa 100 Mitarbeitende an der digital durchgeführten Ergebnispräsentation teil und etwa konstant 50 Mitarbeitende nutzen die Möglichkeit, ihr Los in den Lostopf für eine Teilnahme am Rat der Weisen zu werfen. Doch was sagen uns diese Zahlen? Klar ist: derzeit werden mit der Methode nicht alle Mitarbeitende erreicht. Was aber die Gründe für die Nicht-Beteiligung sind, wissen wir momentan nicht. Ein Schlüssel für mehr Beteiligung könnte darin liegen, die Ergebnisse und Effekte der Methode sichtbarer zu machen.
Anmerkungen
[1] Zur Bonsen, Matthias/ Zubizarreta, Rosa: Dynamic Facilitation. 2014
