Kleiner-Finger-Schwur als Grundlage für Zusammenleben
Selbstverpflichtungen werden immer wieder gefordert und abgegeben – das erinnert mich an den Kleiner-Finger-Schwur aus meiner Kindheit. Können Selbstverpflichtungen als Ersatz für gesetzliche Regelungen zu weniger Bürokratie führen?
Die erste Digitalministerkonferenz hat getagt – das ist relevant für alle, die „was mit Digitalisierung“ machen. Es ist interessant, was dieses neue Gremium bewegen kann. Die Beschlüsse sind erfreulich kurz und verständlich formuliert, man versteht sie ohne ein Jurist zu sein oder Verwaltung studiert zu haben. Ob die Beschlüsse Kraft und Wirkung entfalten werden, wird sich noch zeigen. Ein Gremium, das den Fokus grundsätzlich auf die Digitalisierung hat – finde ich richtig und gut.
Und trotzdem, oder vielleicht wegen der Bedeutung, die ich von diesem Gremium erwarte, lässt mich der Beschluss zu TOP 8 „Arbeitsbedingungen im Breitbandausbau – Faire und menschenwürdige Arbeitsbedingungen bewahren“ fassungslos nach dem ersten Satz zurück. Dieser lautet:
„Die Bundesregierung wird gebeten, sich für eine zwischen der Telekommunikationsbranche, dem Bund und den Ländern sowie den kommunalen Spitzenverbänden zu schließende Vereinbarung und Selbstverpflichtung mit dem Ziel, bereits existierende arbeitsrechtliche, sozial-, tarif- und arbeitsschutzrechtliche Standards für den Ausbau der Telekommunikationsinfrastruktur sicherzustellen, einzusetzen.“

Wie bitte? Wir bitten die Bundesregierung einen Kleiner-Finger-Schwur bei einer Branche einzufordern, die sich anscheinend so wenig an das geltende Recht hält, dass es auf höchster Ebene Beachtung findet. Oder wie soll ich den Euphemismus „rechtliche Standards“ anders entschlüsseln?
Sollte die Forderung an die Regierung nicht heißen: „Sorgt bitte für die Einhaltung des geltenden Rechts!“ Oder einen Schritt weiter gedacht, die Forderung an den Gesetzgeber: „Erlasst keine Gesetze, deren Einhaltung nicht kontrolliert und durchgesetzt werden kann!“ Würde der Ansatz mit der Selbstverpflichtung funktionieren, bräuchten wir keine Gesetze. Dann würden wir uns alle 4 Jahren an den Händen fassen und versprechen, lieb zueinander zu sein. Kein Aufwand mit Wahlen und Parlamenten ob Kommunal-, Landes-, Bundes- oder Europaebene. Das wäre doch eine enorme Ersparnis von Aufwand und ein weiterer Bonus für den Arbeitsmarkt: Alle, die in Parlamenten gebunden sind, stünden als Fachkräfte wieder zur Verfügung. Die Fantasie geht mal wieder mit mir durch. Um das ganz klar zu schreiben: Wir brauchen die Gesetze, die unser Zusammenwirken regeln, wir brauchen die Parlamente, die über die Gesetze diskutieren, verschiedene Sichten einbringen und im Diskurs zu einer Lösung – einem Gesetz – kommen. Und die Verwaltung – ob im öffentlichen Bereich oder in Unternehmen – sorgt für die Dokumentation der Befolgung der Gesetze. Darüber gibt es überhaupt keine Diskussion.
Was aus meiner Sicht durchaus diskussionswürdig ist: Wie viele und welche Gesetze brauchen wir? Wollen wir uns immer mehr Regelungen leisten, deren Prüfung auf „die Verwaltung“ abgeladen wird? Auch wenn es dazu führt, dass sie – „die Verwaltung“ – offensichtlich überfordert ist und die Einhaltung der Regelungen nicht gewährleistet werden kann?
Wir ärgern uns alle über die langsame, aufwendige Verwaltung, die aber durch den Gesetzgeber so mit Aufgaben überhäuft und überfordert wird, dass es gar nicht anders geht. Die einzelnen Vorgänge brauchen lange, weil die Masse der Aufgaben ständig wächst.
Entbürokratisierung ist als Thema in der Politik angekommen. Normenkontrollräte sind entstanden auf Bundesebene der Nationale Normenkontrollrat, sowie entsprechende Gremien in einzelnen Bundesländern. Sie sollen den Bürokratieaufwand verringern (siehe Normenkontrollrat in Baden-Württemberg), ein Bürokratie-TÜV sein (siehe Normenkontrollrat in Bayern) und als externes, unabhängiges Gremium beim Bürokratieabbau unterstützen (siehe Normenkontrollrat in Sachsen). Es werden neue Gremien mit – zwangsläufig – neu zu produzierenden Dokumenten eingerichtet, um die Flut an Dokumenten zu reduzieren.
Sollte die Aufgabe nicht an die Gesetzgeber gehen und heißen, für jede Maßnahme, die die Verwaltung belastet, muss eine Erleichterung in derselben Größe erfolgen. Zum Beispiel muss eine Regelung abgeschafft werden. Wir brauchen nicht ein Mehr an neuen Gremien und Papieren, sondern mit Bedacht beschlossene Regelungen. Gleichzeitig muss geprüft werden, was obsolet geworden ist oder werden soll. Dann müssten nicht unsere Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter sich zum Teil widersprechende Gesetzestexte zu einem Fall wälzen und um Auslegungen ringen. Dann wäre die Arbeit, die im Moment bei den Umsetzenden der Vorschriften landet, tatsächlich vom Gesetzgeber erledigt.
Entbürokratisierung kann nicht mit „mehr“ sondern nur mit „weniger“ funktionieren. Und so lange das nicht der Fall ist, bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als zu kapitulieren und den Kleiner-Finger-Schwur einzufordern.
In diesem Sinne – seien wir bitte alle lieb zueinander.
Quellenangaben:
Erste Digitalministerkonferenz in Potzdam von https://digitalesbb.de/detailseite/beschluesse-2/ abgerufen am 10. Juni 2024
TOP 8 „Arbeitsbedingungen im Breitbandausbau“ von https://digitalesbb.de/wp-content/uploads/2024/04/TOP-8_BV_Arbeitsbedingungen_im_Breitbandausbau_RP.pdf abgerufen am 10. Juni 2024
Nationaler Normenkontrollrat von https://www.normenkontrollrat.bund.de/Webs/NKR/DE/home/home_node.html abgerufen am 10. Juni 2024
Normenkontrollrat Baden-Württemberg von https://www.normenkontrollrat-bw.de/ abgerufen am 10. Juni 2024
„Das ist quasi wie ein Bürokratie-TÜV“, Süddeutsche Zeitung am https://www.sueddeutsche.de/bayern/normenkontrollrat-kabinett-gesetze-1.5608559 abgerufen am 10. Juni 2024
Sächsischer Normenkontrollrat von https://www.justiz.sachsen.de/content/5111.htm abgerufen am 10. Juni 2024
