Rezension: Gemeinsam denken, wirksam verändern von Stephanie Borgert

Wer von uns hat sich nicht schon einmal darüber geärgert: Bei einem Veränderungsprozess, die Einführung einer neuen DMS-Software beispielsweise, gibt es plötzlich Widerstände der Kolleginnen und Kollegen. Oder wir haben etwas 100-mal erklärt – und es scheint immer noch nicht bei den Kolleginnen oder Kollegen angekommen zu sein. Die Gemeinsamkeit ist: Wir suchen das Problem bei den Menschen. Menschen, die irgendwie nicht funktionieren wollen, die einfachste Dinge nicht verstehen wollen, die nicht mitmachen, die uns Schwierigkeiten bereiten.

Stephanie Borgert bietet eine andere Erklärung und eine neue Vorgehensweise an. Nicht die Menschen sind das Problem, sondern das System, in dem sie arbeiten. Systeme (Firmen, Verwaltungen, …) funktionieren grundsätzlich anders als Individuen oder Familien. Will man sie transformieren, muss man das System in den Blick nehmen, statt – beispielsweise – den Menschen ein falsches, veraltetes, Mindset zu attestieren. Zitat (S. 29): […] die naive Idee, mentale Modelle absichtsvoll und direkt ändern zu können, ist übergriffig und obsolet“ (… mir aus der Seele gesprochen). Vielmehr, so Borgert, braucht es ein Werkzeug, ein Instrument, mit dem man gemeinsam über die Organisation nachdenken kann. Dieses Werkzeug ist der „Organisationale Diskurs“.

Prinzipien für den Organisationalen Diskurs

Im Buch wird das Instrument des Organisationalen Diskurses in zwei Schritten vorgestellt. Teil 1 beschäftigt sich mit grundlegenden Theorien und Modellen von Systemen. Themen sind beispielsweise komplexe Systeme, Veränderung, Menschenbilder oder Kommunikation. Luhman, Habermas, Foucault, von Foerster und andere maßgebliche Denkerinnen und Denker werden gestreift. Das hört sich vielleicht trocken an. In Wirklichkeit werden die wesentlichen Ideen leicht verständlich (Was bin ich froh, Luhman nicht im Original lesen zu müssen und ich vermute, das geht nicht nur mir so.) und mit vielen Beispielen gespickt vorgestellt. Die Lektüre hat mir viele Aha-Momente beschert. „Organisationen sind komplexe Systeme“ und „Veränderung braucht Energie“ waren solche. Für sich genommen, klingt das vielleicht nicht so überraschend. Wohl aber die abgeleitete Erkenntnis, dass lineare Change-Ansätze wie die beliebte (Ross-Kübler-) Change-Kurve, der achtstufige Change-Prozess von Kotter oder das 3-Phasen-Modell von Lewin in ihrem linearen Ansatz und dem Anspruch allgemeingültige Modelle oder Vorgehensweisen zu sein, zu kurz greifen. Schlimmer, sie gehen von einem eingeengten, nichtzutreffenden Menschenbild aus. Nämlich, dass die Menschen grundsätzlich nicht veränderungswillig sind. Das stimmt so nicht, sagt Borgert.

Einen weiteren Aha-Moment bescherte mir der Abschnitt über die Kommunikation. Das klassischen Sender-Empfänger-Modell, dass ich noch aus der Schulzeit kenne und bislang schätzte, ist veraltet. Es erklärt nämlich nicht, warum man so oft und so hartnäckig aneinander vorbeiredet. Der Anthropologe Gregory Bateson, der Psychotherapeut Paul Watzlawick („man nicht nicht Kommunizieren“) und der Philosoph Jürgen Habermas zeigen in ihren Studien, dass Kommunikation in einem sozialen Raum stattfindet, der beachtet werden muss, dass Kommunikation kein lineares, sondern ein zirkuläres System ist und, dass das Verstehen beim Empfänger liegt, also nicht in der (alleinigen) Kontrolle des Senders liegt („Man muss sich nur präzise genug ausdrücken, dann kommt die Botschaft an“ ist eine Fiktion).

Was tun?

Hierauf gibt der zweite Teil des Buchs eine Antwort. Borgert schlägt den Einsatz des Instruments „Organisationaler Diskurs“ vor. Wie dieses Instrument funktioniert, welche Prinzipien zugrunde liegen, wird in diesem Teil des Buchs ausführlich besprochen und mit vielen Beispielen illustriert.

Im Wesentlichen handelt sich um eine zirkuläre Dialogform Dialog – nicht Diskussion oder Debatte – wie Borgert hervorhebt, weil der Dialog auf gemeinsame Sinnsetzung und nicht auf das Herausheben unterschiedlicher Positionen abzielt.

Nach einer einleitenden Abgrenzung, wofür der Organisationale Diskurs nicht gedacht ist, werden die wesentlichen Elemente erläutert. Es ist, das Stichwort ist oben schon gefallen, ein zirkulärer Ablauf, die RIDA-loop. Das Akronym steht für Reflect, Irritate, Declare und Agree. Diese Schleife will hinter bestehende Routinen und Denkmuster schauen. Reflect, die erste Phase baucht Zuhören. Ein Zuhören, das mehr ist als das „Aushalten des Nichtsprechens, bis das Gegenüber Luft holt“ (Borgert, S. 133). Die nächste Phase „Irritatate“ öffnet den Raum hinaus aus gewohnten Denkmustern – Basis für das Lernen. „Declare“ schließt sich an: Hier werden die Ideen für den Change entwickelt, die im Schritt „Agree“ gemeinsam verabredet werden. Mit einigen Hinweise auf das Setting und mögliche Wirkungen und Widersacher, ist das Instrument umrissen.

Stop-and-go-Lesen

Ich kann nicht mehr sagen, wie oft ich das Buch zur Seite gelegt habe, um über das gerade gelesene nachzudenken, mir Notizen zu machen, etwas im Internet nachzuschlagen oder zu überlegen, wie man den Organisationalen Dialog in öffentlichen Verwaltungen ins Werk setzen könnte:

# Macht
Verwaltungen sind vielerorts – auch wenn sie sich nach außen modern geben – immer noch in tief gestaffelten Hierarchien mit vielen Führungspositionen und Zuständigkeitsdenken – man könnte auch „Silo- oder Revierdenken“ sagen – gefangen. Der Organisationale Dialog könnte in dieser Umgebung von bestimmten Menschen als Bedrohung ihres Status Quo aufgefasst und (gerne subtil unter der Oberfläche) unterminiert oder verhindert werden. Meine Frage wäre – und ich habe noch keine Lösung dafür – wie man dieses Instrument trotzdem platzieren kann.

# Ameisen
Ich liebe sie, die Illustrationen von Sandra Schulze. Sie greift das Bild der Ameisen beziehungsweise der Struktur des Ameisenstaates auf, welches Stephanie Borgert im Eingangskapitel erläutert, und gestaltet daraus ihre ganzen Grafiken, indem sie wunderbare, sympathische rote Ameisen in verschiedensten Situationen zeigt. Einfach klasse.

# Noch einmal Ameisen
Die Ameisen als Bild einer guten Organisation hat zwei Seiten. Der systemische Gedanke ist mir verständlich. Auf der anderen Seite rebelliert mein Selbstbild, wenn ich mir Kolleginnen und Kollegen als Ameisen vorstelle. Bei uns arbeiten keine Ameisen, die ein Programm befolgen, sondern es sind Individuen die einzeln angesprochen und gehört werden wollen, die als einzelne Person respektiert und wertgeschätzt werden wollen. Aber das ist nur ein ganz kleiner Wermutstropfen.

Fazit

Das Fazit kann ich ganz kurz machen: Ich habe das Buch mit Vergnügen und Gewinn gelesen und werde bestimmt auch später noch das eine oder andere nachschlagen.

Das Buch

Stephanie Borgert
Gemeinsam denken, wirksam verändern
Organisationaler Diskurs als Schlüssel zum Change
Vahlen Verlag, München, 2024
200 Seiten kosten 24,90 Euro
ISBN 978-3-8006-7295-0

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