Mehr als nur die Spitze des Eisbergs: Was Agilität im Kern wirklich ausmacht
Kennen Sie das auch? Ihre Behörde oder Abteilung soll „agil“ werden. Es werden Scrum-Rituale eingeführt, Kanban-Boards aufgehängt und alle sprechen von Sprints und Backlogs. Doch am Ende des Tages fühlt sich wenig anders an – vielleicht sogar schlimmer. Die Frustration wächst, und schnell heißt es: „Agilität funktioniert bei uns nicht.“
Dieser Beitrag ist eine Einladung, ehrlich auf die Gründe für diese Frustration zu blicken. Wir beleuchten die typischen Muster von „Fake Agile“ und „Dark Agile“, die gerade in großen Organisationen wie der öffentlichen Verwaltung zu Enttäuschung führen. Ich zeige Ihnen, warum diese Scheinagilität entsteht und wie wir durch eine radikale Rückbesinnung auf die Kernprinzipien den Fokus wieder auf das Wesentliche richten: echten Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger zu schaffen.
Die wahren Gründe für die Frustration: Fake Agile und Dark Agile
Wenn die agile Transformation in einer Organisation scheitert, liegt das selten an der Agilität selbst. Meistens liegt es an einem von zwei Mustern, die den agilen Geist im Keim ersticken.
- Fake Agile: Organisationen beschließen, „agil zu werden“. Oft greifen sie dann zu Scrum, weil es klare Regeln und Rollen verspricht. Die Methode wird eingeführt, ohne aber das Fundament verstanden zu haben. Man führt Rituale mechanisch durch, ohne das „Warum“ dahinter zu leben. Das Ergebnis ist eine leere Hülle – Agilität als reines Theaterstück.
- Dark Agile: Dieses Muster ist noch tückischer. Hier werden agile Methoden bewusst als Deckmantel für das alte System genutzt. Nach außen gibt man sich modern, doch intern nutzt das Management die neuen Strukturen, um weiterhin top-down zu steuern und zu kontrollieren. Für die Mitarbeitenden ist das extrem frustrierend, weil sie in einem System gefangen sind, das Agilität verspricht, aber Kontrolle lebt.
Beide Muster sind die direkte Folge eines fundamentalen Missverständnisses, das sich am besten mit dem Bild des agilen Eisbergs erklären lässt.

Die Diagnose: Wir starren nur auf die Spitze des Eisbergs
Die meisten Organisationen konzentrieren sich nur auf das, was sichtbar ist – die Spitze des agilen Eisbergs. Das sind die konkreten Methoden, Praktiken und Rollen:
- Methoden: Scrum, Kanban
- Rituale: Daily Stand-ups, Retrospektiven
- Rollen: Product Owner, Scrum Master
- Artefakte: Backlogs, Boards
Wir glauben: Wenn wir uns strikt an diese Regeln halten, arbeiten wir automatisch agil. Das ist ein Trugschluss. Denn die wahre Kraft der Agilität liegt unter der Wasseroberfläche.
Dieses verborgene Fundament besteht aus den gelebten Prinzipien, der Kultur und den technischen Fähigkeiten. Dazu gehören:
- Denkweisen und Prinzipien: Ein tiefes Verständnis des Agilen Manifests, Vertrauen, Transparenz und das Empowerment der Teams.
- Kultur und Organisation: Eine gelebte Fehlerkultur, offene Kommunikation und das Aufbrechen von Silos. Eine Organisation, die an starren Hierarchien festhält, wird Agilität immer blockieren.
- Technische Exzellenz: Die Fähigkeit, in kleinen, wertvollen Schritten zu liefern und durch Automatisierung schnelle Feedback-Zyklen zu ermöglichen.
- Echte Kollaboration: Die permanente Einbeziehung von Stakeholdern und Endnutzern während des gesamten Prozesses.
Fehlt dieses Fundament, erkennen wir schnell die typischen Symptome einer Scheinagilität: Das Daily wird zum reinen Statusreport für den Vorgesetzten, die Retrospektive führt zu keinen echten Veränderungen und der Fokus liegt auf Kennzahlen wie „Velocity“ statt auf dem tatsächlich geschaffenen Nutzen für den Bürger.
Der Weg nach vorn: Zurück zum Fundament
Was ist also die Lösung? Ganz einfach: Back to Basics!
Hören wir auf, über komplexe Frameworks zu streiten, und konzentrieren wir uns auf die fundamentalen Bausteine, die jeder echten agilen Arbeitsweise zugrunde liegen. Der Agile-Experte Stefan Wolpers hat dafür den Begriff der „Agile Primitives“ geprägt. Sie sind eine Art Checkliste für echte Agilität:
- Iterative Entwicklung: In kurzen Zyklen planen, umsetzen, testen und liefern.
- Inkrementelle Lieferung: Funktionierende Inkremente in kleinen, wertvollen Teilen ausliefern.
- Kontinuierliche Verbesserung: Permanent auf Produkte und Prozesse schauen und fragen: „Was können wir besser machen?“.
- Zusammenarbeit mit dem Kunden: Der Kunde (oder Stakeholder) ist ein aktiver Partner im Prozess.
- Selbstorganisation: Das Team hat den Freiraum, seine eigene Arbeit zu gestalten.
- Anpassungsfähigkeit: Veränderungen werden als wertvolle Lernchance begrüßt.
- Kontinuierliche Integration: Der Code wird ständig zusammengeführt und in einem releasbaren Zustand gehalten.
- Transparenz: Die Arbeit, der Fortschritt und die Probleme sind für alle sichtbar.
- Feedbackschleifen: Überall Mechanismen einbauen, um schnell Feedback zu bekommen.
- Einfachheit: Sich darauf konzentrieren, die Menge an nicht getaner Arbeit zu maximieren.
Wenn Ihre Organisation diese zehn Prinzipien lebt, sind Sie agiler als viele, die nur stur einem Regelwerk folgen.
Fazit: Ein Plädoyer für ehrliche Agilität
Die Frustration, die viele in der agilen Transformation erleben, ist real und berechtigt. Sie richtet sich aber nicht gegen die Agilität selbst, sondern gegen ihre leere Imitation. Die Lösung liegt nicht in einem neuen, noch komplexeren Framework, sondern in einer mutigen Rückbesinnung auf den Kern.
Fangen Sie klein an. Anstatt eine ganze Behörde umkrempeln zu wollen, starten Sie mit Ihrem Team. Diskutieren Sie die „Agile Primitives“. Fragen Sie sich bei jedem Ritual: Dient es wirklich dem Wert für den Bürger oder nur dem Prozess?
Der Weg zu einer agilen Verwaltung ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Aber er beginnt mit dem ersten ehrlichen Schritt: dem Mut, den Bullshit zu benennen und den Fokus wieder auf das zu legen, was wirklich zählt.
Über den Autor
Thomas Esders beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der (nicht immer) agilen Entwicklung von Software. Unter dem Motto „No Bullshit Agile“ setzt er sich für eine pragmatische und prinzipienfeste Anwendung agiler Werte ein – jenseits von Buzzword-Bingo und starren Regelwerken.
Seine Erfahrungen und Erkenntnisse teilt er in seinem Podcast „No Bullshit Agile“ und in seinem kostenlosen Buch „Agiles Arbeiten in der Praxis“. Die Kerngedanken dieses Artikels stammen aus eben diesem Buch, das als Open-Source-Projekt auf GitHub zur Mitwirkung einlädt und unter einer Creative-Commons-Lizenz frei verfügbar ist: https://no-bullshit-agile.de/buch-agiles-arbeiten-in-der-praxis.html.
Der Austausch mit der Community ist ihm wichtig, weshalb er per Mail unter nobsagile@gmail.com oder auf Mastodon unter @nobsagile erreichbar ist.
