Ein gedanklicher Spaziergang zur besonderen Situation der Verwaltung in Corona und nach Corona. Wissen hat da niemand. Antworten schon gar nicht. Aber wir nehmen gern alle Interessierten und Zugewandten mit auf eine Gedankenwanderung.
Wir befinden uns im virtuellen Kaffeeraum des Forum Agile Verwaltung. Drei Menschen pusten den Dampf von ihren Tassen und philosophieren dabei über einen Brückenschlag zwischen Vorher, Jetzt und Später. Da sind Wolf in Karlsruhe im sehr ruhigen eigenen Büro, Vero im nicht ganz freiwilligen HomeOffice in Basel und Otto in Hinterwendlingen in seiner Pensionistenklause. Falk hält die drei moderierend von Frankfurt an der Oder aus sanft am Zügel, damit die Gedankengänge nicht ins gar zu Wilde davon galoppieren… .

Wolf Steinbrecher (sitzt in Karlsruhe in der Kaffeeecke und blickt auf die leere Fussgängerzone hinunter):
Vor Corona hatte man bisweilen den Eindruck, dass öffentliche Daseinsvorsorge eigentlich nicht mehr gebraucht wird. Oder zumindest auf dem absteigenden Ast war. Noch vor einigen Wochen (scheint so lange her… Drei Wochen? Vier?) kursierte ein Papier durch die Publizistik, ein Drittel der Krankenhausbetten in Deutschland sei überflüssig und gehöre dringend “abgebaut”. Das ist nur ein Beispiel. Jetzt ist eher Schweigen aus dieser Ecke zu hören. Der Markt, der doch alles richten sollte, schweigt. Zumindest als ich an den Markt meinen Hilferuf richtete, meiner kleinen Firma doch dringend Kurzarbeitergeld zu zahlen, verharrte er in höflichem Schweigen. Aber die Bundesagentur reagierte mit einer prompten Empfangsbestätigung.

Veronika Lévesque (auf dem Balkon im wie immer recht ruhigen Basler Bruderholzquartier mit einem starken Tee ‘Earl Grey, hot’):
Wir schauen auf Jahre zurück, die für die derzeit lebenden verschiedenen Generationen recht unterschiedlich geprägt waren.
Von Wirtschaftswunder und standardisierbarer Effizienz als erfolgreichster Wachstumsmotor in die Ölkrise zu ersten Ökobewegungen weiter über den Mauerfall via Neoliberalismus als Leitkultur in die Globalisierung im großen Stil. Dann in nur wenigen Jahren eine Fülle von mehr oder weniger bahnbrechender gutenberghaftiger Innovation, die stark oder fast ausschliesslich im Bereich der Technologie empfunden wurden (wo doch auch andere, z.B. soziale Innovationen wie gilets jaunes, Fridays4Future, Hackathons etc. statthaben) weiter zu individueller und gesamtgesellschaftlicher Digitalisierung mit sich verändernden Arbeitswelten und Ansprüchen und Grabenkämpfen zwischen “Boomers”, Nerds, Konservationisten, digital natives in den Spalten von alten Strukturen und neuen Ideen hinein in den Ausnahmezustand um Corona. *schnauftatemlos*
Krisen sind immer auch ein Test für eine Gesellschaft – was will sie jetzt, was tut sie, was kann sie leisten…
Was derzeit hier in Basel passiert, mit Gruppen von Freiwilligen, die sich organisieren und sich gegenseitig zu helfen suchen mit einem unfassbar starken Wunsch danach, Solidarität zu zeigen, wirksam etwas für einzelne andere zu tun. Ohne soziale Netzwerke und “neue” Tools und Kommunikationswege wäre das gar nicht möglich. Neuland. Vielleicht hilft uns ja die Krise, anschliessend – oder schon währenddessen – von einer technischen Digitalisierung zu einem neuen quasi digitalen Humanismus zu kommen? Wo der Wert und das Tun des / der Einzelnen mit ihren Talenten, Spielräumen, Beiträgen orts-und rollenunabhängig plötzlich Raum haben?
Und die ganz spannende Frage: Was heisst das dann für die Rolle der öffentlichen Verwaltung als Hüterin der gesellschaftlichen Rahmung, gesetzlicher und anderer gemeinwohlbezogener demokratischer Werte unter Nutzung ihrer privilegierten Situation als “Nicht-Gewinn-Ausweisen-Müssens”
Wolf Steinbrecher: Bestimmte dieser Werte zeigen sich im Jetzt. Der Markt kann keine Güter bereitstellen, deren Wert in der Regel aus der Nicht-Auslastung besteht. Der Nutzen einer Feuerwehr besteht nicht darin, zu 100% ausgelastet zu sein, sondern am besten immer stillzustehen. Solche Güter verschwänden von jedem Markt, der ein bisschen was auf sich hält.
Des Weiteren hat Produktion in der Verwaltung wenig mit Geld zu tun, viel mit intrinsischer Motivation. Wir erleben Kollegen mit 14-Stunden-Tagen, die angestrengt daran arbeiten, den Laden am Laufen zu halten: Kollegen in der IT, die die Verbindungen schalten ins Homeoffice der Kollegen usw. Natürlich gibt es auch die anderen. Die Marktanhänger im Innern der Verwaltung, die Unengagierten. Die sich jetzt verhalten, als wäre Corona im Homeoffice fünf Wochen bezahlte Freizeit.

Otto Kraz (in Hinterwendlingen auf der Terrasse – man sieht schlecht, was sich in seiner Tasse befindet, weil vom Gebäck in den Schatten gestellt…):
Ich habe nun drei Wochen lang vielen Lehrer/innen zugehört, die ihre Klassen plötzlich völlig anders unterrichten müssen. Distance Learning habe ich gerade als Neubegriff gelesen. Ohne erprobtes Konzept. Lehrpersonen, die oft gleichzeitig die eigenen Kinder im Homeschooling betreuen. Dabei als Mutter oder Vater auch die Verbindung zu anderen Eltern halten und parallel auch zu Kolleg/innen. Sie befinden sich gleichzeitig in zwei wichtigen Beobachterrollen. Viele tauschen sich unentwegt aus. Und probieren in dem Zusammenhang individuell viele neue Plattformen und Tools aus oder entdecken den pädagogischen Segen eines Telefons und.. und.. und.. versuchen, die Schule für sich, für ihre Schüler/innen und ihre eigenen Kinder irgendwie neu zu erfinden…. Menschen tun z.Z. Dinge, an die sie vor vier Wochen nicht gewagt hätten, auch nur zu denken. Alles in einem heftigen Tempo. Schwindelerregend in VUCA Zeiten, in denen Entwicklungsabläufe auf Zeitraffer gestellt sind.
Nach drei Wochen existieren schon sehr viele starke Konzepte, und sicher doppelt und dreimal so viele wurden wieder verworfen. Man darf ausprobieren und viele machen genau das. Kleinschrittig, Fehler zulassen und immer wieder anpassen, weil man nicht weiß, welche Konzepte wirklich funktionieren. Es gibt ja auch kein Konzept, das für alle passt. Für mich ganz großartig: Immer mehr Lehrer/innen merken, wie wirkungsvoll ein kleines persönliches Telefonat oder eine kleine persönliche Rückmeldung per Mail an die homeschoolenden Schüler/innen ist. Das kleine direkte persönliche Eins-zu-Eins Gespräch. Weil es die Motivation, selbstständig zu arbeiten, äußerst wirkungsvoll unterstützt. Es passiert im Moment also neben unseren völlig unwirklichen gewordenen Lebenswelten viel Positives im Schulbereich, das man erhalten muss. Dringend. Hinüberretten in die Nach-Coronazeit. Und weiterentwickeln. Weil alles doch noch viel zu schnell, zu viel, zu neu und zu unsicher aufgestellt ist. In den Schulen erfinden sich gerade viele neu, weil die alten Strukturen weg sind. Eltern, Lehrer, Schüler arbeiten zwangsverpflichtet in einem hochagilen Rahmen. Leider wird im Moment dadurch auch eine wachsende Ungleichheit bei Schüler/innen erzeugt. Da ist dringender Entwicklungsbedarf nach der Krise.
Veronika Lévesque: Was passiert denn während dieser Krise? Da werden Strukturen plötzlich wertlos, die lange Jahre als alternativlos oder unüberwindbar galten.. (“HomeOffice? Geht nicht, da arbeiten die ja nix…..” „Schule / Büro ohne Lehrende / Leitende vorne und Lernende / Mitarbeitende strukturieren jede für sich was wann gut funktioniert?“Da kann man die ja gar nicht führen resp. kontrollieren.”). Und plötzlich geht es fast nur mit Von-Zuhause-aus (oder halt gar nicht arbeiten) und Vertrauen haben – und siehe da, in ganz vielen Fällen geht das ganz bis sehr gut. Selbstorganisation findet ganz natürlich statt – ganz schön schwer, aber machbar… Was kann das für die Zukunft für eine gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie, für Zusammenarbeitskultur in Organisationen, für Raum für eigene Wege rechts und links von Standards heissen? Wenn sich Wirtschaftsbetriebe darauf einlassen können müssen und sich dabei Sorgen um das Risiko für ihre Gewinne und Verdienste machen müssen – wie kann dann die Verwaltung damit umgehen, die ja keinen Gewinn ausweisen muss?
Wolf Steinbrecher: Die Verwaltung kann dieses große Privileg als Pfund benutzen, mit dem sie stolz wuchern kann. Unsere Aufgabe ist es nicht, Gewinn zu machen, sondern die Güter bereitzustellen, die es sonst nicht geben würde. In erster Linie: Sicherheit. Dazu zählt die Daseinsvorsorge für die Einwohner (Bildung, Gesundheit, materieller Mindeststandard). Und dazu zählt: Arbeit aus einem Sinn heraus. Einer der wichtigsten Punkte, die Leute in der Verwaltung jetzt motiviert haben, mit denen ich sprechen konnte, war diese Aussicht: an den verschiedensten Spaltungslinien unserer daran wahrlich nicht armen Gesellschaft zu arbeiten und versuchen, sie zu überwinden und zu versöhnen.
Otto Kraz: Mal angenommen, also nur mal so angenommen, die Bildungsverwaltungen könnten gerade ähnliche direkte persönliche Erfahrungen sammeln wie derzeit das neue pädagogische Dreiergespann Eltern, Lehrer/innen, Schüler/innen. Das ergäbe ganz neue Aspekte, die sich hier auftun. Für mich der Wichtigste: Viele Schüler/innen zeigen sich von einer ganz neuen Seite und empfinden sich auch ganz neu. Die Noten treten seit drei Wochen komplett in den Hintergrund. Ein völlig ungewohntes Schullebensgefühl. Für alle drei Akteure. Manche der jungen Menschen bekommen gerade eine ganz neue Ernsthaftigkeit. Einen ganz anderen Blick auf Schule. Sie werden kritischer zurückkommen. Selbstbewusster. Lehrer werden auch ganz anders zurückkommen. Ich prognostiziere: Die Beziehungsebene wird sich ändern: Zum Positiven. So das Bauchgefühl eines alten Schulmeisters. Für diejenigen Lehrpersonen, die vor drei Wochen einen Stapel Arbeitsblätter ausgegeben haben und dann meinten, damit wäre ihre Arbeit getan, sie müssten am Ende nur die Arbeitsblätter benoten, die haben die VUCA-Zeiten für Lehrpersonen noch nicht verstanden. Es wird sie sicher geben und sie werden sicher für so manchen als „die Lehrer“ herhalten müssen… aber aus allem, was ich rundum aus Lehrer- und Elternkreisen höre, sind diese „die Lehrer“ wie immer eine kleine Minderheit.
Zurück zum Beginn dieses Abschnitts: Nur mal angenommen, die Bildungsbehörden könnten diese aktuell ablaufenden Prozesse aufgreifen und die Weiterentwicklung unterstützen, dann wäre es eine richtig große Sache. Der Traum vieler Lehrer/innen und Direktor/innen. Eine agile Bildungsverwaltung. 🙂
Veronika Lévesque: Hier liegt ein mächtiger Hebel:
Die Erfahrungen, die all diese Menschen, Junge wie Alte, wie Mitarbeitende, wie Chefs und -innen, wie Nachbarn, Bürgerinnen und Bürger jetzt machen – die bleiben. Und die werden ihre Auswirkungen haben.
Schule wird nicht zum “nur hier physisch vor Ort kann Schule stattfinden”, „alle zur gleichen Zeit im gleichen Raum synchron das Gleiche in 45- Tranchen-lernen ist die einzige Möglichkeit“ und “Lehrerinnen und Lehrer können alles am Besten” einfach so zurück können. Und gar nicht wenig Schülerinnen und Schüler vermissen plötzlich nach eigener Aussage die schönen Aspekte der sonst eher ungeliebten Penne… Betriebe werden kaum zu den bisherigen Strukturen, Hierarchien und Prozessen ganz ohne Diskussion wieder zurückfinden. Viele Beteiligte merken jetzt, dass Vertrauen und intrinsische Motivation kein Märchen sind. Bei vielen ist sichtbar geworden, was sie alles können, wenn Raum ist – und andere, auch Führungskräfte, haben gezeigt, dass sie ausserhalb der bekannten Routinen wenig anzubieten haben. Es werden gerade zahllose Beweise erbracht, dass vieles auch anders geht als wir es bisher gemacht haben. Wir haben eine mächtige psychologische Schwelle namens Status-Quo-Verzerrung, die besagt, dass anders potenziell erst mal schlechter sein muss als dass, was wir bereits tun, in einem grossen, nicht ganz freiwilligen Sprung überhüpft. Ich kenne so viele Menschen, die noch vor drei Wochen vor Videokonferenzen als unnötig, unpersönlich, menschenfeindlich (sic!), beängstigend, unsicher zurückscheuten – und die jetzt ganz natürlich Erfahrungen damit sammeln, Möglichkeiten und Grenzen erfahren – und insgesamt recht froh sind, dass es sie gibt.
Im besten Fall – und der ist gar nicht so unwahrscheinlich – werden nach dem Ausnahmezustand viele Gespräche und Diskussionen starten, wie der positive Teil der Erfahrungen aus Coronazeiten in den neuen Alltag eingebunden werden können soll – und wie man schlechte Erfahrungen (und sei es der Stellenwert von Pflegepersonal und Einzelhandelsangestellten, die digitalen und andere Kollaborationskompetenzen, die vielfach spürbar fehlen gerade, und vieles mehr… ) neu ordnet, damit sie weniger schlecht werden. Wenn wir es schaffen, das als geballtes Potenzial zu nehmen, unter alle Arme zu klemmen und damit in die nächste Zukunft zu laufen – Wow!
Schön wäre es, wenn die öffentliche Verwaltung für ihre (übergeordneten) Aufgaben, ihre Themen, Deutungshoheiten und Gestaltungsbereiche ihre besondere Position nutzte und dabei eine sichtbare aktive wirksame Rolle spielte.
Wolf Steinbrecher: Das sehe ich genauso. Und für uns als Forum Agile Verwaltung ist es eine Chance, dieser Diskussion Aufmerksamkeit und eine Plattform zu bieten.
Anmerkungen
/1/ Siehe Christoph Quarch: Zeit für einen Neubeginn; Fünfzehn Lehren aus Corona, https://www.akademiefuerpotentialentfaltung.org/wp-content/uploads/2020/03/Fuenfzehn-Lehren-aus-Corona_Teile-1-5_neu.pdf
Ein Gedanke zu „Die öffentliche Verwaltung nach Corona“