Einen Josefspfennig für Deinen Nutzen!

Kennen Sie den Josefspfennig? Nein – keine Angst – sie sind damit nicht allein, wobei das zugrundeliegende Prinzip der Überlegung wohl vertraut ist. Das Gedankenspiel geht so: Hätte Josef – der Vater von Jesu Christi – zu dessen Geburt (also im Jahre 0) einen „Pfenning“ (oder einen €-Cent für unsere bessere Vorstellung) zu jährlichen Zinsen angelegt, wie hoch wäre dann heute das angesparte Kapital? Es geht dabei natürlich um Zinseszinsrechnung und exponentielles Wachstum (das kennen wir dank Corona-Infektionsgraphiken ja jetzt auch alles zur Genüge).

Konkret – bei 1 €-Cent und 2% Zinssatz pro Jahr wären es nach 2022 Jahren:  2.452.151.523.330.829,49 €.

Alles leicht nachzurechnen /Anmerkung 1/ und doch unvorstellbar – was vermutlich auch etwas mit uns Menschen und unserem Hang zur Linearität zu tun hat – aber das ist wieder ein anderes Thema.

Was aber bitte hat diese finanzmathematische Spielerei mit Agilität in der Verwaltung zu tun? Nun – aus meiner Sicht allerhand. Wenn man ein Jahr später zu investieren beginnt, wird der Betrag von vorhin nicht um den kleinen Zinsbetrag des ersten Jahres (0,02 Cent) kleiner, sondern um den Zinsertrag des letzten Jahres (irgendetwas bei 50 Billionen €). Klar – soweit.

Zinseszins

Mit dem Gedanken einfach später mit dem Sparen (Anlegen, etc.) zu beginnen beraubt man sich also nicht um den kleinen überschaubaren Nutzen, sondern um den großen, schwergewichtigen am Ende. Habe ich gerade „Nutzen“ geschrieben? Ich denke da kommt gerade meine Überleitung, denn das, was für die Zinsen auf einem Konto gilt, gilt ähnlich auch für den Nutzen in unseren agilen Projekten. Dort versuchen wir ja auch einen frühen Nutzen zu erzielen und überlegen, welche Funktionen unserer Software oder Maßnahmen in unserem Projekt einen möglichst hohen Nutzen bringen. Gleichgültig, ob wir diesen immer in € ausdrücken oder nicht, wird durch die Überlegung oben klar: auf lange Sicht macht es einen Unterschied, ob wir den Nutzen ein Jahr früher oder später lukrieren können.
An sich also ein gutes Argument dafür, in unseren Projekten rasch einen Nutzen zu erzielen. Mit diesem wunderbaren Beispiel im Hinterkopf, fällt es mir immer wieder schwer zu verstehen, warum nicht alle begeistert daran arbeiten, frühen Nutzen zu erzielen und zu versuchen, das bereits Erreichte produktiv einzusetzen. Auch wenn es nur Teilbereiche abdeckt – dort aber einen Nutzen bringt und nirgends anders schadet – sollte die Bewertung positiv sein. Dennoch erlebe ich es immer wieder, dass Kunden mir sagen: „Nein, das können wir erst einsetzen, wenn wirklich alle Funktionen da sind.“ Oder: „Wir gehen erst Online, wenn das Projekt abgeschlossen ist – das machen wir immer so.“ Häufig gibt es auch die Meinung: „Wir rollen nur einmal aus, wir können unseren Mitarbeitern nicht etwas zumuten, das nicht vollständig ist“.  Gerade in der letzten Aussage schwingt auch immer der Gedanke mit, etwas abzuschließen und dann danach nicht mehr verändern zu müssen – wo doch der Kern jeder agilen Vorgehensweise „Inspect and adapt“ direkt unsere menschliche Entwicklung widerspiegelt: Alles verändert sich laufend, unsere Umwelt, unsere Gesellschaft und wir als einzelne sollten diese Veränderung wahrnehmen, und uns daran anpassen.

Wann ist etwas schon „vollständig“? Und kennen Sie tatsächlich eine Prozessdefinition oder eine Software, die sich in den letzten 10 Jahren nicht mehr geändert hat – auch nicht in den kleinsten Bereichen? Wenn, dann prüfen Sie doch einmal, ob sie noch jemand verwendet. Aber der Kunde ist König – also rollen wir nicht aus (während sich die Mitarbeiter, um die man sich hier sorgt, jede Woche im realen Leben mit Neuigkeiten und Veränderungen herumschlagen müssen – von der aktualisierten Handy-App über die neuen Nachbarn, bis hin zu den neuesten Corona Maßnahmen). Bloß dass wir etwas verpassen – nämlich den Nutzen der getanen Arbeit zu lukrieren und dabei nicht einmal den von nächster Woche, sondern den, der sich in fünf Jahren ergibt, den die heutige Vereinfachung in einem halben Jahr durch den gewonnen Freiraum geschaffen hätte. Zugleich wird durch das Warten auf den großen Wurf die Angst davor, diesen Schritt auch tatsächlich zu gehen, immer größer. Viele kleine Schritte sind oft hilfreicher und ja natürlich: Je früher wir es schaffen einen Nutzen zu stiften, desto früher bekommen wir auch das Feedback zu möglichen Problemen und Verbesserungen oder neue Ideen, die wesentliche Vorteile bringen – noch mehr Nutzen also (Zinseszins!). Natürlich gibt es Grenzen und man sollte keinen Schaden anrichten oder allen das Leben erschweren – aber sich tatsächlich zu überlegen, welche Schritte schon hilfreich sind und diese  – vielleicht auch jeweils nur mit Teilgruppen zu gehen, Inseln zu schaffen, von denen aus sich der Nutzen ausbreiten kann, das erscheint schon als eine sehr wesentliche Aufgabe von Verantwortlichen in einem agilen Umfeld.
Im Softwareumfeld ist dieses Vorgehen bei den großen Plattformen auch schon seit einiger Zeit angekommen. Schrittweise Rollouts neuer Funktionen für kleine Gruppen, um zu sehen, ob der gewünschte Nutzen eintritt, bevor alle Benutzer die Funktion bekommen, sind dort alltäglich und werden von verschiedensten technischen Mechanismen unterstützt, die es eben zulassen, rasch neue Funktionen zur Verfügung zu stellen und auch wieder zurückzurollen. Die Vorstellung, dass eine solche Plattform jemals „fertig“ sein könnte, existiert dort nicht.

Agile Zusammenarbeit

Das könnte uns ein Ansporn sein, kreativer mit der Frage umzugehen, was schon einen Nutzen schafft und wie man diesen ermöglichen könnte. Vielleicht haben Sie ja auch am Beginn dieses Artikels kurz darüber nachgedacht, wie vorteilhaft es wäre, in einer Zeitmaschine kurz einen Abstecher ins Jahre 0 zu machen um dort etwas Geld anzulegen. Allerdings scheint das mit dem Zeitreisen noch etwas auf sich warten zu lassen und solange das so ist, ist der frühest mögliche Zeitpunkt zu investieren: jetzt. Das gilt sowohl für den Josefspfennig, als auch für den Nutzen des aktuellen Projekts.

Anmerkung

/1/ Formel für die Zinseszinsrechnung lautet:


Autor: Franz Noll

Studierte Wirtschaftsinformatik an der Universität Wien. Danach diverse Anstellungen als Berater im IT-Bereich. Seit 2001 Prokurist und Projektleiter bei TechTalk (https://www.techtalk.at) - einem Unternehmen in Wien mit Fokus auf agile Abwicklung von Projekten im öffentlichen Bereich. Betreuung von e-Akte Projekten in unterschiedlichen Organisationsgrößen der öffentlichen Verwaltung (www.techtalk-eakte.eu).

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