Vielleicht werden wir das einmal im Rückblick auch als eine „Zeitenwende“ bezeichnen: Auf seiner Sitzung vom 26. bis 28. März 2023 hat sich der Koalitionsausschuss der Bundesregierung auf eine weitgehende Aufweichung des Klimaschutzgesetzes geeinigt. Damit, so die Meinung vieler Experten, verabschiedet sich die Regierung von der Umsetzung der Beschlüsse der Pariser Klimakonferenz und verstößt gegen die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. Dahinter steckt aber nicht nur Ignoranz gegenüber der Dringlichkeit der Klimafragen, sondern ein reales Dilemma: mit klassischen Planungsmethoden ist Klimapolitik nicht erfolgreich zu betreiben. Könnten wir von agiler Seite denn bessere Vorschläge machen?
Schon zuvor (Ende Januar) hatte der Umweltverband BUND eine Klage gegen die Regierung vor dem OVG Brandenburg wegen Untätigkeit und Verstoßes gegen das Klimaschutzgesetz (KSG) eingereicht /Anmerkung 1/. Jetzt will die Regierung das KSG durch ihre Mehrheit im Parlament so ändern, dass es an ihren Gesetzesbruch angepasst wird. (Nebenbei auch eine ministerielle Botschaft an die Letzte Generation: „Damit genügend Druck zur Änderung von Gesetzen entsteht, muss man erstmal gegen Gesetze verstoßen!“)
Dimensionen der Komplexität in der Klimapolitik
Die Gründe für diesen Schwenk scheinen mir vielfältig. Einfache Schuldzuweisungen jedenfalls greifen zu kurz. Auf jeden Fall haben sie etwas mit Komplexität zu tun: es gibt verschiedene Dimensionen von Unsicherheit, mit denen Klimapolitik konfrontiert ist – und zwischen diesen Dimensionen gibt es Wechselwirkungen. Um es für mich selbst klarzukriegen, habe ich versucht, diese Dimensionen zu differenzieren – und bin auf die Zahl Vier gekommen. (Ich beschränke mich hier auf das Thema „Klimaneutralität von Gebäuden“, also den Entwurf eines Gebäude-Energiegesetzes (GEG). Sonst wird es unüberschaubar.)

- Frage der Zielklarheit: Herrscht in Politik und Gesellschaft Übereinstimmung bezüglich der Dringlichkeit, die Zielstellungen der Pariser Klimakonferenz auch wirklich umzusetzen (ähnlich zum „whatever it takes“ à la Draghi in der Finanzkrise)? Oder ist das nicht der Fall und einige lautstarke Zustimmungen sind nur Lippenbekenntnisse?
- Wissenschaftlich-technische Fragen: Welche technischen Lösungen sind aus wissenschaftlicher Sicht am besten geeignet, die Gebäude in Deutschland klimaneutral zu machen? Da gibt es die Auffassung, Wärmepumpen seien das Mittel der Wahl, und es gibt andere Vorschläge.
- Fragen der sozialen Gerechtigkeit: Wie groß wird der Aufwand sein? Und wer kann und soll diesen Aufwand tragen? Da gibt es die Auffassung, jeder Wohnungseigentümer sei gleich zu behandeln, ohne Rücksicht auf seinen Vermögensstand. Und dagegen die andere Meinung, man müsse differenzieren z.B. nach dem Alter der Eigentümer – weil Über-80jährige keine Bankkredite mehr bekommen.
- Machtfragen: Egal, wie die Antworten zu 1. und 2. aussehen mögen: Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die über ein größeres Einflussvermögen verfügen als andere. Das kann wirtschaftliche Macht sein, wenn z.B. Konzerne mit Arbeitsplatzverlusten drohen, sobald sie sich an Kosten beteiligen sollen. Das kann auch politische Macht sein, wenn bestimmte Wählergruppen mit Wahlenthaltung oder Wechsel zu anderen Parteien reagieren.
Das klassisch zentralistische Projektrezept
Ich grenze jetzt die Fragestellung dieses Artikels weiter ein: Angenommen, es gäbe
- völlige Übereinstimmung aller Beteiligten bezüglich des Ziels – also Orientierung am 1,5-2°-Ziel der Pariser Beschlüsse
- keine Machtfragen
- keine grundsätzlichen Differenzen bei der Frage 2 „soziale Gerechtigkeit“ (alle Parteien stehen grundsätzlich zur sozialen Marktwirtschaft – also die extremen neoliberalen Positionen mal beiseite gelassen).
Dann würde sich die Aufgabe des „Projektmanagements“ zur Zielerreichung reduzieren auf:
- Finden der besten Methode, um die wissenschaftlich-technischen Probleme zu lösen.
- Finden eines Verfahrens, um der sozialen Gerechtigkeit im Einzelfall Genüge zu tun. Also Fragen klären wie: „Wenn ein 78jähriger Hauseigentümer keinen Bankkredit für eine Wärmepumpe + Gebäudedämmung erhält, sich diese Investition aber in 19 Jahren amortisieren würde – wie kann man ihn dann die Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse bei der Finanzierung unterstützen?“
Der von Minister Habeck vorgelegte GEG-Entwurf ist klassisch verwaltungsjuristisch gestrickt. Zum einen ist er zentralistisch: auf Bundesebene werden einheitliche Regeln festgelegt, die dann im Einzelfall nur noch umzusetzen sind.
Dafür versucht er, alle denkbaren technischen Varianten (Wärmepumpen, Fernwärme mit Blockheizkraftwerken usw.) darzustellen und zu regeln /Anmerkung 2/. Ziel ist, alle Schlupflöcher zu verschließen, mit denen man sich an der 65%-Regel /Anmerkung 3/ vorbei mogeln könnte. In analoger Weise werden auch verschiedene soziale Besonderheiten (Alter des Eigentümers, siehe oben) mit Ausnahmen belegt und weitere Härtefallregelungen in Aussicht gestellt. Und schließlich werden auch Fördermaßnahmen angekündigt.
Verwaltungsjuristisch an der Herangehensweise ist das Bestreben, die Wirklichkeit mit ihrer unübersehbaren Anzahl von Varianten unter eine Kaskade von Regeln, Ausnahmen von den Regeln und Ausnahmen von den Ausnahmen zu fassen. Das führt in ein Hase-Igel-Spiel: immer, wenn eine Härte identifiziert ist und dafür eine Ausnahme formuliert wurde, hebt irgendwo ein Igel seinen Kopf und ruft: „Das ist aber ungerecht! Und wenn der Eigentümer nicht 80, sondern 78 ist? Reine Willkür! Und wenn der Eigentümer 80 ist, aber superreich? Oder wenn der 80jährige 50 ist, aber keinen Handwerker findet, weil alle überlastet sind? Oder oder oder …??“ Und der Hase hechelt hinterher und muss entweder Spekulationen über die Zukunft machen („ein Engpass bei Handwerkern ist ganz unwahrscheinlich!“) oder eine neue Sonderregel hinterherschieben. – Und alle Gegner der Klimapolitik reiben sich die Hände und mokieren sich über die „handwerklichen Fehler“ des Ministers.
Elemente einer agilen Herangehensweise
Was könnten Elemente einer agilen Herangehensweise werden? Dazu erste Ideen und Thesen:
- Klare Ziele: Statt des Versuchs, von oben alles besser zu wissen und einen Großen Plan aufzustellen, der von Passau bis zur Flensburger Förde alle Besonderheiten in den Griff kriegt: sich darauf beschränken, verbindliche Ziele vorzugeben. Diese müssen sich aus dem allgemein akzeptierten Ziel unter Punkt 1 herleiten lassen. Zum Beispiel wie es Habecks Gesetzentwurf vorsieht: „Ab 2024 müssen sich alle neuen Heizungen zu 65 Prozent aus erneuerbaren Energien speisen.“ (Ob das in der Realität als Ziel ausreicht oder nicht, kann ich nicht beurteilen. Das ist nicht mein Thema.)
- Dezentralisation: Das „Wie“ der Umsetzung aber konsequent dezentralisieren, also auf die kommunale Ebene verlagern. Das betrifft sowohl die wissenschaftlich-technischen Fragen – also ob Wärmepumpen oder andere Techniken. Als auch das Thema „soziale Gerechtigkeit“: die Gemeinden bekommen Mittel zur Verfügung gestellt, mit denen sie Erneuerungsprojekte fördern können. Diese Mittel können sie lokal verteilen, wobei bestimmte Transparenzstandards gewährleistet sein müssen (z.B. Mitwirkung von Bürgerräten). Und es gibt einen sozialen Ausgleich: ärmere Gemeinden (mit einem geringen Einkommensteueraufkommen) erhalten mehr Mittel als wohlhabende.
- Kommunen als Handelnde: Damit wird der Ansatz auch ein Stück weit auf die gemeinschaftliche Ebene gehoben. Nicht mehr unbedingt das einzelne Gebäude steht im Blickpunkt, sondern auch kollektive Ansätze kommen zur Sprache. Die Gemeinden können Initiativen nicht nur finanziell fördern, sondern selbst organisatorisch unterstützen. Blockheizkraftwerke für Fernwärme, kollektive Wärmepumpen statt vieler einzelner, Crowdfunding, genossenschaftliche Lösungen statt individueller usw.
So würde auch gemeinschaftliches Handeln vor Ort wieder eingeübt, das es heute oft nur noch bei der Freiwilligen Feuerwehr gibt. Und das werden wir bei der Bewältigung der Klimafolgen noch in großem Umfang brauchen. - Zentrale Austauschplattform: Zentral wiederum würde man eine Austauschplattform organisieren, über die alle lokale gefundenen Lösungen so aktuell wie möglich kommuniziert werden. So kann sich in der Praxis gewonnenes Wissen viral verbreiten.
Wie könnten die ersten praktischen Schritte aussehen?
Natürlich kann niemand davon ausgehen, dass ein Minister sich mit agilen Methoden beschäftigt und dann seine Agenda umschreibt. Dazu ist das verwaltungsjuristische Denken in den Bundesministerien, in die die Minister eingebettet sind, viel zu hegemonial. Die obigen 4 Punkte sollen nur zum alternativen Denken anregen – zur Umsetzung bestenfalls in ferner Zukunft.
Was könnten wir also proaktiv tun? Was wären erste Schritte auf das Endziel hin?
Ich denke, das ist der obige Punkt 3: Die Städte und Gemeinden als praktische Akteure im Klimaschutz statt nur als Bearbeiter von Bürgeranträgen. In den bisherigen Konzepten beschränkt sich die Rolle der Kommunen auf Rahmensetzungen (z.B. Vorgaben in Bebauungsplänen). Praktisch handeln sollen sie nur in Bezug auf die eigenen Liegenschaften und als Vorbilder („kein Wegwerfgeschirr auf Stadtfesten!“) /Anmerkung 4/.
Aber es gibt andere Beispiele. In Kingersheim (Elsass) hat die Stadtverwaltung eine Genossenschaft gegründet, die Solaranlagen auf Dächer baut – auch bei Privathäusern, deren Eigentümer nicht über die nötigen Finanzen verfügen. Dafür können andere Bürger:innen Genossenschaftsanteile erwerben. So wird der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Notwendigkeit und individueller Finanzierung aufgebrochen. Aber die Gemeindeverwaltung muss sich als „Solar-Unternehmer“ aktiv betätigen.
Warum sollte so etwas nicht auch bei der Bereitstellung von Gebäudewärme und bei Dämmungsmaßnahmen funktionieren? Warum soll eine Gemeinde – vielleicht über die Stadtwerke – nicht BHKW bauen und Fernwärme anbieten bzw. auch hier ein Genossenschaftsmodell initiieren? Das könnte man sogar mit Konzepten der Wohnraumverdichtung kombinieren und so neuen Wohnraum schaffen /Anmerkung 5/.
Nebenbei unterscheidet sich das Vorgehen von dem der Letzten Generation. Diese versucht, den Zentralstaat zu zwingen, verzweifelt notwendigerweise daran und begreift eine Verschärfung der Mittel als besonders konsequentes Handeln. Agilität versucht eher, klug zu sein wie die Schlangen: sich unter dem blockierten Zentralstaat durchzuschlängeln und auf der Ebene des Grases einen viralen Flächenbrand zu entfachen – konstruktiv.
Einladung zur Diskussion
Ich würde gerne mit interessierten Leser:innen darüber diskutieren. Für den 6. Juni 2023 von 16:00 bis 17:15 Uhr habe ich unter dem Motto „Teetrinken und sich austauschen am Nachmittag“ eine Zoom-Konferenz auf Eventbrite angelegt. Interessent:innen können sich dort anmelden: https://www.eventbrite.de/x/tee-und-austausch-dilemma-zentralistischer-klimapolitik-und-agile-wege-tickets-616468502887
Anmerkungen
/1/ Siehe https://verfassungsblog.de/niemand-steht-uber-dem-klimaschutz-gesetz/
/2/ Siehe zum Beispiel die Festlegungen zur Zulassung von Wärmenetzen https://www.geg-info.de/geg_novelle_2024/071b_%A7_anforderungen_anschluss_waermenetze_pflichten_waermenetzbetreiber.htm
/3/ Jede ab 2025 neu installierte Gebäudeheizung muss sich zu mindestens 65% aus erneuerbaren Energien speisen.
/4/ Siehe zum Beispiel für Hessen: https://www.fr.de/rhein-main/landespolitik/klimaschutz-enregie-energiesparen-klima-klimawandel-kommunen-emissionen-deutschland-interview-92201972.html?itm_source=story_detail&itm_medium=interaction_bar&itm_campaign=share
/5/ Vgl. „Wir bauen am Bedarf vorbei.“, Interview mit dem Mathematiker Andreas Beck, Frankfurter Rundschau, 5. April 2023, Deutschlandausgabe, Seite 12
Gute Idee mit dem Zoom-Austausch, leider funktioniert der Anmeldelink bei mir nicht…
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Hallo Matthias, der Link ging tatsächlich ins Nirwana. Jetzt müsste er funktionieren.
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