Kann man auch im Gesundheitswesen agil arbeiten?
Ich bin auf der Suche nach mehr Beispielen zu Lean, Scrum und Agil im Gesundheitswesen. Scrum ist eben nicht nur etwas für die IT und Lean ist eben nicht nur etwas für Automobilzulieferer. Lean, Scrum und Agilität sind dazu da, die Lieferfähigkeit einer Organisation zu verbessern. Wir müssen dazu andere Fragen stellen als „Ist Scrum für ein Krankenhaus geeignet“?
Worum geht es bei Agilität wirklich?
Das Ziel für Agilität ist nicht das Einführen neuer Methoden. Wir wollen die Dinge schaffen, die wir schaffen müssen oder die von uns erwartet werden. Das ist das Ziel. Das kann in der einen Organisation bedeuten, dass wir neue Produkte auf den Markt bringen wollen. In der anderen Organisation kann es bedeuten, mit den gleichen oder weniger Leuten mehr Ergebnisse zu liefern.
Die wichtigste Frage ist also: „Schaffen wir alles, was wir erreichen wollen?“ Diese Frage können wir uns in allen Bereichen des Gesundheitswesens stellen.
Was bewegt die Krankenhäuser?
Der Kostendruck auf die Krankenhäuser ist in den letzten 20 Jahren enorm gestiegen (siehe Themenseite beim Statistischen Bundesamt). Das hat verschiedene Gründe.
Es wird allerdings gern übersehen, dass die Kosten im Dienstleistungsbereich immer ansteigen, wenn die Produktivität in produzierenden Betrieben steigt. William J. Baumol hat dies genauer untersucht. (Die Baumol’sche Kostenkrankheit gilt auch im Bereich der Verwaltung oder der Bildung.)
Wenn ich mit Führungskräften in Krankenhäusern zu tun habe, höre ich folgende Themen:
- Wie stellen wir eine gute medizinische und pflegerische Betreuung sicher?
- Wie finde ich gutes Personal? Wie halte ich es, auch bei wenig finanziellem Spielraum? Wie kann ich die Arbeitsbedingungen und die Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen verbessern?
- Wie ersetze ich das Personal, dass in den nächsten Jahren in Rente geht? Wie sichere ich das Wissen von denen, die gehen?
- Wie löse ich den Investitionsstau für das Haus auf? Räume sind unansehnlich geworden. Stationen müssen saniert werden. Neubauten stehen an. Es werden neue Geräte gebraucht.
- Wie setze ich die anstehenden Projekte mit IT-Bezug um, z. B. KHZG, E-Akte, neue Laborsysteme, Digitalisierung der Prozesse?
Die Expert:innen können diese Liste noch weiter ergänzen.
Agil ist ein Teil der Lösung
Es wäre sicher gut, die politischen Rahmenbedingungen zu verbessern und die Verursacher mehr einzubeziehen. Die Kliniken haben einen Auftrag von Gesellschaft und Politik bekommen. Es wäre gut, wenn sich die Gesellschaft auch wieder mehr beteiligt. Wie übernehmen wir die Verantwortung für unsere Gesundheit?
Die einzelne, mittlere Führungskraft kann sich diese Fragen allerdings nicht stellen. Sie muss den Betrieb irgendwie hinbekommen. Agilität kann hier helfen. Besinnen wir uns auf die Ursprünge, das TWI-Programm:
- Wie bilden wir Fachkräfte aus?
- Wie sorgen wir für ein gutes Arbeitsklima?
- Wie verbessern wir Dinge jeden Tag?
Diese Punkte sind auch heute relevant. Im Teamworkblog habe ich eine Literaturliste zusammengestellt und weitere Beispiele aufgelistet. Es kommt schnell die Kritik, dass die Situation ja nicht vergleichbar sei. Das seien ja Häuser aus den USA oder dem Vereinigten Königreich. (Ich lade alle Leser:innen ein, selbst Beispiele als Kommentar hinzuzufügen.)
Ich denke, mit dieser Kritik machen wir es uns etwas zu einfach. Ausbildung, Wissenstransfer, stetige Verbesserung würden den Teams und Bereichen, die ich kennengelernt habe, sehr helfen. Allerdings ist die Sicht auf die Kosten vorherrschend und die kaufm. Direktoren sehen Agilität und Lean nicht als Lösung. Sie können die Ersparnisse für das Schließen einer Station besser ausrechnen als die Vorteile von kontinuierlicher Verbesserung.
Wie fängt man an?
Macht agile Projekte
Am schnellsten können die IT- und Projektleute andocken: stellt die Arbeitsweise für das Liefern von Projektergebnissen einfach auf Scrum um. Aus den schlechten Erfahrungen mit Teilzeit-Scrum kann ich nur warnen: Wenn Ihr mit entsprechender Vorarbeit Vollzeit-Scrum-Teams aufbauen könnt, habt Ihr viel, viel schneller sehr gute Ergebnisse. Von dem Versuch, wichtige Projekte so nebenbei mit Mitarbeiter:innen zu machen, die weniger als 50% dem Projekt zugeordnet sind, kann ich nur abraten. (Aber das Lustige an Erfahrungen ist ja bekanntlich, dass man sie selbst machen muss.)
Bent Flyvbjerg warnt in dem Paper „The Empirical Reality of IT Project Cost Overruns: Discovering a Power-Law Distribution“ vor den massiven Kostenüberschreitungen von IT-Projekten.
Im Teamworkblog gebe ich Starthilfe zu Scrum:
- Jan Fischbach: Wie starte ich ganz konkret mit einem neuen Scrum Team?, Teamworkblog, erschienen am 06. Sep 2021, abrufbar unter https://www.teamworkblog.de/2021/09/wie-starte-ich-ganz-konkret-mit-einem.html
- Jan Fischbach: Wie übernehme ich ganz konkret als Product Owner:in? (1/2), Teamworkblog, erschienen am 02. Jan 2023, abrufbar unter https://www.teamworkblog.de/2023/01/wie-ubernehme-ich-ganz-konkret-als.html Jan Fischbach: Wie übernehme ich ganz konkret als Product Owner:in? (2/2), Teamworkblog, erschienen am 03. Jan 2023, abrufbar unter https://www.teamworkblog.de/2023/01/wie-ubernehme-ich-ganz-konkret-als_02009158189.html
Organisiert die Teams und Bereiche agil
Wir können auch einzelne Teams oder ganze Bereiche auf einen Verbesserungsmodus umschalten. Dazu braucht es zu Beginn die klar Feststellung: „Wir sind mit unseren alten Methoden am Ende. Wir müssen anders arbeiten, wenn es besser werden soll.“ Danach wäre es gut, sich von allen Beteiligten noch einmal ein Mandat abzuholen: „Wollen wir etwas ändern? Machen alle mit?“ Nun können Teamleiter:innen und Scrum Master:innen mit ihrer Verbesserungsarbeit anfangen.
Auch dazu gebe ich Starthilfe im Teamworkblog:
- Jan Fischbach: Agil Arbeiten in internen Service-Abteilungen, Teamworkblog, erschienen am 15. Juli 2024, abrufbar unter https://www.teamworkblog.de/2024/07/agil-arbeiten-in-internen-service.html
Agile Begriffe
Ich würde bei der Umsetzung eine Sprache wählen, die zum Alltag der Mitarbeiter:innen passt. Wer mit unverständlichen Anglizismen und Fremdwörtern um sich wirft, schreckt eher ab. Es geht um Ergebnisse und um Verbesserungen. In diesem Blog habe ich bereits beschrieben, dass die Ideen hinter Scrum schon 150 Jahre alt sind.
Die Umsetzer:innen sollten für sich schon klare Begriffe benutzen. An verschiedenen Stellen im Netz gibt es bereits gute Beschreibungen zum Nachlesen.
- Lean Lexicon in der Leanbase: https://leanbase.de/lexicon (deutsche Sprache)
- Lexicon beim Lean Enterprise Institute: https://www.lean.org/explore-lean/lexicon-terms/ (englische Sprache)
- Scrum Glossar der scrum.org: https://www.scrum.org/resources/scrum-glossary (englische Sprache)
- Agile Glossary der Agile Alliance: https://www.agilealliance.org/agile101/agile-glossary/ (englische Sprache)
Wenn Ihr Euch im Gesundheitswesen verbessert wollt, schaut Euch an, wie Lean, Scrum und Agile das machen.
(Ich freue mich, wenn Leser:innen in den Kommentaren auf konkrete Beispiele aus D-A-CH hinweisen. Das Beitragsbild stammt von Foto von camilo jimenez auf Unsplash)
Was ich sehr inspirierend finde, ist die Arbeit des Arztes und Agilisten Oliver Emmler, der Katastropheneinsätze mit Ärzten und anderen Professionen agil umsetzt. https://www.youtube.com/watch?v=jd-lwnax2wU, https://meinscrumistkaputt.de/?s=oliver+emmler
Ja, Oliver Emmler ist toll.