Bild: von SK-Prinzip
Warum sind demokratische Gesellschaften in so viele Konflikte und Machtkämpfe verwickelt?
Weil wir uns seit jeher einem Entscheidungsprinzip verpflichtet fühlen, das zwar unbestreitbar Großes für die Entwicklung der Demokratie geleistet hat, dessen negative Auswirkungen aber nicht genügend beachtet werden:
Wo immer das demokratische Mehrheitsprinzip eingesetzt wird, hat die Mehrheit die Entscheidungsmacht und kann damit ihre Interessen durchsetzen. Wer sich behaupten will, muss daher möglichst viele Anhänger um sich scharen, um die anderen nach Bedarf niederstimmen zu können. An Stelle der Sachthemen tritt der Kampf um Gefolgsleute in den Vordergrund. Immer dann, wenn über vitale Interessen abgestimmt wird, spaltet dieses Entscheidungsprinzip die Gruppe in streng getrennte Lager. Machtkämpfe und Konflikte sind die Folge.
Die Kluft zwischen den politischen Parteien ist nur zu einem geringen Teil durch unterschiedliche Ideologien erklärbar. Solange der Erfolg von der Zahl der Gefolgsleute abhängt, die man selbst hat, aber der Gegner nicht hat, sind Gemeinsamkeiten mit dem politischen Gegner nicht möglich. Es kommt einem politischen Selbstmord gleich, die Ideen des Gegners anzuerkennen, statt sich davon scharf abzugrenzen und sie möglichst abzuwerten.
Trotz dieser ständigen Konflikte und daraus resultierenden Fehlentwicklungen halten wir es für ganz normal, dass in der Demokratie um Mehrheiten und Macht gekämpft werden muss. Unsere kriegerische Vergangenheit hat unser Denken über Jahrtausende derart nachhaltig geprägt, dass wir keine Alternativen zum Ringen um Sieg oder Niederlage entwickelt haben. Wir haben dieses Sieger–Verlierer–Prinzip von Generation zu Generation weitgehend kritiklos weitergegeben. Solange wir am konflikterzeugenden Mehrheitsprinzip festhalten, wird es auch weiterhin die Gesellschaft in politische Lager spalten und den Parteienstreit schüren.
Befreiung aus dem Sieger–Verlierer–Prinzip
Und doch ist eine Befreiung daraus denkbar einfach. Wir können bei unseren Entscheidungen das Mehrheitsprinzip in sein Gegenteil verkehren: Statt uns für jenen Lösungsvorschlag zu entscheiden, der die meisten Befürworter hat, können wir – vereinfacht gesagt – jenen Vorschlag wählen, der die wenigsten Gegner hat. Das Systemische Konsensprinzip oder SK-Prinzip fordert genau diese grundsätzliche Umkehr und eröffnet damit ein neues Erfolgskriterium: Gewinnen soll jener Vorschlag, der von der gesamten Gruppe die geringste Ablehnung erfährt.
Da Menschen immer dem Erfolg nachjagen, orientieren sie ihr Verhalten auch in diesem Fall am neuen Erfolgsprinzip und trachten daher, die Zahl der Gegner und ihre Ablehnung zu verringern, um den eigenen Vorschlag durchzubringen: dazu müssen Sie die Anders-Denkenden verstehen und deren Interessen im ihrem Vorschlag so gut es geht berücksichtigen. An Stelle von Kampf um Sieg oder Niederlage entwickeln die Beteiligten nun im eigenen Interesse Entgegenkommen und bemühen sich um Interessenausgleich. Aus Konflikterzeugung wird überraschend schnell und nachhaltig das Streben nach Konfliktlösung.
Bei Gruppenentscheidungen nach dem SK-Prinzip geht es dementsprechend nicht darum, die Wünsche einer Teilgruppe oder der Mehrheit zu erfüllen, sondern um Beschlüsse, die von allen möglichst gut mitgetragen werden. Dadurch erhält jede/r die Möglichkeit, sich einzubringen und mit den eigenen Vorstellungen etwas zu bewegen, ohne dafür Mehrheiten mobilisieren zu müssen. Das einzelne Gruppenmitglied wird aufgewertet und kann seine Kreativität im Sinne des gemeinsamen Zieles einbringen. Die Konfliktenergie der Gruppe wird so in einem konstruktiven Wettbewerb nutzbar gemacht, statt sie in zerstörerischem Gegeneinander auszutragen.
Der einfachste Fall des SK-Prinzips
Die Gruppe entwickelt möglichst viele Lösungsvorschläge, und wählt dann jenen aus, der dem Konsens und damit dem Interessenausgleich am nächsten kommt (siehe).
Dies wird durch genaue Messung des Konfliktpotenzials jedes einzelnen Lösungsvorschlags verwirklicht: Bei „Systemischen Konsensieren“ werden also zuerst möglichst viele Vorschläge eingebracht und dann kann jedes Gruppenmitglied seine subjektive Ablehnung, Unzufriedenheit, Widerstände, Ängste, Bedürfnisse und Nöte gegenüber jedem einzelnen Vorschlag durch Widerstandstimmen (W-Stimmen) ausdrücken:
- 0 W-Stimmen bedeutet: Ich habe keinen Einwand gegen diesen Vorschlag.
- 10 W-Stimmen bedeuten: Dieser Vorschlag ist für mich unannehmbar.
- Zwischenwerte werden nach Gefühl vergeben.
Durch Zusammenzählen der W-Stimmen, die ein Vorschlag von allen Beteiligten erhalten hat, ergibt sich dessen Gruppenwiderstand. Er ist zugleich ein sehr genaues Maß für das Konfliktpotenzial. Dadurch entsteht eine eindeutige Rangordnung der Vorschläge hinsichtlich ihrer Nähe zum Konsens. Der Vorschlag mit dem geringsten Konfliktpotenzial kommt dem Konsens am nächsten, er gilt als «konsensiert». Es ist also die Tauglichkeit eines Vorschlags in den Augen aller Beteiligten, die entscheidet, ob und wie gut er von der ganzen Gruppe akzeptiert wird.
Dabei werden keinerlei Anforderungen an den guten Willen oder die Moral der Beteiligten gestellt. Die Methode ist auch bei heftigen Interessenkonflikten und Streit einsetzbar, denn sie schreitet selbsttätig in Richtung Konsens fort. Da es stets einen Vorschlag mit dem geringsten Gruppenwiderstand gibt, ist Konsensieren nicht blockierbar. Es eignet sich für Entscheidungen in der Familie, im Freundeskreis, in Vereinen, in Gruppen jeder Größe, aber auch in Wirtschaft und Politik.
Das Online-Konsensier-Programm unterstützt sowohl die lokale als auch die dezentrale Abwicklung für beliebig große Gruppen weltweit. Der kreative Prozess ist unabhängig von der Größe der Gruppe und funktioniert auch bei internen Lagerbildungen oder zwischen politischen Parteien und Staaten. Die Beteiligten bewegen sich systembedingt vom Konflikt zum Konsens.
Der konsensierte Vorschlag
- kommt dem allgemeinen Interessenausgleich am nächsten …
- erzeugt die geringste Unzufriedenheit in der Gruppe …
- wird von allen gemeinsam am leichtesten angenommen …
- erzeugt die geringsten Reibungsverluste bei der Umsetzung…
- und kommt daher als Problemlösung am ehesten in Frage.
Falls das gemessene Konfliktpotenzial noch zu hoch ist – also die Akzeptanz zu gering ist – muss nach besseren Lösungen gesucht werden. Alle haben die gleiche Chance die günstigste Lösung zu finden. Vorschläge von Minderheiten oder sogar Einzelnen haben ungeschmälerte Erfolgsaussichten.
Die Stimmenzahlen als Machtfaktor haben ausgedient. Wird die Lösungssuche nach dem SK-Prinzip vereinbart, so entsteht das Machtparadoxon: Wer machtorientierte oder egoistische Vorschläge einbringt, wird Widerstand ernten und kann sich damit nicht durchsetzen. Erfolgreich kann nur sein, wer fähig und bereit ist, in seinen Vorschlägen neben den eigenen auch die Interessen der anderen zu berücksichtigen. Daher muss man sich bemühen, die Wünsche und Meinungen der Anderen zu erkunden und sie zu verstehen, um sie angemessen einbeziehen zu können. In der Gruppe stellt sich daher aus systemischen Gründen ein Gruppenklima gegenseitigen Verstehens und Entgegenkommens ein. Alle wissen, dass es jetzt ausschließlich um die günstigste Lösung aus der Sicht aller Beteiligten geht.
Entscheidungsinstrument ohne Machtstrategie
Systemisches Konsensieren erweist sich als ein Entscheidungsinstrument, ohne ein Machtinstrument zu sein. Nicht machtstrebende Egoisten, sondern gemeinschaftlich denkende Menschen setzen sich durch. Es entsteht eine totale Verhaltensumkehr gegenüber heute üblichen egoistischen und rücksichtslosen Machtstrategien.
Lösungsvorschläge, die das Problem nicht befriedigend lösen, erregen Widerstand. Das bedeutet, dass Gruppen, die nach dem SK-Prinzip entscheiden, weder einen untauglichen „Weg des geringsten Widerstands“ gehen, noch den viel geschmähten und meist untauglichen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ entwickeln, sondern ausschließlich vollständige Lösungen für das aktuelle Problem. Nirgends ist Platz für Feilschen und Handeln oder die Suche nach Kompromissen, mit denen die angebotenen Gesamtlösungen wieder zerstückelt, verstümmelt oder verwässert werden könnten.
In allen Gesellschaftsbereichen, in denen mittels Konsensieren entschieden wird, entsteht während der Näherung an den Konsens ein kollektives Bewusstsein über gemeinsame Ziele und die Grenzen der Zumutbarkeit. Dadurch gelingt es, Probleme und Interessenkonflikte dauerhaft zu lösen. Wir leisten damit einen Beitrag zum Entstehen einer lebenswerteren und friedlicheren Welt.
Erstveröffentlichung auf dem Blog der Initiave Wirtschaftsdemokratie mit freundlicher Genehmigung von Siegfried Schrotta und Erich Visotschnig
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Ergänzung:
Das Werkzeug des Bewertens der Vorschläge wird nur bei Bedarf als Zwischenwertung und am Ende des Prozesses eingesetzt, um die Nähe der einzelnen Vorschläge zum Konsens (mit ausreichender Genauigkeit) festzustellen. Es entsteht ein gemeinsames Bewusstsein darüber, wie nahe man sich mit welchen Vorschlägen gekommen ist, und wie hoch das Konfliktpotenzial noch ist. Ob man also weiter nach Lösungen suchen muss, oder bereits die Beschlussreife erreicht hat. Die Antriebsquelle in diesem Prozess besteht in der Vereinbarung, jenen Vorschlag als den besten anzuerkennen, der dem Konsens am nächsten kommt.
Bei der Soziokratie versucht ein Moderator die Bedürfnisse aller Beteiligten durch immer bessere Vorschläge zu erfüllen, bis alle Einwände behoben sind. Es ist unbestritten, dass dies bei unvereinbaren Interessen unlösbar sein kann (wodurch die Entscheidung blockierbar wird). Auch die Fähigkeit des Moderators spielt dabei besonders stark mit.
Im Prozess des Konsensierens hingegen kommen die Vorschläge von den Beteiligten selbst und es wird nicht unbedingt der absolute Konsens angestrebt, sondern die bestmögliche Näherung. Die Gruppe ermittelt zusätzlich die „Grenze der Zumutbarkeit“, eine äußerst wertvolle Entscheidungshilfe (deren Erklärung hier zu weit führen würde). Bei der Näherung an den Konsens muss diese Grenze jedenfalls überschritten sein, dann ist die Entscheidung nicht mehr blockierbar.
Divergierende Interessen können so weit auseinander liegen, dass sie nicht alle mit einer einzigen Entscheidung erfüllt werden können. Dadurch kann es selbstverständlich auch beim Konsensieren Enttäuschte geben, wenn ihre Interessen nicht dem allgemeinen Konsens entsprechen. Doch diese Personen sind keine Besiegten im Sinne eines Kampfes gegen Kontrahenten, sondern sie sind Mitglieder einer Gruppe, die ihnen zu verstehen gibt, was zumutbar ist. Diese Erfahrung kann im kleinen Kreis aber auch in großen Gruppen und bei Entscheidungsprozessen der Öffentlichkeit nützlich sein.
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Anbei noch der Hinweis zum Buch der Autoren: Systemisches KONSENSIEREN: Der Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg
Die Kurzbescheibung zum Buch:
Auf den Geist, auf das Bewusstsein kommt es an, mit dem wir gemeinsam entscheiden und handeln. Doch Geist lässt sich nicht verordnen. Deshalb ist es sehr wertvoll, ein Instrument an der Hand zu haben, das allein schon durch seine systembedingten Wirkkräfte den Geist und das Bewusstsein in zweckdienliche Bahnen lenkt. Dieses Instrument heißt „Systemisches KONSENSIEREN“. Es hat einen außergewöhnlichen Einfluss, unter dem sich die Beteiligten wie von selbst dem größtmöglichen Konsens nähern. Die Gruppe findet Lösungen, die wirksam und gleichzeitig für alle tragbar sind. Dabei gibt es keine klassischen „Verlierer“, die sonst gegen die Anderen Widerstand aufbauen würden.
Was kann man sich Besseres wünschen, als gemeinsam die besten Lösungen zu finden, die letztendlich von allen bereitwillig angenommen werden?
Ein Gedanke zu „Systemisches Konsensieren als Entscheidungsinstrument, ohne ein Machtinstrument zu sein“