Eine der Kernideen des Lean Managements, die sich auch in der agilen Welt als fester Bestandteil wiederfindet, ist die Idee des Kaizen. Kaizen, dieses Wort ist aus dem Japanischen entlehnt und bedeutet in etwa Veränderung, Wandel zum Besseren. Es wird gerne mit kontinuierlichem Verbesserungsprozess übersetzt, wobei nach meinem Empfinden diese Übersetzung der dahinterstehenden Philosophie nicht gerecht wird. Eine handelt sich um eine Philosophie, die ein ganzheitlicheres Verständnis aufweist, als es die Übersetzung als kontinuierlichen Verbesserungsprozesses nahelegt.
Begriffsdefinition

Was verbirgt sich hinter dem Begriff genau? Kaizen ist eine Arbeits- und Denkphilosophie, die die schrittweise (evolutionäre) Verbesserung und Perfektionierung in den Fokus stellt. Wichtig dabei: alle, also jede einzelne Person, unabhängig wo sie in der Hierarchie steht, trägt dazu bei. Im jeweils eigenen Umfeld, im Team, auf Ebene des Sachgebiets, des Fachbereichs oder der ganzen Organisation. Kaizen ist also kein Thema der Sach-, Fachgebiets- und Dezernatsleitungen und ihrer Besprechungsrunden, sondern findet auf allen Ebenen statt. Es ist Aufgabe aller in der Organisation, gleich welcher Tätigkeit sie nachgehen. Alle sind gefordert und alle sind gefragt, aktiv mitzuwirken. Das allein ist für traditionell-hierarchische Strukturen, zu denen man gerne auch die öffentliche Verwaltung zählt, fast schon eine Revolution! Nicht die Amtsleiterrunde befasst sich exklusiv damit, sondern alle, die damit zu tun haben. Und dies auch noch aus gutem Grund.
Kaizen ist funktionsübergreifend und ganzheitlich. D. h. man betrachtet die Zusammenhänge über das eigene Arbeitsfeld hinaus und bezieht die Wirkungen auf diejenigen mit ein, mit denen man mittelbar und unmittelbar zusammenarbeitet. Damit ist nicht nur der Kollegenkreis gemeint, sondern ausdrücklich auch alle anderen Beteiligten und Betroffenen. Das Ganze, mit all seinen Zusammenhängen, wird dabei in den Fokus genommen. Genau das, was wir als Agile Verwaltung anstreben. Als wichtigster Maßstab dient dabei der „Kunde“, der als Referenzpunkt zur Beurteilung dient, ob das angestrebte Ergebnis einen tatsächlichen Mehrwert darstellt. Das erinnert doch irgendwie an die 6 Kanbanprinzipien, richtig? Das kommt nicht von ungefähr. Und auch die Prinzipien des agilen Manifest treffen ähnliche Aussagen.
Kaizen ist kein Projekt mit einem definierten Beginn oder einem festgesetzten Ende, sondern findet immer und fortlaufend statt. Es ist damit keine einmalige Geschichte, sondern findet ständig statt. Es gibt immer etwas, was man verbessern kann. Das heißt nicht, dass wir jeden Tag „Verbesserungsideen“ entwickeln müssen. Dafür gibt es die regelmäßigen Kaizen-Runden in Form von Reviews und Retrospektiven. Aber es bedeutet, mit wachen Augen durch den Alltag zu gehen und im Sinne der 10 Regeln der Kaizen-Philosophie Fehler – sofern möglich, sofort – nachdem wir sie entdeckt haben, zu beheben.
Übertragen auf die Verwaltung bedeutet es, dass wir alle Mitarbeiter*innen aufgefordert sind, aktiv zu beobachten und mitzuwirken, die Arbeit und Abläufe zu verbessern. Die Aufgabe ist kein Privileg einer hierarchischen oder fachlichen Funktion. Sie ist Aufgabe jedes Einzelnen im jeweiligen Arbeitsumfeld. Alle sind aufgefordert, darauf zu achten, wo sich mögliche Potenziale finden, aufgefordert, Handlungspotentiale beim Namen zu nennen. Und dabei geht es gar nicht um den großen Wurf, sondern um die Frage, wie wir schon mit kleinsten Verbesserungen unsere Arbeitsabläufe so weiterentwickeln können, dass wir bessere Arbeitsergebnisse erzielen.
Maßstab der Verbesserung
Wie so etwas in der kommunalen Praxis aussehen kann, zeigt das Beispiel des städtischen Bauhofs in Herrenberg, der das eherne Prinzip der kontinuierlichen Weiterentwicklung und Verbesserung in sein Alltagsverständnis gänzlich integriert hat. Und dies mit sichtbaren Erfolgen. Verbesserungsmaßnahmen müssen sich an dort an zwei Leitprinzipien messen lassen, nämlich ob sie a) dazu beitragen, dass für den „Kunden“ (Bürger, Auftraggeber, Verwaltung …) ein Mehrwert geschaffen wird und b) eine Arbeitserleichterung für die Mitarbeiter erzeugt wird. Es geht also eben nicht darum, Prozesse und Abläufe möglichst kostensparsam zu optimieren, sondern für alle Beteiligten spürbaren Nutzen zu erzeugen.
Kaizen in diesem Sinne ist weit mehr als Qualitätsverbesserung. Das Ziel ist es, „besser“ zu werden. Besser zu werden im Sinne von Ergebnissen, die das Leben für die Beteiligten einfacher, qualitativ hochwertiger und/oder effizienter machen. Es geht also dabei nicht nur darum, effizienter, sondern auch effektiver zu werden. Eine Ergebnisverbesserung kann daher auch sein, dass wertschöpfende Arbeit erleichtert wird, nicht-wertschöpfende Arbeit (also Arbeit, die keinen Mehrwert und Nutzen stiftet), reduziert wird.

Scrum macht sich dieses Prinzip im Review, wenn es um die Ergebnisse geht und in der Retrospektive in Bezug auf den Arbeitsprozess zu eigen. Im Review betrachtet das Team das Arbeitsergebnis zusammen mit den Anspruchsgruppen und prüft, ob das Ergebnis passt und stimmig ist. Entwickelt Ideen, was im nächsten Schritt verbessert werden kann, um noch näher an das Wunschziel zu kommen und antizipiert neue Erkenntnisse. In der Retrospektive betrachtet das Team die Art der Zusammenarbeit und überprüft, was das Team bremst und wie sich hier der Prozess der Zusammenarbeit entwickeln lässt.
Voraussetzung
Das Ganze funktioniert nicht von allein. Es braucht bestimmte Rahmenbedingungen, die gegeben sein müssen. Denn das Potenzial, um Verbesserungen zu erkennen und zu entwickeln, schlummert dort, wo die Arbeit gemacht wird. Die jeweiligen Fachkräfte wissen am besten, was möglich ist und was nicht. Die Sachbearbeiter*innen sind es, die am nächsten am Thema sind, nicht die Sachgebietsleiter und Fachbereichsleiter. Sie sind die Treiber der Verbesserung. Sie kennen die Schwächen und Tücken des Arbeitsprozesses, verstehen, wie die Abläufe funktionieren. Sie sind im Kontakt mit dem Bürger*innen, stehen im Dialog mit den jeweiligen Anspruchsgruppen. Und damit kommen wir schon zu den Voraussetzungen, damit wir Verbesserung mit Leben füllen können.
Ein Fehler oder Irrtum kann in der Verwaltung enorme Auswirkungen haben. Ein falscher Bescheid hat für die betroffene Person unter Umständen existenzielle Folgen. Als Verwaltung greifen wir tief in die Lebenswelt der Bürger*innen ein. Fehler und Irrtümer gilt es daher zu vermeiden. Und weil Irrtümer und Fehler etwas sind, ist es in der tradierten Kultur fremd, über Probleme und Fehler offen zu sprechen. Obwohl wir alle wissen, dass sie stattfinden. Zur Beruhigung – es kein Privileg der öffentlichen Verwaltung, über das wir hier sprechen, sondern findet sich sektorenübergreifend in allen Organisationen. Dennoch müssen wir lernen, dass Kaizen – das prozessorientierte und beständige Bemühen, die Dinge besser zu machen – zunächst eine Fehler- und Lernkultur voraussetzt, die es ermöglicht, ungestraft über mögliche Probleme zu sprechen. Dabei hilft anzuerkennen, dass die Überbringer der schlechten Nachricht in aller Regel selbst nicht die Ursache sind. Sie liegt häufig tiefer, versteckter. Der vermeintlich offenkundige Grund ist in aller Regel nur ein weiteres Symptom. D. h. wir müssen zunächst anerkennen, dass aufgedeckte Irrtümer und Fehler Lernchancen darstellen, die uns die Gelegenheit bieten, besser zu werden.
Unser oberstes Ziel muss es sein, Fehler und Irrtümer zu erkennen, bevor sie ihre Wirkung zeigen. Je früher wir sie bemerken, desto schneller können wir die Ursachen beheben. D. h. dass es einen Rahmen braucht, in dem die Suche nach Fehlern belohnt und gefördert wird, weil diese dazu führt, die Dinge besser zu machen. Wer einen Fehler bemerkt, einen Irrtum entdeckt und die Ursachen beseitigt, wird gefeiert! Wer Verantwortung übernimmt, weil sie oder er eine Lösung sucht und liefert, die dazu beiträgt, Fehler und Irrtümer zu wiederholen, ist Vorbild.

Deshalb gibt es regelmäßige Reflexionsrunden, in denen wir uns austauschen, prüfen, wo es Probleme, Hindernisse gibt und welche neuen Erkenntnisse wir haben. Der Scrum Leitfaden zum Beispiel definiert ganz klar einen maximalen Zeitabstand von 4 Wochen zwischen den Reflexionsrunden. Besser noch kürzere Abstände. Wer regelmäßig reflektiert, lernt beständig hinzu, wird effektiver und am Ende effizienter. Daher ist die Selbstreflexion auch fester Bestandteil eines guten Selbstmanagements auf der Individualebene, aber auch Voraussetzung für jedes Team und jede Organisation. Damit ist der organisatorische Rahmen, der die Reflexion ermöglicht, ebenso ein Erfolgsfaktor der Kaizen-Philosophie wie eine ausgeprägte Lern- und Fehlerkultur. Die Herausforderung ist dabei, diesen Rahmen in den Verwaltungsalltag zu integrieren. Es bietet sich an, – sofern man nicht in Entwicklungsprojekten arbeitet – diese Reflexionsrunden als festen Bestandteil der „Teambesprechungen“ auf Sachgebiets- und Fachbereichsebene zu integrieren.
Als bekennende Freunde der Agilität haben wir erkannt, dass Veränderungen etwas Alltägliches sind. Sie gehören zum Leben dazu. Sie sind fester Bestandteil unseres Erlebens und Handelns. Nichts bleibt, wie es ist. Alles ist im Fluss. Und damit ist Veränderung etwas Selbstverständliches. Gesetze verändern sich, die Lebensumstände der Bürger*innen verändern sich, die Herausforderungen des Alltags sind täglich andere. Dieses Anerkennen ist ebenfalls Voraussetzung für Kaizen, für die die kontinuierliche Weiterentwicklung und Verbesserung. Aber auch dies ist für uns in der Verwaltung nicht ganz so selbstverständlich, wie es zu sein scheint. Unser Auftrag lautet ja, genau das Gegenteil sicherzustellen. Verwaltung hat Stabilität, Rechtskonformität und Verlässlichkeit zu schaffen. Wie soll das damit zusammenpassen, dass alles im Fluss ist? Ein echter Spagat, der mitunter nicht einfach ist. Hier hilft es sich zu vergegenwärtigen, dass der Rahmen, in dem wir uns bewegen, das „stabile“ Element darstellt und das eigentlich Veränderliche, in den Details der Umsetzung liegt. Stabilität und Agilität schließen sich nicht aus, sie bedingen einander. Das Sicherstellen eines stabilen Handlungsrahmens ermöglicht es uns, auf die Veränderungen reagieren zu können. Wenn gleichzeitig alles im Fluss ist, wie sollten wir uns auf das Neue einstellen können? Eben daher gehört ein klarer Handlungsrahmen ebenso dazu, wie das Anerkennen, dass die Dinge sich ständig verändern und wir immer wieder schauen müssen, ob die Dinge, die wir tun, noch zielführend sind. Wir wissen, es ist unmöglich alles regeln zu wollen. Denn wir wissen nicht, was die Zukunft bringt.
Fazit
Kaizen, die ganzheitliche Philosophie des kontinuierlichen Weiterentwickelns und Verbesserns, ist fester Teil einer Kultur der agilen Verwaltung. Eine agile Verwaltung weiß, es gibt keine perfekten Lösungen, es gibt immer wieder Dinge, die sich verändern und auf die reagiert werden muss. Sie weiß auch, dass wir beständig daran arbeiten müssen, die Dinge zu entwickeln. Wir wollen als agile Verwaltung unserem Auftrag gerecht werden, in dem wir danach streben, die beste mögliche Lösung zu finden – für alle Beteiligten.
Ganz herzlichen Dank für diesen Beitrag! Ich suchte gerade nach einer guten sachlichen Bestätigung, dass mir die „1:1“-Verbindung von KVP und Agile Bauchschmerzen bereiten darf, und hier ist es wunderbar nachvollziehbar erläutert.
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Hallo Herr Michl, ein wirklich sehr interessanter Beitrag von Ihnen. Ich bereite gerade eine Promotion an der Universität Potsdam vor. Vorstellen kann ich mir das Thema „Kontinuierliche Verbesserungsprozesse mit Lean Management in der öffentlichen Verwaltung“ vor allem im Bezug auf das OZG. Dort müssen im Rahmen des Gesetzes 575 Leistungen digitalisiert werden. Jedoch stellt sich mir die Frage, was danach passieren soll. Denn eine „gute“ Leistung passt sich stetig den Veränderungen der Umwelt an. Anforderungen an „gute“ Leistungen ändern sich ständig. Das OZG-Leistungen auch auch in Zukunft kontinuierlich weitergedacht werden, sehe ich aktuell nicht. Digitalisierung wird hier eher Mittel zum Zweck. Schlechte Prozesse werden schlichtweg digitalisiert und bleiben schlecht. Hier sehe ich vor allem KAIZEN als Lösungsansatz. Sehen sie das ähnlich? Ist Lean Management in der ÖV noch forschenswert? Oder hat sich seit der Bewegung zum schlanken Staat hier weiterhin nichts getan bzw. lässt sich das Thema nicht auf die ÖV adaptieren? Ich sehe hier aktuell ein sehr starkes Aufleben des Themas. Ich hoffe Sie können mir Anregungen geben. Momentan gestaltet sich vor allem der Forschungsbedarf als größtes Problem für mich heraus.
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Guten Morgen,
das Thema ist noch lange nicht durch. Und durch aus – auch wissenschaftlich – spannend.
Lean wurde sehr lange als „schlank“ im Sinne von Kostenoptimierung wahrgenommen. Interessant ist, dass im Toyota-Umfeld mit dem neuen Flow-System-Modell Agile und Lean im Sinne einer Beidhängigkeit (Ambidextrie) zeigen, was möglich und notwendig ist. Wenn man das Ganze auf die Verwaltung überträgt, könnte diese Verknüpfung aus Lean und Agilität (die ja ideengeschichtlich viele Parallelen aufweisen) die von Ihnen beschriebene Herausforderung auflösen.
Am Ende muss eine effektive und effiziente Organisation „Agilität“ und Stabilität“ beherrschen. Das macht für mich die Kombination auf Lean und Agile gerade auch für öffentliche Verwaltungen sehr interessant.
Wenn sie wollen, können wir uns gerne für einen persönlichen Austausch kurzschließen.
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Hallo Herr Michl, das können wir sehr gern tun. Gefühlt laufe ich aktuell von einer Sackkasse zur nächsten. Wie kann ich Sie dazu am besten erreichen? Gern können Sie mir Ihre Kontaktdaten auch über meine E-Mailadresse zukommen lassen. Entweder privat: Julien.goedicke@web.de oder beruflich Julien.goedicke@fujitsu.com. Vielen Dank vorab für Ihre nette Antwort und BG
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