Was einer Bibliothekarin in einem Krisenstab an Agilität u.a. begegnete

Auf eigenen Wunsch war ich ein halbes Jahr während der Flüchtlingskrise zum Regierungspräsidium Gießen bzw. zur Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung
(HEAE) abgeordnet. Obwohl Germanistin und Bibliothekarin wurde ich der Projektgruppe „Flüchtlinge/Projektgruppe 9 Medizin“ (Pro 9) zur Unterstützung in organisatorischen Belangen zugewiesen und begleitete strukturelle Anpassungen bezüglich der Organisation der Erstuntersuchung von Asylsuchenden – diese erfolgen für Hessen zentral in Gießen. Nachfolgend schlaglichtartig einige Erfahrungen auch mit Blick auf eine „agile Verwaltung“:

  1. Stab bricht Linie und die Lage verändert alles
    In Zeiten wie der Flüchtlingskrise des letzten Jahres werden auch Behördenstrukturen vorübergehend elastisch. Ein Krisenstab – in meinem Fall eine ministeriell eingerichtete „Projektgruppe Flüchtlinge“ beim Regierungspräsidium – bricht die Linienorganisation. Unvorhersehbare Anforderungen eines jeden Tages werfen selbst brandaktuelle Überlegungen innerhalb von Minuten um. Wortreiche Erklärungen und Abwägungen sind ein Luxus der Nicht-Krise. Mails, die mit den schlichten Worten „Vollzug melden!!!!!!!“ enden, sind gewöhnungsbedürftig, aber an der Tagesordnung.
  2. Kommunikation – auch in der Krise das Zauberwort
    Der Tag in der Projektgruppe beginnt mit der großen Lagebesprechung – kurz nur „die Lage“ genannt. Hieran nehmen etwa 30 Vertreter/innen der dreizehn „Unter“-Projektgruppen teil, die sich im Projektbüro mit dem Leitungsstab zeitweise täglich, in entspannten Phasen nur zwei Mal in der Woche, morgens treffen. Reihum wird berichtet und das weitere Vorgehen in knappen Worten beraten. Die Informationen werden von dort in die Projektgruppen getragen, die zu Hochzeiten mehrmals am Tag zusammentrafen und das Tagesziel neu definierten. Präzise und aktuelle Informationen und strukturelles Denken sind entscheidend: Wer muss was wissen? Um Informationen in notwendiger Bewegung zu halten, dient in der Projektgruppe Medizin auch das morgendliche Briefing mit allen Mitarbeiter/inne/n in der medizinischen Untersuchungs- und Versorgungspassage (MUVP) – inklusive Sicherheits-, Dolmetscher- und Bundeswehrsanitätspersonal. Besondere Rituale für den Start in den Tag –
  3. Not kennt (fast) kein Gebot
    Angesichts tausender Menschen, die frierend und ängstlich auf eine Unterbringung und Versorgung warten, sind Entschlussfreude und kreative Lösungsansätze zwingend. Das geht – und erstaunlich sehr gut mit Beamtenschaft, reaktivierten Pensionären und Behörde zusammen – mit Gestaltungswillen, höchster Motivation und Entscheidungsspielraum sowie gemeinsam mit einer Vielzahl engagierter
    Mitarbeiter/innen der Hilfsorganisationen und ehrenamtlichen Helfern ist Beeindruckendes zu schaffen: Weihnachten 2015 war kein Asylsuchender in Hessen mehr in Zelten untergebracht. Und das, obwohl täglich zeitweise über tausend Menschen in Hessen ankamen. Nach dem Peak erscheinen die Entscheidungen für Standorte gelegentlich irritierend – aber in der „Lage“ zählte nur die Lösung, nicht der Weg.
  4. Lasset uns gemeinsam …
    Kollegiale Teamarbeit funktioniert in der Krisensituation in überaus schlichter Infrastruktur ausgezeichnet. Die Selbstorganisation einer bunt zusammengewürfelten Projektgruppe, das hierarchiefreie Denken und Problemlösen ohne den Blick auf Kern- und Rahmen- oder Urlaubszeit waren unter dem Druck der Situation grandios. Und „mein“ und „dein“ sind im krisengeschüttelten Büroalltag recht überflüssige Kategorien. Der Switch vom komfortablen Leitungsbüro in einen umfunktionierten
    Sitzungsraum mit zwölf PCs und drei Telefonen war hart. Morgens galt es einen Arbeitsplatz – in der Hand einen Ablagekasten mit dem Nötigsten – zu ergattern. Täglich hatte man neue Kolleg/inn/en neben und unerwartete Fragestellungen vor sich. Dies macht flexibel und beschert interessante Kontakte. In den Entspannungsphasen dann die Ernüchterung – die typischen „Büro-Probleme“
    nehmen wieder zu: der Drucker ist zu laut, könnte man die Fenster bitte geschlossen lassen etc.
  5.  Zeit der Konzepte
    Nach der Schließung der Balkanroute und dem Türkei-Abkommen flaute der Tageszugang ab und es brach die Zeit der konzeptionellen Arbeit an. Eine neue Abteilungsstruktur ist zu firmieren, ein bisher kleines Amt aufzulösen und eine komplexe Organisationsentwicklung anzustoßen. Die Linienorganisation
    kehrt zurück. Gefragt und hilfreich war Organisationserfahrung – Ambulanzkonzepte sind auch Servicekonzepte, Personalbedarfsermittlungen und Geschäftsverteilungspläne ähnlich vertraute Instrumente. Aber bei
    allen Überlegungen sitzt die Erfahrung des letzten Jahres im Nacken: Wie zuverlässig sind Bedarfsplanungen? Aktivierungsmanagement und „Stand-by-Lösungen“ sind neue Baustellen. Und der tägliche Blick in die Nachrichten bleibt skeptisch.
  6. Menschen
    Die zufällige Begegnung mit einem älteren gehbehinderten Mann in einem zur Notunterkunft umgebauten Baumarkt, der sich spontan, nachdrücklich und herzlich für die medizinische Versorgung in Deutschland bedankt, bleibt ein besonderer Moment. Der Blick in viele müde Gesichter, aber auch in hoffnungsfrohe Augen machte täglich aufs Neue nachdenklich. Angesichts von „Wohnwaben“ und
    der fehlenden Privatsphäre besonders in den Notunterkünften stellte sich eine demütige Zufriedenheit bei der abendlichen Rückkehr in ein wohlgeordnetes Zuhause ein. Beeindruckend waren auch die vielen Gespräche mit den Beschäftigten in den Unterkünften, die ihre Erfahrungen und Erlebnisse schilderten. Nahezu jeder und jede konnte den Zeitpunkt seiner„Aktivierung“ in der Krise minutengenau nennen, schilderte den Aufbruch, die Provisorien, den Einsatz nachts und am Wochenende. Niemand (!) bereute es, in der Krise aktiv geworden zu sein. Diese außerordentliche Motivation wurde in beiläufigen Gesprächen mit der Sinnhaftigkeit des Tuns, der
    spürbaren Verantwortung und dem Gefühl des Gebrauchtwerdens erklärt.
    Sehr schwierig gestaltet sich aber der Ausstieg aus der Krise, aus der Projektsituation, aus der „Lage“: Nach dem Rückgang der Asylsuchenden wurden Standorte geschlossen, Strukturen zurückgebaut – schwere Momente für diejenigen, die diese teilweise aus dem Nichts aufgebaut hatten. Es bleibt:Das Gefühl, Teil eines historischen Ereignisses gewesen zu sein. Und Menschen als Mensch zur Seite
    gestanden zu haben. Aber wie kann man in der täglichen Routine, sprich Nicht-Krise, einer Organisation diese hohe Motivation generieren? Ein ungelöstes Rätsel.
  7. Ganz persönliche Bemerkungen
    Es war eine einsame, sehr private Entscheidung, an einem kalten, dunklen Winterabend gegenüber dem Ministerium die Bereitschaft zur Abordnung zu bekunden. Eine stärkere Beteiligung von Familie, dienstlichem Umfeld und Vorgesetzten ist grundsätzlich zu empfehlen. Als „karrierefördernd“ schätze ich die Entscheidung keineswegs ein.
    Nach 28 Berufsjahren in der Bibliothek war ich auf fremdem Terrain zunächst auf einen Praktikantenstatus zurückgeworfen. Gefordert war, schnell Verantwortung zu übernehmen und die Leiterin der Projektgruppe 9 – eine leitende Medizinaldirektorin, die sich seit 18. August 2015, 16.00 Uhr nahezu rund um die Uhr in der Krise befand – zu unterstützen und auch zu vertreten. Sollte ich je eine Herausforderung gesucht haben, dann hatte ich sie hier. Und ganz anders, als ich dachte – ich wäre
    auch bereit gewesen, „nur“ Decken zu verteilen. Es wurden überwiegend lange, rastlose Arbeitstage: Tagestouren mit 500 Kilometern, Terminhetze und nur an wenigen Tagen der Hauch von Büroroutine.
    Meine Abordnung habe ich nach einem halben Jahr nicht verlängert, ohnehin war es ein später Einstieg, und ich habe nur die Ausläufer der „Krise“ begleitet. Die Flüchtlingskrise ist weltweit keinesfalls bewältigt, aber in Hessen wird Asylsuchenden mittlerweile mit routinierten Strukturen beigestanden.
    Ich bin um einzigartige Erfahrungen und wertvolle Begegnungen mit Menschen reicher und möchte sie in keinem Fall missen. Das gilt besonders für meine „Pro 9er“ – die „zufälligen Kolleg/inn/en für ein halbes Jahr“.
    Ich habe viel dazugelernt – vor allem über Führungsstile, Krisenmanagement und wie politisches Handeln den Arbeitsalltag unmittelbar beeinflusst. Den Fragestellungen im fachfremden Umfeld konnte ich durch hierarchiefreies, höfliches Kommunikationsverhalten (langjährige Beratungs- und Berufserfahrung in der Bibliothek stählt!), Technik-Affinität, strukturelles Denken und uneitle Führungsbereitschaft begegnen. Ich bin gerne in die Bibliothek zurück gekehrt, zurück auch in mein vertrautes „Biotop“ – das universitäre Leben, das geprägt ist durch junge Menschen, die neugierig, weltoffen sind und in sicheren Verhältnissen leben dürfen.

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