Agile Werte: Scrum oder Scrump?

Agilität nimmt für sich in Anspruch, Organisationen immer wieder besser zu machen. Es soll sie befähigen, bessere Produkte besser herzustellen. Aber wie kann man das überprüfen? Wie kann man die Güte einer Organisation und/oder ihrer Produkte messen? Wie lautet die agile Definition of Good? /1/

Vorbemerkung zur Rechten Zeit

Als ich am 8. November diesen Artikel begann, ahnte ich nicht, wie schnell er aktuell werden würde. Mit dem Sieg Donald Trumps am 9. November hat eine Zeitenwende stattgefunden. Zeitenwenden treten ein, wenn lange existierende, unterirdische Strömungen plötzlich an die Oberfläche brechen und eine Zäsur markieren. Die Vorstellung der Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg von einer ununterbrochenen Zunahme von Wohlstand, Bildung, demokratischer Teilhabe und starker Zivilgesellschaft ist nicht mehr gültig. Mit Trump haben die Kräfte der sozialen Gleichberechtigung verloren gegen die der nationalen, rassistischen, religiösen und sexuellen Diskriminierung. Die Kräfte sozialer Wohlfahrt gegen die der individualistischen Verrohung. Letztlich die Demokratie gegen manipulative Präpotenz.
Wir vom Forum Agile Verwaltung haben uns zum Ziel gesetzt, die Anwendung agiler Methoden in der öffentlichen Verwaltung zu verbreiten und an die Verwaltung anzupassen. Die aktuelle Situation verpflichtet uns zu prüfen, welche Wertvorstellungen mit Agilität verbunden sind. Die Erfinder von Scrum /2/, Jeff Sutherland und Ken Schwaber, beteuern die Werteverbundenheit ihrer Methoden. Die Frage ist, ob diese Werte ausreichen für Organisationen, die dem öffentlichen Wohl verpflichtet sind.

Du meine Güten

„Das hast du aber gut gemacht“, sagt jemand zu Ihnen, und Sie fühlen Stolz. Was meint der andere aber genau? „Dein Tool funktioniert aber gut.“ „Dein Essen hat aber gut geschmeckt.“ „Die Predigt am Sonntag war gut.“ „Das war eine richtig gute Tat von dir.“ „Verdienst du gut?“ – So viele Anwendungen des Wortes „gut“ und so viele verschiedene (merken Sie’s?) Bedeutungen.
Meine These ist: Es gibt hinter diesen Nuancen zwei, drei große Bedeutungscluster, die zu unterscheiden sich lohnt. Damit können wir uns dem Thema nähern: Was verstehen die Vertreter der agilen Methoden unter guten Produkten und guten Organisationen? Und reicht dieses Verständnis auch für öffentliche Verwaltungen aus?

Die technische oder handwerkliche „Definition of Good“

Die eine Definition of Good bezieht sich auf die Frage: „Funktioniert das Produkt so, dass es seinen Zweck erfüllt?“ /3/ Einer der Vorteile dieser Definition liegt in ihrer einfachen Überprüfbarkeit: Es ist leicht festzustellen. /4/ Es ist meistens messbar (d. h. es gibt dann auch eine Definition of Better). Es gibt kaum Kontroversen.

Ein gutes Messer ist eines, das gut schneidet. Und das auch so in der Hand liegt, dass es öfter Dinge schneidet als die eigenen Finger. Es gibt Metriken („Kraft pro Schnitt“ oder so ähnlich). Zwei Menschen, die das gleiche Messer beurteilen sollen, werden sich selten völlig über diese Frage zerstreiten.

Ein gutes Flugzeug ist eines, das schnell und verbrauchsarm fliegt und nicht so sehr oft abstürzt. Eine gute Software zur Analyse von Kaufverhalten ist eine, die möglichst genaue Prognosen über Kaufwünsche und damit zielgenaue Adressierung von Werbebotschaften an Kunden erlaubt.

Diese und ähnliche Definitionen bezeichnet man als technische oder handwerkliche Definition of Good (tDoG).

Die Definition ist auch anwendbar für „Produkte“ der öffentlichen Verwaltung. Ein guter Führerschein ist einer, der die Fähigkeit seines Besitzers zum Führen von gefährlichen Maschinen im öffentlichen Raum möglichst trennscharf abbildet. Dazu dient die Fahrerlaubnisprüfung, aber auch die Fälschungssicherheit des Dokuments.

Gute Wiedereingliederungsmaßnahmen von straffällig gewordenen Jugendlichen sind solche, die die Rückfallquote maximal senken. Usw. /5/

Begeisterung

Das Streben nach tDoG begeistert uns Menschen, denn wir sind die geborenen Problemlöser (schwäbisch: Tüftler). Gib einem Menschen ein Kreuzworträtsel zu lösen oder ein Sudoku oder eine mathematische Aufgabe oder ein Puzzle oder einen Zauberwürfel oder ein Rätsel oder einen Kriminalfall oder eine Programmieraufgabe – und du hast (endlich!) für ein paar Minuten oder Stunden oder Tage deine Ruhe. All diese Herausforderungen kitzeln unser Streben nach handwerklicher Perfektion und finden uns ihm machtlos ausgeliefert. Mensch rennt nach dem Problem, wie ein Hund den geworfenen Ball apportiert.

Teams können sich um diese Arten von Aufgaben herum gruppieren. Einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren agiler Teams besteht eben darin, dass der Product Owner /6/ ihnen eine Vision vorgibt, aber in Form einer offenen Problemstellung: Lauft los! Findet Lösungen dafür! Experimentiert! Darin seid ihr völlig frei! – Und in den Organisationen, in denen diese Botschaften ernst gemeint sind, laufen die Teams auch wirklich los. Sie wetteifern darin, supergute Lösungen zu finden. Und sie finden sie in erstaunlich kurzer Zeit. Der Teamgeist entwickelt sich. Die Produktivität steigt exponentiell. Die Teams fangen an, für ihre Aufgabe zu brennen.
Wer wollte da noch ein Haar in der Suppe finden? Wer wollte in dieser Welt des ungebremsten fun sich als Spielverderber outen?

Die Erfinder von Scrum betonen sehr stark den Nutzen, den ihre Methoden für eine schnellere Erzeugung besserer Produkte (besser im tDoG-Sinn) erzeugen. Sutherland verspricht eine Steigerung der Produktivität um bis zu 300% beim Übergang zur Agilität in der Softwareentwicklung (zu anderen Branchen hat er sich meines Wissens nicht geäußert). Die auch von ihm konstatierte größere Arbeitszufriedenheit der Teams nennt er explizit nicht als Ziel seiner Erfindung, dabei handele es sich vielmehr nur um einen positiven Nebeneffekt.

Die sDoG

Neben der tDoG gibt es jedoch noch eine andere Definition of Good, ich nenne sie mal die gesellschaftliche oder soziale (sDoG). Sie besagt, dass ein Produkt auch einen sozialen Nutzen stiften soll. Die Feststellung des sozialen Nutzens ist überhaupt nicht einfach. Vermutlich ist sie unmöglich. Die Frage löst dauernd Kontroversen aus. Man kann diese Kontroversen auch nicht durch Messen entscheiden, weil der soziale Maßstab gerade der Kern der Auseinandersetzungen ist.

Und diese Maßstäbe ändern sich im geschichtlichen Verlauf. Eine gute Atombombe ist eine, die möglichst viele Menschen tötet (tDoG). Die Forscher, die bis 1945 im Manhattan Project die amerikanische Atombombe entwickelten, waren davon überzeugt, auch einem sozialen Nutzen zu dienen: dem Niederringen der verbrecherischen Kriegsgegner. Nachdem dieses Ziel erreicht war, wandte sich der wissenschaftliche Leiter des Projekts, Robert J. Oppenheimer, gegen seine Fortsetzung: der Einsatz der Atombombe als Trumpf im Systemkonflikt mit der Sowjetunion sei unmoralisch und schädlich. Andere aber sahen in ihr weiterhin einen wichtigen Garanten des Friedens durch Abschreckung. Große gesellschaftliche Konflikte in den westlichen Ländern waren die Folge.

Die Versuchung moralischen Neutralismus

Es gibt also gute Gründe, die Frage nach der sozialen Definition of Good für nicht-agil zu erklären. Der Scrum-Erfinder Sutherland tut das z. B. explizit. Handelt sich die agile Bewegung nicht einen Spaltpilz ein, wenn sie unentscheidbare Fragen zum Gegenstand ihrer Foren machen will?

Zurückgefragt: Gibt es diesen Spaltpilz nicht schon? Im Umkreis der agilen Philosophie gibt es Unternehmen, die gute Gründe haben, die Frage nach ihrer sozialen Definition of Good eher ausklammern zu wollen. Google, Amazon, Facebook und Apple gehören nach meiner Wahrnehmung definitiv dazu. (Und der Wunsch, sich diese als Kunden nicht zu verscherzen, ist bei Anbietern agiler Dienstleistungen auch nur zu verständlich.)

Die Verabsolutierung der technischen Sichtweise kann zur Philosophie werden, zum „Irrtum des technologischen Determinismus“. /7/ Diese Art von Irrtum ist nicht neu. Luther nannte den neu erfundenen Buchdruck einen „höchsten Gnadenakt Gottes“. „Das Fax wird Sie befreien“, verkündete Albert Wohlstetter 1990. Auch das Internet sei, so Garton Ash, mit extremen Erwartungen verbunden: als Himmelreich der Redefreiheit oder als Hölle allumfassender Überwachung. /8/

Aus dem technologischen Determinismus wachsen extrem autoritäre und diskriminierende Politikfantasien. Man lese nur einmal die Auslassungen des libertären Trump-Unterstützers Peter Thiel (PayPal-Mitgründer) über die Ineffizienz der Demokratie, die doch besser durch die Diktatur der Superintelligenten zu ersetzen wäre. Der Nährboden dafür ist der technologische Determinismus: Thiels Hauptwerk lautet bezeichnenderweise „Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet“. Dies notfalls auch, ohne die zu Rettenden um ihre Meinungen zu fragen. Oder die Vorstellungen eines Eric Schmidt (Google) über die systematische Heranbildung williger Politiker im Dienst weltumspannender Monopole.
Garton Ash schreibt zum technologischen Determinismus: „Das Fax hat nie einen Menschen befreit. Menschen werden von Menschen befreit.“ /9/

Die technologische Definition of Good reicht nicht aus. Wir müssen auch die soziale Dimension von guten Produkten und guten Organisationen, die sie produzieren, erkunden.

Das wird uns vor große Herausforderungen stellen. Denn Widerspruch gegen Festschreibungen eines humanen Wertekanons kommen nicht nur aus dem Lager derer, die man derzeit als populistisch kennzeichnet. Widerspruch kommt auch von weltisolierten und leicht durchgeknallten Eliten, die kein Problem damit haben, sich als „agil“ zu bezeichnen und gleichzeitig Weltherrschaftsphantasien zu entwickeln. Und von einer Menge technikberauschter Nerds, die jene als Heilsbringer gläubig verehren.

Peter Thiel wird in Deutschland vom renommierten Campus Verlag publiziert und füllt Auditorien mit seinen Vortragsreisen.

Anmerkungen

/1/ Für Leser, die sich mit dem agilen Rahmenwerk Scrum noch nicht auskennen: In Scrum gibt es zwei Fachbegriffe „Definition of Ready“ und „Definition of Ready“. Gläubige Agilisten verwenden solche Begriffe mit großer Inbrunst. Der hier verwendete Ausdruck „Definition of Good“ bezieht sich darauf – mit einem leichten Augenzwinkern.
/2/ Scrum ist nur eine von verschiedenen agilen Methoden, aber die im deutschsprachigen Raum wohl bekannteste. Sutherland und Schwaber verwahren sich übrigens dagegen, Scrum als Methode bezeichnet zu wissen und nennen es ein „Rahmenwerk“.
/3/ „The qualities required to achieve an end“, lautet eine der Definitionen des Wortes „good“ im englischen Merriam-Webster-Wörterbuch. (http://www.merriam-webster.com/dictionary/good).
/4/ Veronika Lévesque macht mich darauf aufmerksam, dass ich hier den Unterschied zwischen „Ziel“ und „Zweck“ nicht anspreche. Das wäre in der Tat eine Diskussion wert, die man sicher einmal führen muss. Ich verwende hier die „technische Definition of Good“ eher im Sinne von Ziel und die soziale DoG eher als Synonym für Zweck. Siehe auch die Unterscheidung, die Marshall B. Rosenberg in seinen Büchern über gewaltfreie Kommunikation zwischen Strategie (= Ziel) und Bedürfnis (= Zweck) macht.
/5/ Veronika Lévesque schreibt mir, sie bezweifle, dass die technische Definition of Good so umstandslos übertragbar sei. „Für produzierende Industrien passt das, aber für Dienstleister und Hoheitshütende???“ Ich halte diese Übertragung, die übrigens den Kern des Neuen Steuerungsmodells darstellte, nicht für den Kern der Problematik. Allerdings gibt es Dienstleistungen, bei denen Qualitätsmessungen grundsätzliche Probleme bereiten (zum Beispiel die Qualität von Forschungsergebnissen). Aber das sind, glaube ich, eher Ausnahmen.
/6/ Im Scrum-Modell gibt es keinen Projektleiter mehr. An seine Stelle tritt der sog. Product Owner, der mit dem Team auf Augenhöhe verhandelt, statt Einzelanweisungen zu geben.
/7/ Timothy Garton Ash: „Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt“, Carl Hanser Verlag, 2016, Seite 36.
/8/ das.
/9/ das.

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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