Ein Gastbeitrag der Initative Bürgerrat von Thorsten Sterk.

„Da wartet man sein ganzes Leben auf einen Bürgerrat und dann finden plötzlich zehn auf einmal statt!“ So freut sich Tim Hughes, Geschäftsführer der britischen Demokratie-Organisation „Involve“ über die aktuelle Entwicklung in Großbritannien. In diesem Jahr schießen dort Bürgerräte wie Pilze aus dem Boden.
Bei einem Bürgerrat diskutieren per Losverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger über ein vorher festgelegtes Thema. Hierbei werden sie durch unabhängige Expertinnen und Experten über alle wichtigen Aspekte des Themas informiert. Ausgelost werden die Teilnehmenden aus einer repräsentativen Stichprobe aus Einwohnermelderegistern von Kommunen unterschiedlicher Größe und geographischer Lage. Dabei wird darauf geachtet, dass die Teilnehmendenliste nach Geschlecht, Alter, Bildung, Wohnortgröße und eventuellem Migrationshintergrund ein möglichst vollständiges Abbild der Bevölkerung darstellt. Die Menschen in den Zufallsproben werden angeschrieben und eingeladen, am Bürgerrat teilzunehmen. Aus dem Kreis der Interessierten wird dann die tatsächliche Bürgerversammlung ausgelost.
Bürgerräte füllen die Repräsentationslücke
Mit der Gründung von Bürgerräten reagiert die Politik auf Kritik an den bisherigen Entscheidungsstrukturen in der Demokratie. Denn Bürgerräte ergänzen die repräsentative Demokratie, indem sie die „Repräsentationslücke“ der gewählten Parlamente füllen. So sind etwa Frauen in Parlamenten oft unterrepräsentiert. Auch die Perspektiven von Menschen mit geringerem Bildungsniveau, Randgruppen und jüngeren Bürger*innen sind in allen Parlamenten kaum vertreten. Dabei bedeutet Demokratie vielen Menschen mehr als nur das Kreuz auf dem Stimmzettel. Sie wollen in politische Richtungsentscheidungen miteinbezogen werden. Oft wird außerdem beklagt, dass gewählte Parlamente keine zufriedenstellenden Antworten auf Probleme wie die Klimakrise oder Migrationsfrage fänden. Das läge u.a. daran, dass Berufspolitiker*innen nicht frei von Sachzwängen seien.
Einfache Bürger*innen hingegen müssen nicht wiedergewählt werden, weshalb sie viel offener für die Informationen aus verschiedenen Richtungen rund um ein Thema sind und als Gruppe nach Lösungen mit größtmöglicher Unterstützung suchen können. Abseits politischer Lagerkämpfe sollen Bürgerräte deshalb einen Konsens über mögliche Maßnahmen finden, den die Parlamente dann bestenfalls übernehmen und beschließen.
„Geloste Gremien sind repräsentativer“
„Wenn es darum geht, die sozialen Merkmale und Weltanschauungen der Gesamtbevölkerung möglichst gut widerzuspiegeln, sind geloste Gremien repräsentativer“, sagte der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hubertus Buchstein jüngst in einem Beitrag der FAZ (1) zum Thema. Auf kommunaler Ebene sei die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, im Laufe seines Lebens ausgelost zu werden. Wenn die Bürger dann die Arbeit im Gremium aufnähmen, würden sie ein nachhaltiges politisches Interesse über die Zeit im Bürgerrat hinaus entwickeln. Dies sei durch Studien belegt.
Zur Beratung in Bürgerräten bieten sich für Buchstein Zukunftsthemen an, die eine hohe Relevanz für viele Generationen hätten, wie etwa der Klimaschutz. Zudem böten sich gerade auf kommunaler Ebene geloste Gremien an, wenn die Konfliktlagen komplex seien, wie oft bei der Verkehrsplanung.
Vorbild Irland
Vorbild der derzeit insbesondere in Großbritannien zahlreich initiierten neuen Bürgerräte ist die Bürgerversammlung (Citizens‘ Assembly bzw. deren Vorläuferin Constitutional Convention) in Irland, deren Vorschläge zur Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und zum Abtreibungsrecht in Referenden breite Mehrheiten fanden. Infolge der hierbei gemachten guten Erfahrungen sind auf der britischen Insel derzeit national und lokal ähnliche Bürgerversammlungen geplant oder sie laufen bereits.
Ein erster nationaler Bürgerrat soll sich in Kürze mit möglichen Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe befassen. Lokale Bürgerversammlungen zum Thema gibt es in Camden, Devon, Lambeth, Oxford und Sheffield. Im Londoner Stadtteil Camden hat der erste Klima-Bürgerrat seiner Art in Großbritannien im Juli 17 Empfehlungen für lokale Maßnahmen gegen den Klimawandel abgegeben. In Schottland und Wales wurden Bürgerräte zu Beratungen über die Zukunft der beiden Bestandteile Großbritanniens ins Leben gerufen.
Bürgerrat als zweite Kammer
Bürgerräte gibt es aber nicht nur in Großbritannien. In Belgien hat das Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft Eupen mit ihren rund 77.000 Einwohnern die Einrichtung einer gelosten Bürgerversammlung beschlossen. Der dortige Bürgerrat soll dauerhaft existieren und eine Art zweite Parlamentskammer bilden.
Der ständige Bürgerrat, bestehend aus 24 per Los ermittelten Männern und Frauen, wird am 16. September eingesetzt. Er bleibt 18 Monate im Amt, danach wird alle sechs Monate ein Drittel der Mitglieder durch neu ausgeloste Bürgerinnen und Bürger ersetzt. Diese kommen aus Bürgerversammlungen von 25 bis 50 Mitgliedern, die ebenfalls per Los ermittelt werden. Pro Jahr sollen die gelosten Bürgerrat-Teilnehmenden ein bis drei Themen behandeln, die von der Regierung, dem Parlament, zwei seiner Mitglieder oder normalen Bürgern vorgeschlagen werden können, die dafür hundert Unterschriften sammeln müssen. Das Mindestalter der Auszulosenden ist auf 16 Jahre festgelegt, die Teilnahme ist freiwillig.
Beschlüsse sollen i.d.R. im Konsens gefasst werden, mindestens aber mit einer Vierfünftel-Mehrheit, und vom übergeordneten Bürgerrat an das Parlament und die Regierung weitergeleitet werden. Die Bürgerrat-Empfehlungen sind nicht bindend, allerdings müssen sich Regierung und Parlament öffentlich rechtfertigen, wenn sie die Bürger-Empfehlungen ablehnen.
Bürgerrat bei Volksentscheiden
Auch in Städten wie Danzig und Madrid sowie in Südaustralien hat es Experimente mit Bürgerräten gegeben. Im US-Bundesstaat Oregon formuliert eine geloste Bürgerversammlung mit dem Namen „Citizens Initiative Review“ (CIR) Informationen zu Volksabstimmungen, die hier wie in 23 weiteren Bundesstaaten regelmäßig stattfinden. Die CIR verfasst eine Erklärung, in der die wichtigsten Fakten und die Hauptgründe für eine Zustimmung und für eine Ablehnung des jeweiligen Themas aufgeführt sind. Diese Erklärung wird in das Abstimmungsheft aufgenommen, das zusammen mit weiteren Abstimmungsunterlagen an alle Stimmberechtigen in Oregon verschickt wird.
Studien belegten, dass immer mehr Menschen „den Informationen dieser Gruppen mehr Vertrauen schenken als jenen der Behörden“, sagt Alice el-Wakil, Doktorandin in politischer Theorie an der Universität Zürich und dem Zentrum für Demokratie Aarau ZDA) in einem Artikel auf swissinfo.ch (2). Hierdurch könnten Probleme mit Desinformationen und Fake-News, die in Kampagnen vor Volksabstimmungen verbreitet werden, eingedämmt werden. „Dank der Auslosung wird das Prinzip der Gleichheit stärker und bezieht Menschen mit ein, die in der Regel nicht gleichberechtigt sind“, so el Wakil. Gleichzeitig ermöglichten diese Diskussionsforen, der Öffentlichkeit und den Behörden neue Informationen zukommen zu lassen.
Bürgerrat Demokratie
In Deutschland haben die Initiative „Mehr Demokratie“ und die Schöpflin Stiftung den ersten gelosten bundesweiten Bürgerrat zum Thema Demokratie gestartet. In sechs Regionalkonferenzen im gesamten Bundesgebiet haben interessierte Bürgerinnen und Bürger in einem moderierten Verfahren Themenvorschläge erarbeitet, die der geloste Bürgerrat im September an zwei Wochenenden in Leipzig bearbeiten soll. Aus den hier entstehenden Empfehlungen soll ein Bürgergutachten zur Zukunft der Demokratie in Deutschland entstehen, dass im November an den Bundestag übergeben werden soll. Das Projekt wird von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und von Politikern aller im Bundestag vertretenen Parteien unterstützt, die bei den Regionalkonferenzen gemeinsam mit dem Bürgern diskutiert haben. Praktisch durchgeführt wird das Verfahren hierbei von den Beteiligungsexperten von IFOK und nexus.
Die Idee der Losversammlungen ist eigentlich schon sehr alt. Im antiken Athen wurden wichtige Ämter nicht durch Wahlen, sondern durch Auslosen besetzt. So entstand zum Beispiel der Rat der 500, der Gesetzesvorschläge erarbeitete und aus dem die Regierung hervorging. Hierdurch sollte eine Gleichheit aller Bürger hergestellt und Korruption eingedämmt werden.
In der Renaissance wurde das Losverfahren in vielen italienischen Stadtstaaten wie Venedig, Florenz und Bologna genutzt. Von hier aus gelangte die Idee auch nach Frankfurt am Main. In Spanien wurde das Verfahren in Aragon, Saragossa und Barcelona angewandt. Erst nach und nach setzen sich Wahlen durch.
Vorläufer Planungszelle
In Deutschland wurde das Prinzip des Bürgerrates in den 1970er Jahren z.B. durch die von Prof. Peter C. Dienel geschaffene Planungszelle wiederbelebt. Das Demokratie-Instrument mit dem etwas sperrigen Namen war ursprünglich als Beratungsverfahren zur Verbesserung von Planungsentscheidungen gedacht. Das Verfahren ist in den letzten Jahren sowohl auf kommunaler als auch auf überregionaler Ebene zu unterschiedlichen thematischen Fragestellungen erfolgreich angewandt worden, so z. B. zur Verbesserung des öffentlichen Personennahverkehrs in Hannover, zur Klärung seit vielen Jahren ungelöster und umstrittener Planungsfälle sowie in der Technikfolgenabschätzung. Es hat den politischen Entscheidungsinstanzen und Auftraggebern jeweils wertvolle Empfehlungen und Hinweise gegeben. Verwandte Verfahren sind Bürgerkonferenzen und Planungswerkstätten.
Im Unterschied zur Planungszelle geht es bei Bürgerräten um Fragen von grundsätzlicher gesellschaftlicher Bedeutung und erstmals auch um national zu entscheidende Fragen, wie bei den Citizens‘ Assemblies in Irland. Diese Tatsache und die Verbindung mit den weltweit Aufsehen erregenden Referenden dürfte zusammen mit der oben erwähnten Kritik an Verkrustungen der Demokratie zum intensiven Interesse an diesem Beteiligungsverfahren geführt haben. Für die Zukunft stellt sich die spannende Frage, ob die neuen Bürgerräte Akzeptanz in der Bevölkerung und Gehör bei der Politik finden und die Schaffung weiterer Bürgerräte nach sich ziehen.
Thorsten Sterk
Der Autor ist Mitglied von Mehr Demokratie und Campaigner für den „Bürgerrat Demokratie“
- Mit dem Losverfahren die Demokratie retten? FAZ v. 08.07.2019 faz.net/aktuell/politik/inland/buergerbeteiligung-mit-dem-losverfahren-die-demokratie-retten-16268760.html
- Bei komplexen Entscheiden werden Bürger zu Beratern, Swissinfo.ch, 28.03.2018 https://www.swissinfo.ch/ger/direktedemokratie/oregon-modell_bei-komplexen-entscheiden-werden-buerger-zu-beratern/44000884
Ich muss gerade leise in mich hineinschmunzeln, ob des Teekesselchens „Demokratie-Los“ 😉
Es gibt inzwischen so viele Texte, die nachweisen, dass unser Parteiensystem nicht funktionieren kann, da sich hier am Ende ein Kaste bildet, die kaum mehr weiß, welche Stimmung im Volk ist, und die gepaart mit einem Lobbyismus der Konzerne, das sehr deutliche Gefühlt entstehen lässt, dass sämtlichen wichtigen Entscheidungen zum Wohle der Konzerne von dieser Kaste abgenickt wird, um den Nutzen des Volkes (siehe Amtseid) für diese zu mehren. Also eben Demokratielosigkeit, denn hier ist der größte Teil der Bürger nicht mehr repräsentiert.
Und nun habe ich die große Hoffnung, dass diese neuen Bürgerräte doch wieder mehr Bewegung in dieses doch sehr festgefahrenen Konzern-Politik-Strukturen bringen. Sie haben meine volle Unterstützung und würde mich freuen, solch ein Los zu erhalten!
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Daß die Bundeskanzlerin regelmäßig dem Parlament Rede und Antwort steht, ist schon mal ganz nett. Daß sie sich den Fragen von Bürgern öffnet, ebenfalls. Das hat auch schon mal etwas genützt – was aber nicht nur an der Offenheit der politischen Person lag, sondern hauptsächlich an der Dringlichkeit der Problematik und dem Schneid oder der Unverfrorenheit einzelner Bürger.
Diese Versuche von Bürgernähe von Seiten der „etablierten Politik“ sind bisher noch nicht viel mehr als schön anzusehende Feigenblättchen.
Was wir zunehmend dringend brauchen, ist die ehrliche (!) Augenhöhe, ist die wahrhaftige (!) Bereitschaft, die Kompetenz der Bürger einzubeziehen. Und dazu bedarf es der echten (!) Bürgerbeteiligung,
Die echte (!) Bürgerbeteiligung ist keine mobile oder temporäre Initiative nach Gusto, sondern eine fest installierte Einrichtung.
Bisher darf der Bürger alle vier Jahre ein Kreuzchen machen, darf eine Partei gründen, demonstrieren und bittstellend Einreichungen machen.
Das ist nicht Augenhöhe, das ist mit der Würde nicht kompatibel.
JEDER einzelne Bürger muß mit seinem Anliegen, mit seinem Einwand, mit seiner Befürchtung, mit seinem Vorschlag, mit seiner Kompetenz unmittelbar und auf Augenhöhe Gehör finden.
Unter Einbeziehung der heute nutzbaren technischen Möglichkeiten gehört zur Verwirklichung nicht viel mehr als das… WOLLEN.
Was aber die Entscheidungen angeht, sollten wir die kompetente Repräsentanz, also die Parlamente und ihre Gremien stärken, indem wir uns von den albernen Plakatwahlen verabschieden und statt dessen intelligente Einstellungsverfahren entwickeln.
Einen heiteren August 🌾
wünscht Nirmalo
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