Prozessverbesserungen sind häufig temporäre Ereignisse und nicht selbstverständlicher Teil unseres Arbeitsalltags. Prozesse werden „nur“ temporär und innerhalb eines zeitlich befristeten Zeitfenster – als Projekt – überprüft und weiterentwickelt. Danach fassen wir sie über lange Zeit nicht mehr an. Wir arbeiten nicht täglich daran, Prozesse zu verbessern und weiterzuentwickeln. Besonders bewusst geworden ist es mir, als ich das Buch „Die Kata des Weltmarktführeres – Toyotas Erfolgsmethoden“ von Mike Rother (Frankfurt 2013) gelesen habe. Rother stellt in diesem Buch die Verbesserungs- und Coaching-Kata (Begriffserklärung folgt gleich) von Toyota vor.
Im Fokus des Buches steht die Frage, warum Toyota als Unternehmen erfolgreicher als viele andere Unternehmen in derselben Branche ist. Lang war man der Meinung, es läge an den Methoden, die wir unter „Lean“ subsumieren. Doch das war es nicht. Es steckt offenbar mehr dahinter. Mike Rother will in der Verbesserungs- und Coaching-Kata einen zentralen Erfolgsfaktor identifiziert haben. Und tatsächlich, schaut man genauer hin, stellt man fest, dass sich das Unternehmen beständig auf allen Ebenen der Organisation weiterentwickelt. Nicht wie oben beschrieben, in Form von temporären „Verbesserungsprojekten“, sondern viel mehr in einem beständigen, kontinuierlichen Prozess, der Teil der Alltagskultur ist. Toyota ist ständig in Veränderung, entwickelt seine Prozesse, Abläufe und Routinen permanent weiter. Und im Fokus stehen dabei immer auch – Achtung, man höre und staune – der Mensch. Das passt, wie ich finde, sehr gut auch zur öffentlichen Verwaltung und ihrem Selbstverständnis als Dienstleister der Bürgerinnen und Bürger.
Verbesserungs-Kata

Was ist eine Kata? Die Kampfsportler kennen den Begriff sicherlich. Denn das Wort ist der japanischen Kampfkunst entlehnt und beschreibt, bezeichnet die detaillierte Festlegung von Bewegungsabläufen, die durch ständiges Üben und Anwenden zur Routine verinnerlicht und ohne nachzudenken ausgeführt werden. Die Verbesserungs- und Coaching-Kata beschreibt etwas Ähnliches: Denk- und Handlungsweisen, die zur alltäglichen Routine im Denken und Arbeitsalltag werden. Zu Routinen, die zum selbstverständlichen Teil des Denkens und Handelns in der Organisation werden, ohne dass man darüber explizit nachdenkt. Sie werden zur Gewohnheit. Im Fokus steht dabei das permanente und ständige Verbessern und Weiterentwickeln der Prozesse.

Die Verbesserungskata beschreibt also eine Denkweise, die sich hinter einer definierten Routine verbirgt. Nicht die Routine selbst ist hier der Treiber, sondern wie bei allen Methoden ist diese nur ein Hilfsmittel und eine Unterstützung der tieferliegenden Denkweise und Triebfeder. Die Verbesserungskata ist sehr stark von der Idee des Kaizen getrieben. Die Verbesserungskata wird von Rother als wiederholende Routine beschrieben:
Quelle: Mike Rother – Die Kata des Weltmarktführers – Totyotas Erfolgsmethoden, Frankfurt 2013: 87
„(1) unter Berücksichtigung einer langfristigen Vision, Ausrichtung oder eines Ziels und
(2) mit dem Verständnis des aktuellen Zustands
(3) wird ein nächster Zielzustand auf dem Weg zur Vision festgelegt.“
Nordstern als Navigationshilfe
Alles Handeln richtet sich an einer übergeordneten Vision aus. Im Toyota-Kontext wird – wie ich finde, sehr treffend – von einem „Nordstern“ gesprochen, der als Orientierungspunkt und Navigationshilfe der gesamten Organisation hilft, die Richtung zu bestimmen, in die sich die gesamte Organisation bewegen soll. Noch spannender wird es, wenn man feststellt, dass es sich dabei nicht um eine Zustandsbeschreibung, sondern um ein prozessuales Ziel handelt. Prozessuale Ziele sind zeitlose Ziele. Sie beschreiben keinen temporären Zielzustand, mit dessen Erreichen das Ziel obsolet wird, sondern ein Ideal, dass es anzustreben gilt. Der Nordstern von Toyota lautet:
Respekt und Sicherheit für die Menschen – Sicherheit geht vor, aber auch die Verpflichtung aller Mitarbeiter, die Prozesse und die Organisation kontinuierlich zu verbessern – eine Kaizen-Kultur
KEINE fehlerhaften Teile – Bestätigen Sie die Qualität in jedem einzelnen Prozessschritt, um die Kundenzufriedenheit zu sichern und den unnötigen Aufwand zu vermeiden, den eine Korrektur von Fehlern mit sich führt.
100% Wertschöpfung – Stellen Sie das Kundenerlebnis in den Mittelpunkt, eliminieren Sie Muda und maximieren Sie die Wertschöpfung, indem Sie die Prozesse kontinuierlich verbessern und dem Produkt einen echten Mehrwert verleihen, ohne Verzögerungen und unnötigen Materialpuffer.
One-Piece-Flow im ziehenden System – als ein Teil von Just-in-Time – zielt darauf ab, dass jedes hergestellte Produkt den Anforderungen entspricht, um Muda (unnötiger Aufwand) von Überproduktion und Materialstagnation zu vermeiden.
Quelle: https://toyota-forklifts.de/toyota-lean-academy/der-toyota-way/; abgerufen am 06.09.2021
Zwar ist Toyota ein „Produktionsunternehmen“ und keine Verwaltung. Schaut man sich aber den Nordstern von Toyota näher an, stellt man schnell fest, dass er sich sehr gut auch als Beispiel und Anregung für eine öffentliche Verwaltung eignet. Beispielsweise könnten wir formulieren, dass es keine fehlerhaften Verwaltungsvorgänge in der öffentlichen Verwaltung geben soll, höchste Qualitätsansprüche in jedem Prozessschritt erfüllt sein müssen, wir „Kundenzufriedenheit“ sichern und unnötigen Aufwand vermeiden wollen. Das klingt genauso gewagt wie die oberste Vision von Toyota, keine Produktionsfehler mehr zu machen. Ein Ziel, dass Toyota bisher nie erreicht hat und vermutlich nie erreichen wird. Und dennoch ist es ein unmittelbarer Bestandteil des Toyota-Nordsterns. Dieses bewusste Hochhängen des Brotkorbs gibt jeder Prozessverbesserung, jedem Verbesserungsschritt, jedem Zielzustand (im Sinne einer Verbesserungsetappe) eine Richtung und spornt die Organisation an. Einen ähnlichen Effekt haben wir bei den Objektives and Key Results, die nicht ohne Grund gewissen Ähnlichkeiten zu Hoshin Kanri, einer Methode aus dem Lean Management aufweisen. Kleiner Randexkurs: Hier zeigt sich wieder die enge Verwandtschaft zwischen Lean im Sinne von „gesund“ (nicht „kostenoptimiert“, wie es häufig fehlinterpretiert worden ist) und Agile.
Verbesserung als evolutionärer, dauerhafter Prozess
Permanent (!) erfolgt ein Abgleich zwischen Ist-Zustand und dem nächsten Zielzustand, der angestrebt wird, um näher an das Ideal zu kommen. D. h. es werden Zielzustände als Zwischenergebnisse vereinbart, die wissenschaftlichen Hypothesen gleich, im täglichen Tun überprüft werden. Diese Zielzustände werden aus der übergeordneten Vision abgeleitet. Im Falle einer öffentlichen Verwaltung könnte dies sein, keine Mängel der Qualität der Prozessergebnisse zu haben und eine Fehlerquote von „Null“ anzustreben. Prozesse und Abläufe sollen gesund sein in dem Sinne, dass sie keine unnötigen Prozessschritte enthalten, die nicht dazu beitragen, das Ziel zu erreichen. Auf dem Weg dorthin werden „Etappenziele“ in Form von Zielzuständen definiert, zum Beispiel die Reduzierung einer Durchlaufzeit für einen Verwaltungsvorgang von 12 Arbeitstagen auf 8 Arbeitstage.
Erreichen wir den gewünschten Zielzustand, wird die nächste Hypothese und der nächste Zielzustand definiert, der sich vom übergeordneten Wunschbild ableiten lässt. Dabei steht grundsätzlich die lösungsorientierte Frage im Raum, wie dieser Zielzustand erreicht werden kann, wie also vom Istzustand jetzt zum nächsten zu erreichenden Zielzustand vorgegangen werde muss und was es braucht, um die Lücke zu schließen, und zwar in ganz konkreten Maßnahmen, deren Wirksamkeit noch während der Umsetzung überprüft wird. Diese Idee wird in der Umsetzung durch die sogenannte Coaching-Kata unterstützt. Prozessverbesserung wird so zu einem evolutionären Prozess, der in den Arbeitsalltag integriert wird. Wie man sieht, ist dieses Vorgehen sehr stark lösungsorientiert und eben nicht – wie so oft in der Verwaltung – problemgetrieben.
Bemerkenswert dabei ist, dass diese Routine zu einem ganz selbstverständlichen Teil des Alltags in der Organisation und – das finde ich noch viel spannender – auf allen Ebenen der Organisation selbstverständlicher Teil des alltäglichen Handelns wird. Prozesse werden nach dieser Denkweise ständig auf den Prüfstand gestellt und weiterentwickelt. Prozessverbesserung ist also kein temporäres Projekt, dass man einmalig durchführt, sondern findet ständig als tägliche Übung statt und folgt dabei einem grundlegenden Muster. Die Idee dahinter ist, mit einer Routine den Verbesserungsmuskel jedes einzelnen Mitglieds der Organisation zu trainieren, dass das permanente Weiter- und Fortentwickeln aller Prozesse selbstverständlicher Bestandteil des alltäglichen Handelns wird. Es ist Teil der täglichen Routine in der Organisation auf allen Hierarchieebenen. Das Reflektieren und Verbessern wird damit selbstverständlicher Teil des Arbeitsalltags. Dazu muss man sagen, dass wir hier nicht von großen Verbesserungswürfen sprechen, sondern tatsächlich von kleinen Verbesserungsschritten. Verbesserungsschritten in einem evolutionären Entwicklungsprozess, der aber nie endet. Ganz im Sinne von Kaizen. Aufgabe der Führung ist es nicht, den Weg zum Zielzustand zu beschreiben, sondern den Einzelnen zu befähigen, selbst Lösungen zu entwickeln und umzusetzen.
Ein Punkt ist besonders wichtig hervorzuheben, der wie ich finde, in vielen Organisationen zu kurz kommt und der mir bei der Lektüre des Buchs von Mike Rother, aber auch bei anderen Büchern zum Thema Toyota und Verbesserungskultur ins Auge gestochen ist. „Schnellschüsse“ sind bei Toyota unüblich. Sondern, es wird sehr, sehr viel Zeit und Ressourcen in das gründliche Durchdringen des „Problems“ investiert. Gerade in der öffentlichen Verwaltung, die ja bekanntermaßen unter einem enorm großen Druck durch die Öffentlichkeit stehen kann, ist gerade dies nicht immer so gegeben, wie wünschenswert wäre. Dazu kommt, dass es für das Durchdringen und die Analyse eines Problems durchaus sehr viel Wissen und Können, nicht nur methodischer Natur, braucht, das erst einmal aufgebaut und entwickelt werden muss. Auch hier finde ich, könnte Toyota ein Vorbild – nicht nur für die Öffentliche Verwaltung – sondern für Organisationen sein.
Coaching-Kata

Um diese Routine im Alltag zu befördern, gibt es die sogenannte Coaching Kata. Ein strukturiertes Set von 5 Fragen, dass den Anspruch hat, durch ein unterstützendes Ritual den Verbesserungsmuskel jedes Organisationsmitglieds zu unterstützen. Egal auf welcher Hierarchieebene wir uns befinden, die Mitarbeitenden werden von „Coaches“ oder Mentoren dabei unterstützt und animiert, täglich zu reflektieren, einen angestrebten Zielzustand zu erreichen und wie sie vom Ist- zum Sollzustand kommen. Damit wird das organisatorische Lernen unterstützt und gestärkt. Es werden immer die gleichen fünf Fragen gestellt und das Ritual wiederholt sich täglich. Auf diese Weise entsteht eine Routine, die durch ihr ständiges Einüben zum Teil des alltäglichen Handelns wird. Die Mentoren unterstützten ihre Mentees bei der täglichen Reflexion, indem sie im Dialog die beschriebenen Fragen stellen und immer wieder zu einem lösungsorientierten Denken und Reflektieren animieren. Dabei kommen häufig visuelle Hilfsmittel wie der sogenannte A3-Report zum Einsatz, um die bewusste Reflexion als Teil der täglichen Routine zu unterstützen.

Falls jemanden aufgefallen ist, dass die Fragen der Coaching-Kata sehr stark den Fragen der Retrospektive aus Scrum ähneln – das ist kein Zufall. An dieser Stelle möchte ich kurz auf den Beitrag von Jan Fischbach verweisen, der sich intensiv mit der 150-jährigen Historie von Scrum beschäftigt hat. Vieles, was wir in den agilen Ansätzen wiederfinden, hat seine Wurzel unter anderem auch in den Praktiken, Ansätzen, Methoden und der Arbeitsphilosophie von Toyota, welche als Grundlage für das Lean Management gedient haben und immer noch dienen. Durch das tägliche „Einüben“ der Routine wird der Verbesserungsmuskel trainiert. Allerdings nicht wie bei Scrum in Bezug auf ein Projekt, sondern als unmittelbarer Teil des Arbeitsalltags und der „standardisierten“ Arbeitsroutinen und Arbeitsabläufe.
Die Verbesserungs- und Coaching-Kata im Kontext einer agilen Verwaltung nutzen
Die Wurzel der Verbesserungs- und Coaching-Kata, wie sie hier beschrieben ist, stammt ursprünglich aus dem der Produktionswirtschaft. Lässt sich die Idee so einfach auch für eine agile Verwaltung adaptieren? Ich persönlich bejahe es. Aber so einfach, wie es hier scheint, ist es nicht. Darin sehe ich ein wenig auch die Schwäche des Buchs von Mike Rother, das ich wirklich jedem empfehlen kann, der sich näher mit einer gesunden Verbesserungskultur beschäftigen möchte. Denn hinter der Verbesserungs- und Coaching-Kata steckt mehr als nur eine Routine oder Methode. Es ist leider nicht damit getan, einer Routine zu folgen und diese zu implementieren. Hinter der Verbesserungs- und Coaching-Kata steckt – wie schon weiter oben erwähnt – eine Denk- und Arbeitshaltung, eine ganze Arbeitsphilosophie: Kaizen. Diese braucht einen entsprechenden Rahmen. Einen Rahmen, der den evolutionären Entwicklungsprozess, das kontinuierliche Lernen und Verbessern erst ermöglicht. Dazu braucht es auch die „Köpfe“, die nicht nur willig dazu sind, sondern auch in der Lage, Problemlösungen zu entwickeln und am Ende umzusetzen. Die Entwicklung von Problemlösungskompetenzen ist daher ein zentraler Erfolgsfaktor. Neben dem Willen und Bestreben der Führung einer Organisation, dieses Können und Wollen nicht nur zu entwickeln, sondern auch zuzulassen.
Mir gefällt der Gedanke an eine agile Verwaltung, die auch jenseits ihrer agilen Projekte, im Arbeitsalltag, laufend Prozesse und Arbeitsabläufe auf den Prüfstand stellt und danach strebt, diese beständig weiterzuentwickeln. In der alle Kolleginnen und Kollegen ganz selbstverständlich, täglich daran arbeiten Dinge besser zu machen und weiterzuentwickeln. Die jeden Tag sich weiterentwickelt und lernt. In der der Verbesserungsmuskel ausgeprägt und trainiert wird. Beständig auf der Suche ist nach Möglichkeiten besser zu werden. Die Verbesserungs- und Coaching-Kata kann ein Baustein sein, auf dem Weg zum Ziel.