Thomas Michl schreibt in seinem Beitrag vom 5. August: „Methoden sind Werkzeuge und Hilfsmittel, nicht die Lösung“. Das bestätigt sich auch im Projektverlauf des vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) geförderten Projekts “Experimentierräume in der agilen Verwaltung (AgilKom)”. Hier erproben wir gemeinsam mit zwei Praxisorganisationen, dem Kreis Soest und der Stadt Essen, den Einsatz agiler Arbeitsweisen. Dabei haben wir gute Erfahrungen mit der eher niederschwellig anwendbaren Methode „Kanban“ gemacht – denn auch hier gilt: sie ist weniger die Lösung eines Problems, als vielmehr ein Hilfsmittel, mehr Transparenz zu schaffen und kollaborativ arbeiten zu können. Darüber hinaus leistet die Methode einen guten Einstieg bei der Implementierung agiler Arbeitsformen.
Mein Weg zum Kanban
Seit ca. fünf Jahren organisiere ich meine Arbeit mithilfe eines Kanban Boards. Ich habe mit einem physischen Kanban /Anmerkung 1/ begonnen – mittels Whiteboard, Stiften und Post-Ist. Inzwischen nutze ich pandemiebedingt ein virtuelles Board. Zuvor hatte ich mir Arbeitsaufgaben auf To-Do-Listen aufgeschrieben und die Aufgaben-Funktion meines E-Mail-Programms genutzt – das fühlte sich wenig effizient an und war anfällig dafür Aufgaben zu vergessen. Schnell stellten sich erste Erfolge mit der neuen Herangehensweise ein. Selbst zukünftige Aufgaben konnte ich sofort auf dem Board hinterlegen und behielt sie so durch die ständige Präsenz des Boards im Blick.

An den Abbildungen erkennt man, dass mein „Personal Kanban“ (engl. für persönliches Kanban; siehe Abbildung 2) nicht ganz einer rudimentären Form (siehe Abbildung 1) entspricht. Ich passte die Spalten nach und nach für mich an und nutzte irgendwann bestimmte Farben für ganz bestimmte Themen. Ich entwickelte mein Kanban völlig intuitiv weiter, obwohl ich mich mit der Methode an sich nur wenig beschäftigt habe, von Grundwerten, Kernpraktiken und Prinzipien wenig wusste und von Agilität kaum eine Ahnung hatte. Ich habe es einfach mal ausprobiert. Das führte letztlich dazu, dass ich meine Seminarorganisation, damals eine Kernaufgabe von mir, über ein Kanban gesteuert habe. Dazu später aber mehr.

Kanban ist in der öffentlichen Verwaltung inzwischen in aller Munde. Pandemiebedingt schreitet die Virtualisierung der Arbeit in den Behörden schnell voran und immer mehr digitale Tools erhalten Einzug. Ob mit einem digitalen Tool oder einem physischen Kanban-Board: Die aktuelle Situation in Behörden ist ein guter Anlass, um sich mit der Methode Kanban zu befassen. Dazu findest du hier eine Starthilfe auf Basis meiner eigenen Erfahrungen.
Da Kanban in den 1980ern entstand, entstammt es nicht dem Agilen Manifest /Anmerkung 2/ oder der Agilität an sich. Weshalb es trotzdem als eine agile Methode gesehen werden kann, verraten Werte und Prinzipien der agilen Welt (siehe Abbildung 3).

Ohne auf die agilen Werte (siehe kleine Kästchen in Abbildung 3) im Einzelnen einzugehen, wird ersichtlich, dass der Mensch im Zentrum der Agilität steht. Der Großteil agiler Werte und Prinzipien behandelt das Kundenverhältnis und die Art der Zusammenarbeit im Team. Explizit als weniger wichtig werden Themen des klassischen Projektmanagements angesehen, ohne sie dabei jedoch völlig auszublenden. In der öffentlichen Verwaltung stellt dies einen Paradigmenwechsel dar, welcher Mitarbeitende in ein Spannungsfeld zwischen klassischen Arbeitsweisen und Agilität stellt. Das bedeutet aber nicht, dass man sich zwischen dem einen und dem anderen entscheiden muss. Mitarbeitende oder Teams müssen herausfinden, auf welchen Feldern man sich der Agilität mehr zuwendet und wo die bisherige Vorgehensweise passender ist.
Neben den Werten im Agilen Manifest besitzt jede Methode ihr eigenes Werteset. Vergleicht man die Werte des Kanban (siehe Abbildung 4) mit denen des Agilen Manifests (siehe Abbildung 3), wird klar, warum es den agilen Methoden zugeordnet werden kann: Kanban bedient sich eines agilen Wertekanons, welcher den Menschen ins Zentrum stellt.

Was genau macht man mit Kanban?
Mit Kanban kann man Arbeitsprozesse visualisieren und Aufgaben organisieren. Dabei kann man die Methode alleine (als Personal Kanban, siehe oben) oder in einer Gruppe bzw. einem Team nutzen. Es ermöglicht insbesondere eine höhere Transparenz über Aufgaben, Zuständigkeiten und über Entwicklungen im Projekt bzw. Arbeitsalltag.
Für einen standardisierten Arbeitsprozess ist es das Ziel, diesen auf dem Board vollständig abzubilden. Hierbei ist jede Spalte als Arbeitsschritt zu sehen, der die einzelnen Teilaufgaben zugeordnet werden. Bei Arbeitsprozessen, die sich nicht stetig wiederholen, passt man das Kanban der eigenen Arbeitsweise oder der des Teams an (siehe Abbildung 2). Arbeitsaufgaben, die auf Karten niedergeschrieben werden, durchlaufen den Fluss dieses Prozesses – üblicherweise von links nach rechts über alle Spalten hinweg /Anmerkung 3/. Da es in der agilen Welt aber nicht darum geht, alles perfekt nach Schema zu machen, ist es völlig legitim die Methode so zu nutzen, wie es für eine selbst oder die Gruppe am besten passt. Wenn das bedeutet, dass eine Karte mal eine Spalte überspringt, ist das völlig in Ordnung, solange die Regel dafür für die am Board Beteiligten klar ist.
Wie kannst Du nun mit Kanban anfangen?
Beginne einfach mit dem, was du gerade tust. Nimm dir den Arbeitsprozess, an dem du gerade arbeitest oder einen, an dem du häufig arbeitest. Versuche, ihn in seinen Arbeitsschritten zu erfassen und jeden dieser Schritte in einer Spalte zu formulieren (wenn Du einen standardisierten Arbeitsprozess abbildest). Wichtig ist, dass dieser Prozess nicht ad hoc perfekt abgebildet sein muss. Wenn es zunächst nur drei Spalten sind mit „zu erledigen“, „in Bearbeitung“ und „erledigt“, ist das in Ordnung. Mache mit dir (oder deinem Team) aus, dass das Kanban kontinuierliche Verbesserung erfährt. Dazu solltet Ihr regelmäßige Rückkopplungsschleifen vereinbaren.
Entscheidend ist, dass sich alle, die committet und involviert sind, für das Kanban und seine Entwicklung verantwortlich fühlen. Das gilt auch in der Bearbeitung von Aufgaben. Auch sind alle dafür verantwortlich, dass die Arbeitsaufgaben erledigt werden. Dabei optimiert man das Kanban immer unter Berücksichtigung der jeweiligen Kund*innen. Kanban involviert alle Mitarbeitenden in den ganzen Arbeitsprozess, was dazu führen kann, dass die Arbeitsmotivation steigt /Anmerkung 4/. Führungskräfte müssen allerdings lernen die Organisation der Arbeit in die Verantwortung des Teams oder einer Person zu legen. Eine Führungskraft steuert “nur noch” die Arbeit und nicht mehr die Organisation des Teams. Außerdem ist es wichtig zu wissen, wann eine Karte in die nächste Spalte kommen kann oder eine Spalte überspringt, welche Farben, Magnete oder Klebezettel wann und zu welchem Zweck verwendet werden. Oder anders ausgedrückt: Welche Regeln gelten auf diesem Board?
Wenn man diese Schritte beachtet, kommt man in kurzer Zeit zu einem funktionierenden Rahmen für die Arbeit mit einem Kanban. Die niedrige Hürde in der Erstellung eines solchen Boards macht den Reiz aus, es einfach zu probieren. Denn im schlimmsten Fall hat man nicht viel investiert und ist um eine Erkenntnis reicher.

Blicke ich auf die Organisation meiner Seminare (siehe Abbildung 5), hat das mit einem rudimentären Kanban nichts mehr zu tun. Es handelt sich um einen standardisierten Prozess. Die Spalten „zu erledigen“ und „in Bearbeitung“ existieren nicht mehr und das Board bildet viele Arbeitsschritte ab. Arbeitsaufgaben, die immer wieder anfallen bei der Seminarorganisation, habe ich mit der Zeit in jeweils eigene Spalten überführt. Dieses Board hat nach ca. 1,5 Monaten Arbeit diese Gestalt angenommen. Dafür habe ich einige Retros (einen Vorschlag für tolle Retros liefert Euch meine Kollegin Corinna Höffner) für mich gemacht oder Veränderungen ad hoc vorgenommen bis das Board die Neugier eines Kollegen weckte. Ab da an war mein Personal Kanban für die Seminarorganisation ein Team-Kanban. Wir verabredeten uns am Anfang und am Ende der Woche jeweils zu einem kurzen, inhaltlichen Gespräch bzgl. des Boards. Alle zwei Wochen haben wir im Team mittels Retrospektive weitere Verbesserungen erarbeitet.
Klarer Fokus durch Kanban
Als Kernpraktiken lassen sich die in Abbildung 6 zusammengestellten Aspekte aufführen.

Die Begrenzung der Menge angefangener Arbeit (Work in Progress (WIP)) dient dazu den Fokus nicht zu verlieren, als auch den Durchlauf der Aufgabe durch das System zu optimieren. Man kann den WIP auf Spalten oder Abschnitte begrenzen. Der optimale WIP findet sich mit der Zeit durch verschiedene Iterationen des Boards. Dazu ist es allerdings nötig zu messen wie lange man für jeden Arbeitsschritt benötigt. Zwei Arten von Arbeitssystem möchte ich dafür hervorheben:
- Die Autoproduktionsstraße, wie bei Toyota. Der Kundenbedarf muss am Fließband gestillt werden und Arbeitsaufgaben werden ins Arbeitssystem gedrückt. (Push-Effekt)
- Die Seminarorganisation, wie in meinem Fall. Ich kann selbstständig entscheiden, welche Aufgaben ich mir zu welchem Zeitpunkt in mein Arbeitssystem ziehe. (Pull-Effekt)
Insbesondere im ersten Prozess ist die Festlegung auf das richtige WIP entscheidend für die Effizienz. Zeitaufwand und Arbeitsleistung pro Zeiteinheit sind hier die Größen, auf die man achten muss. Im zweiten Prozess ergibt sich der richtige WIP aus dem Pull-Effekt. Sobald eine Aufgabe erledigt ist, wird die Nächste zur Bearbeitung gewählt. Ähnlich gestaltet es sich im Personal Kanban /Anmerkung 5/. Sobald ein Team an so einem Board arbeitet, muss man einen WIP festlegen und diesen in Rückkopplungsschleifen reflektieren.
Unsere Seminarorganisation gestaltete sich auf diese Weise nach und nach immer effizienter. Auch kurzfristige Anfragen von Kolleg*innen konnten wir besser steuern ohne den Plan aus den Augen zu verlieren. Wir konnten bei Krankheit oder Urlaub sofort die Aufgaben füreinander übernehmen und unsere Vorgesetzte und Kolleg*innen konnten ablesen, bei welchem Arbeitsschritt wir uns in den unterschiedlichen Themen befanden.
Einen weiteren Effekt möchte ich hervorheben: Viele Mitarbeitende aus anderen Funktionen sprachen uns auf unser Seminar-Kanban an, so kamen wir oft in den Austausch. Es motivierte uns, mit der Methode weiterzumachen – und andere, sie auch selbst auszuprobieren.
Was bedeutet das allgemeiner für die öffentliche Verwaltung?
Anwendungserfahrungen /Anmerkung 6/ innerhalb des Projekts zeigen, dass der Einsatz insb. digitaler Kanban-Boards aufgrund der Zunahme virtueller Zusammenarbeit, in Zeiten der Corona-Pandemie, an Bedeutung gewinnt. Die Methode kann dabei für ein breites Spektrum von Themen und Aufgaben des öffentlichen Sektors sinnvoll genutzt werden. Neben der „klassischen Fallbearbeitung“ findet Kanban auch in der projektbezogenen Arbeit sowie in Aufgaben des Tagesgeschäfts Anwendung. Bestimmte Faktoren begünstigen dabei eine erfolgreiche Nutzung der Methode: ein gemeinsames Verständnis im Hinblick auf Regeln, regelmäßige „Check-ups“, die Verknüpfung mit agilen Besprechungsformaten sowie kontinuierliche, experimentelle und gemeinsame Verbesserungen und Anpassungen des gemeinsam genutzten Boards. Bei der Einführung der Methode innerhalb der Organisation müssen dabei jedoch auch Herausforderungen und Hemmnisse überwunden werden, wie die Befürchtung einer möglichen Transparenz des Arbeitsfortschritts und Angst vor zunehmender Kontrolle durch Vorgesetzte. Die Einführung von Kanban erfolgt nicht immer in Form eines geplanten Top-Down-Prozesses. Teilweise initiieren einzelne Mitarbeitende oder Teams die Nutzung in Form einer „Grassroot“-Bewegung. Auch die Durchführung von Methodentrainings wird als hilfreich im Zuge der Einführung beschrieben.
Was nimmst Du – hoffentlich – aus diesem Beitrag mit?
- Habe keine Scheu vor der Methode. „einfach MACHEN und EINFACH machen“ ist die Devise.
- Beachte Grundprinzipien und Kernpraktiken.
- Fange mit einem simplen Whiteboard, Stiften und Klebezetteln (respektive kostenlosem digitalen Tool) an.
- Lasse dir Zeit mit der Methode und probiere aus.
- Sprich mit Kolleg*innen darüber und tausche dich aus.
Das Projekt AgilKom wird im Rahmen der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördert und von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) fachlich begleitet.

Anmerkungen
/1/ Literatur zum Beitrag: Jordan, Frederic (2018): Kanban. Ursprung, Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Wirkungsweise. In: Martin Bartonitz, Veronika Lévesque, Thomas Michl, Wolf Steinbrecher, Cornelia Vonhof und Ludger Wagner (Hrsg.): Agile Verwaltung. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, S. 55–64.
/2/ https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html und https://agilemanifesto.org/iso/de/principles.html
Thomas Michl hat auch hier eine Erklärung zu den Prinzipien und eine Adaption an die öffentliche Verwaltung in einem Blog festgehalten: https://www.borisgloger.com/blog/2018/08/23/agiles-manifest-12-prinzipien-fuer-eine-agile-verwaltung#comment-518
/3/ Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten zur Formulierung von To-Dos. Eine Aufgabe sollte der Faustregel nach an einem Tag zu erledigen sein. Wenn das nicht möglich ist, sollte die Aufgabe feiner untergliedert werden. Auch eine SMARTe Arbeitsaufgabenformulierung ist möglich.
Beim Seminarorganisations-Kanban sind die Aufgaben Seminare. Hier sind die Aufgaben in den Spalten abgebildet.
/4/ vgl. Becker F. (2019) Passende Aufgaben und Flow-Erleben. In: Mitarbeiter wirksam motivieren. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-57838-4_13
/5/ Mehr zum WIP im Blogbeitrag von Wolf Steinbrecher „Ein Grundverständnis von Kanban bekommen“
/6/ aus: Lahn, A. / Seng, Prof. Dr. A. (2021): Anwendung von digitalem und physischem Kanban in der öffentlichen Verwaltung: Reflexion der Aktions- und Handlungsforschung des Projekts AgilKom, Beitrag zum 67. Frühjahrskongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft „Arbeit HumAIne gestalten“, 2021.