Unter der Rubrik „Griff in die Bücherkiste“ möchten wir unseren Leser:innen Titel vorstellen, die vielleicht eine Ergänzung zu den übrigen urläublichen Tätigkeiten (Hängemattenliegen, Cocktails schlürfen etc. pp.) darstellen. Dabei wollen wir gerade keine vollständigen Inhaltsangaben liefern, sondern nur gerade so viel über ein Buch verraten, dass noch Raum zum Selberlesen bleibt. Trifft dieser neue Service auf eure Nachfrage? Wir werden es an den Klickzahlen sehen.
Das erste Buch wurde von Sascha Friesike und Johanna Sprondel verfasst. Es trägt den Titel „Träge Transformation“, ist im Februar 2022 erschienen und beschäftigt sich mit einigen Ursachen, die der Digitalisierung im Wege stehen.
Die Ausgangsfrage des Buches
Die Basis des Buches bildet die Unterscheidung zwischen „Digitalisierung“ und „digitaler Transformation“:

- „Digitalisierung“ ist die Übersetzung analoger Dinge und Praktiken struktur-identische digitale Dinge und Praktiken: eine eingescannte Papierseite unterscheidet sich strukturell nicht vom Original – nur das Medium, in dem diese sich ausprägt, ist ein anderes. Dadurch werden keine wesentlich neuen Möglichkeiten geschaffen.
- Anders ist es mit der „digitalen Transformation“. Hierbei werden die Möglichkeiten des neuen Mediums erkundet und genutzt und führen zu ganz neuen Strukturen, die es vorher nicht gab. Es ist „ein zusammenhängender kollaborativer Prozess, der ein Verständnis aller Beteiligten von den relevanten Mechanismen, Praktiken, Problemen und Chancen verlangt.“
Die Autor:innen verdeutlichen den Unterschied zwischen beiden Begriffen am Beispiel „Landkarte“: eine digitale Landkarte ist erst einmal nichts wesentlich anderes als vorher der Papierplan – nur dass man sie jetzt nicht mehr umständlich auseinander- und zusammenfalten muss. Aber was bietet die Karte in einem Navigator heute dem Anwender nicht alles an Möglichkeiten: Berechnung des Fahrtwegs, Informationen über Staus, Angebote von Restaurants, Hotels und Museen usw. Das ist „digitale Transformation“ der alten Landkarte und sie ist es, die als großer Fortschritt empfunden wird.
Eine Hauptthese ist nun: die Verantwortlichen für Digitalisierungsprojekte konzentrieren sich auf die Digitalisierung und unterschätzen oder vernachlässigen die digitale Transformation. Das Ergebnis sind Lösungen, bei denen die Verantwortlichen die Idee haben, irgendeine „coole App“ bauen zu lassen, möglichst von einem Start-Up, die aber überhaupt auf keinen Nutzen ausgerichtet ist. Wie gerade eben die Grüne-Welle-App in Frankfurt, die Radfahrer dabei unterstützen soll, abschätzen zu können, bei welcher Geschwindigkeit sie an Kreuzungen nicht warten müssen. Nur dass nur 40% der städtischen Ampeln die App mit Infos versorgen, so dass diese ständig in den Modus „keine Prognose“ schaltet. Kosten: eine Viertel Million EUR. Praktischer Nutzen: Null.
Was das Buch sagt
Das Buch handelt von neun „Denkfehlern“, die es der Reihe nach vorstellt und auseinandernimmt. Diese Kapitel sind kurz – zwischen 5 und 10 Seiten – und unabhängig voneinander zu lesen. Also sehr gut für den Urlaub und mit reduziertem Leistungsstress: man muss sich nicht selbst verpflichten, das Buch vollständig zu lesen.
Ein Beispiel für einen Denkfehler lautet „Neu ist besser als gut“. Die Autor:innen weisen in diesem Zusammenhang auf die weit verbreitete Ansicht hin, dass „Veränderung“ und „Innovation“ eigentlich das Gleiche seien. Aber sie sind es nicht. Innovation kommt von lat. innovare, erneuern. Innovation legt das Gewicht auf die Tatsache, dass etwas neu ist – nicht unbedingt, dass es besser ist. Wenn Verantwortliche die Innovation als solche fordern, brauchen sie keine Begründung mehr, warum sie überhaupt etwas Neues einführen wollen: Hauptsache neu, das reicht.
Friesike und Sprondel verweisen auf Buzzwords wie „disruptiv“, „radikal“ oder auch „[irgendwas] first“ (KI first, Blockchain first) und erinnern an den Wahlslogan der FDP 2021 „Digitalisierung first – Bedenken second“. Denke man über diese Formulierungen nach, erscheinen sie zunehmend befremdlich. Warum sollen Bedenken per se unproduktiv sein? Und warum werden Menschen, die auch an Lösungen anknüpfen wollen, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, als Blockierer von Veränderung hingestellt?
Das Buch stellt verschiedene Beispiele vor, wie alte Handwerkspraktiken z.B. im Hausbau oder im Bäckerwesen, die in den letzten Jahrzehnten aus Kostengründen aufgegeben wurden, nun wieder – unterstützt durch digitale Maschinen – in Mode kommen. Also das Anknüpfen an alte analoge Erfahrungen hindert nicht die digitale Transformation, sondern treibt sie voran. Gerade die Verbindung von ganz alt und neu kann spannend sein.
Was das Buch nicht sagt
Die beiden Autoren nehmen die Beratersicht ein – und die ist interessant und macht Spaß zu lesen. Andererseits legen sie das Hauptgewicht auf Denkfehler der Verantwortlichen. Aber Denkfehler – gerade wenn sie oft und systematisch auftreten – fallen nicht vom Himmel. Wenn der nackte Kaiser glaubt, er trage wunderbare neue Kleider. Wenn sein Volk den eigenen Augen nicht traut, sondern mehr den Fake-Botschaften der betrügerischen Schneider Glauben schenkt: dann haben diese Fehler System.
Oft sind es Machtkonstellationen, die Denkfehlern zugrunde liegen. Sascha Friesike und Johanna Sprondel nennen am Rande einige Faktoren, z.B. dass Verantwortliche bar jeder Kompetenz zu Entscheidern in Digitalisierungsprojekten werden. Und dass dadurch auch die notwendigen „Aushandlungsprozesse“ unterbleiben, die ganz zentral für den Erfolg dieser Projekte wären, weil die Entscheider kein Gespür für die unumgängliche Beteiligung der künftigen Anwender:innen haben. Aber weil die Autoren sich aufs Denken konzentrieren und die anderen Bedingungen, die zum Handeln nötig sind, nicht beleuchten, bleiben Machtstrukturen außen vor. Und deshalb müssen wir als Leser die Antworten auf die Frage: „Ja und was tun wir jetzt mit diesen Erkenntnissen?“ wohl oder übel selber finden.
Bibliografische Angaben und weitere Informationen
Sascha Friesike, Johanna Sprondel: Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren. Reclam, 2022, 92 Seiten, 6 €. ISBN 978-3-15-014188-5.
Podcast zum Buch: Thomas Range von SPRIND („Bundesagentur für Sprunginnovationen“) hat Johanna Sprondel zu ihrem Buch befragt: https://www.sprind.org/de/podcast/33-johanna-sprondel/