Was macht Digitalisierung in Deutschland so langsam? Aus der Doktorarbeit ‚Digitization fast and slow‘

Im Sommer 2017 reiste ich im Auftrag des Deutschen Landkreistages ins europäische Ausland. Ich tat dies, weil es mir nicht gelungen war, für das Benchlearning der 103 kommunalen Jobcenter vorzeigbare Best-Practice-Beispiele für gelungene Digitalisierungsprojekte im Inland aufzutreiben. Ich fuhr nach Frankreich, zum Pôle Emploi in Paris, und entsandte Kolleginnen und Kollegen nach Dänemark, Belgien, Österreich und in die Niederlande. Beklommen kehrten wir zurück. Dass Deutschland in Sachen staatlicher Digitalisierung hinterherhinkte, war uns bewusst gewesen. Das Ausmaß unserer Rückständigkeit jedoch nicht.

Zeit für Fatalisten

Als Organisationsberaterin erlebte ich in den folgenden Jahren, wie sich staatliche Akteure an der Verwirklichung des Onlinezugangsgesetzes abrackerten, mit bescheidenen Erfolgen. Einige von ihnen vertrauten mir im Stillen an, dass sie die wenig visionäre Vorstellung, Bürger würden Anträge online stellen und Behörden die nötigen Daten miteinander austauschen, um sie anschließend medienbruchfrei weiterzuverarbeiten, in Deutschland für schlechterdings unumsetzbar hielten. Das konnte doch nicht die Möglichkeit sein? Der kümmerliche Stand der Dinge trieb mich dermaßen um, dass ich ihm eine Doktorarbeit widmete.

Die erste Erkenntnis dabei: Die Fatalisten hatten die Zahlen auf ihrer Seite. Die Nutzung digitaler Verwaltungsservices in Deutschland stagnierte zwischen 2008 und 2018 und war in einigen Jahren sogar rückläufig (!). In der gleichen Zeit machten andere europäische Länder – teilweise erhebliche – Fortschritte. In Dänemark verdoppelte sich die Nutzung digitaler Verwaltungsservices im gleichen Zeitraum. Und selbst in vergleichsweise großen und bürokratischen Ländern wie Frankreich ging es nach einigem Ringen stramm bergauf.

Ausreden, Ausreden

Also bereiste ich diese Länder, um zu erfahren, was ihr Erfolgsgeheimnis war. Die Expertinnen und Experten, die ich in Frankreich und Dänemark interviewte, räumten sogleich mit zwei Vorurteilen auf, die mir in Fachgesprächen in Deutschland häufig begegneten:

Erstens, der deutsche Datenschutz sei schuld an der Misere. Digital-freundliche Länder hätten durch laxere Vorgaben einen strategischen Vorteil. Die Wahrheit ist jedoch, dass die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) in Frankreich ebenso wie in Dänemark Gültigkeit hat. Zudem erweise sich die Beachtung des Datenschutzes in der Praxis weniger als Hürde, denn als Voraussetzung für einen digitalen Staat, gab ein dänischer Experte im Interview zu bedenken. Verlören die Bürger:innen das Vertrauen in den rücksichtsvollen Umgang mit ihren Daten, fehle dem digitalen Staat schnell der politische Rückhalt.

Angeblich durch datenschutzrechtliche Vorgaben verhinderte Projekte in Deutschland scheiterten weniger am Datenschutz selbst, sondern an irregeleiteten Annahmen, was genau er gebietet und verbietet. Hier sei in der Vergangenheit, so die kritische Selbsteinschätzung vieler deutscher Experten, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden.

Zweitens, Digitalisierung gelinge nur in kleinen Ländern gut; die überschaubare Größe von digitalen Champions wie Estland illustriere dies. Nicht nur demonstriert der Erfolg größerer europäischer Nachbarn, sondern auch von außereuropäischen digitalen Champions wie dem föderalen Kanada, dass große Staatgebilde mit mehreren Ebenen durchaus in der Lage sind, sich erfolgreich zu digitalisieren. Gleichzeitig legten mir die dänischen Verwaltungsdigitalisierer überzeugend dar, dass ein beteiligungsorientierter Wohlfahrtsstaat wie der dänische mit unabhängigen Kommunen ebenfalls auf eine stattliche Anzahl von Stakeholdern komme. Sicherlich nicht so viele wie Deutschland, aber immer noch so viele, dass eine effektive Governance für staatliche Digitalisierungsvorhaben kein Selbstgänger ist.

Was wirklich zählt I – Verantwortungsstrukturen der Verwaltung

Eine effektive Governance für das gesamtstaatliche Produkt der Verwaltungsdigitalisierung ist jedoch Dreh- und Angelpunkt für dessen Erfolg. An dieser Stelle stimmt die Beobachtung, dass Deutschlands dezentrale Verantwortung für den Gesetzesvollzug – und daher auch für Verwaltungsdigitalisierung – eine Herausforderung darstellt. Regional dezentralisiertes Verwaltungshandeln erschwert die Governance für die Digitalisierung und daher auch ein rasches, zweckmäßiges Vorgehen in der Breite.

In den Worten des Projektmanagements: Es fehlt natürlicherweise an einer zentralen Stelle, die für die Umsetzung und die Weiterentwicklung der digitalen Verwaltung verantwortlich wäre. Dies führt zu mangelnder Koordination. Synergieeffekte, die sich durch landesweit gültige Vorgaben, Standards oder technische Bausteine ergeben könnten, lassen sich auf diese Weise nur schwer stiften. Dass es Deutschland bis heute an einer gängigen, anerkannten und weit verbreiteten eID-Lösung fehlt, ist dafür exemplarisch.

Wichtig ist jedoch, sich nicht mittels des Totschlagarguments „Föderalismus“ aus der Verantwortung zu stehlen. Sowohl Franzosen als auch Dänen haben betont, dass die Zuständigkeitsstrukturen der analogen Welt auch bei ihnen nicht zum Ziel eines nutzerfreundlichen digitalen Staats hätten führen können. Die Dänen, zwar unitarisch und nicht föderal regiert, berichteten, dass sie den dezentralen Charakter ihres Staates mit seinen historisch sehr eigenständigen Kommunen bewusst mittels einer robust mandatierten Steuerungsgruppe überformt hätten. In dieser Steuerungsgruppe verabredeten Vertreter:innen der kommunalen, Landes- und Nationalstaatsebene alle wichtigen Entscheidung für die Digitalisierung ihres Staats.

Frankreich wählte einen anderen Weg. Hier setzte man weniger auf national gültige „Centralizer“ und konzentrierte sich darauf, jeweils innerhalb eines Rechtsgebiets kohärente eServices anzubieten. In beiden Fällen wurden jedoch neue, innerstaatliche „Projektstrukturen“ für das Vorhaben der Verwaltungsdigitalisierung geschaffen.

Deutschland hatte dies lange Zeit versäumt. Um digital aufzuholen, muss Deutschland zu einer effektive Governance finden, die den Gegebenheiten, aber auch den Herausforderungen der föderalen, weitgehend kommunalisierten Staatsordnung Rechnung trägt. Der Trick ist, eine gelungene Mischung aus loose vs tight zu implementieren. Dazu gehört ein ebenenübergreifendes Gremium, das die Kommunen einbezieht, eine hohe Legitimität hat und ein starkes Mandat besitzt. Wichtig ist auch die Möglichkeit der Wiederverwendung von Komponenten und die Entwicklung von Services vor Ort. Mit der Errichtung und schrittweisen Stärkung der FITKO ist Deutschland erste zaghafte Schritte in eine solche Richtung gegangen.

Was wirklich zählt II – Verwaltungskulturen

Doch auch die Verwaltungskultur, also die herrschenden Werte in der Öffentlichen Verwaltung, hat einen großen Einfluss darauf, wie schnell und erfolgreich staatliche Aufgaben digitalisiert werden. Eine etablierte Public-Service-Kultur, die bestmögliche Dienstleistungen für die Bürger:innen erbringen will, ist ein starker Motivator für die Digitalisierung. Dort, wo sie herrscht, haben Staaten oft einen Vorsprung in Sachen Digitalisierung erzielt. Fehlt es aber an einer solchen Kultur, kümmert sich niemand um die Digitalisierung, da sie nicht als wichtig erachtet wird.

Abbildung 2: Eigene Darstellung

In Deutschland herrscht nach wie vor eine vergleichsweise bürokratische Verwaltungskultur, in der Rechtssicherheit als höchstes Gut gilt. Effizienz, Nutzerzufriedenheit und mit der Privatwirtschaft vergleichbare Servicestandards sind dagegen eher ein Afterthought. Im Konflikt mit der Rechtssicherheit hat letztere stets Vorrang. Dies führt dazu, dass staatliche eServices in Deutschland oft ausschließlich aus einer Sicherheitsperspektive designed werden und die User Experience (UX) lange Zeit keine Rolle spielte. Man erinnere sich an DE-Mail oder vergleiche Elster mit Taxfix.

Aus der Erfahrung Frankreichs lässt sich jedoch Hoffnung schöpfen: Mit Digitalisierungsprojekten konfrontiert zu sein, gar persönlich eingebunden zu sein, verändert eingefahrene Mindsets. Hinzu kommt der anstehende Generationenwechsel in der Führungsebene der deutschen Verwaltung. Die neu „eingewechselten“ Spielerinnen und Spieler bringen vielfach frischen Wind und höhere Erwartungen an die digitale Leistungsfähigkeit des deutschen Staats mit. Der Weg hin zu einer digital-affinen und dienstleistungsorientieren Verwaltungskultur mag in Deutschland also weit sein, aber er ist schaffbar.

Autor: corinnafunke

Ich bin Managerin für Public Service Design bei gfa | public. Mein Interesse gilt öffentlichen Organisationen. Konkret: Wie sie sich organisieren sollten, um öffentliche Services zu erbringen, die Freude machen.

Ein Gedanke zu „Was macht Digitalisierung in Deutschland so langsam? Aus der Doktorarbeit ‚Digitization fast and slow‘“

  1. Schöne Zusammenfassung und in vielen Fällen keine neuen Ursachen & Zustandsbeschreibungen. Aber die Vergangenheit zeigt, das darüber noch mehr & öfter diskutiert und auch in die Breite Öffentlichkeit diese Themen und Probleme getragen werden müssen. Denn schließlich soll dieses dem Bürgern zu Gute kommen.

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