Einführung der E-Akte: Wie wir manchmal zu einer Kulturrevolution beitragen
Es ist ja viel vom nötigen Kulturwandel in den Verwaltungen die Rede. Wie wir das Silodenken überwinden können. Wie sich überbordende hierarchische Verhaltensweisen etwas lindern lassen. Wie wir unsere Prozesse entschlacken wollen.
Große Hoffnung wird dabei auch auf „die Digitalisierung“ gesetzt, die quasi automatisch alles verbessert, ohne dass sich irgendetwas ändern müsste. Dementsprechend erfolgen die E-Akten-Projekte in den Verwaltungen oft mechanisch, als „Roll-out“ von Software-Lizenzen in x Abteilungen und an y Arbeitsplätzen. Von einem Kulturwandel und den damit verbundenen Hoffnungen – siehe oben – ist dann im Ergebnis wenig zu spüren.
Jetzt habe ich gerade von einer Projektleiterin eine Geschichte erfahren, die wenig mit „Roll-out“ und viel mit tiefgreifendem Wandel zu tun hat. Die möchte ich hier weitergeben.
Abteilung XY unmotiviert: Keine Lust auf E-Akte
Im Landratsamt Oberbergen wird die E-Akte eingeführt – Abteilung für Abteilung. Als Nächstes ist die Kreiskasse an der Reihe (das ergibt sich aus dem Projektplan, der 2020 von der Dezernentenrunde verabschiedet worden war). Frau Eraydin als Projektleiterin spürt keine große Begeisterung, als sie auf das Kassenteam zugeht und die Termine für drei halbtägige Workshops abstimmt. /Anmerkung 1/ Aber das ist nichts Neues für sie: „In den ersten Workshop gehen alle Abteilungen skeptisch. Aber dann springt der Funke über, wenn die Teilnehmer merken, dass sie selbst etwas gestalten können.“
Aber da war kein Funke, auch nicht am Ende des ersten halben Tages. Auf die Frage, was sich die Mitarbeiter:innen der Kasse denn von der neuen Software wünschten: keine Antworten. Die Handys unterm Tisch sind hingegen sehr interessant.
Frau Eraydin verteilt eine Hausaufgabe bis zum zweiten Workshop 14 Tage später: Die Kolleg:innen sollten sich bitte Beispiele überlegen, bei welchen Gelegenheiten sie in der letzten Zeit Ärger oder Stress erfahren hätten, im allgemeinen Themenumkreis „Dokumente, Arbeitsaufträge, Informationsverteilung“. Und diese Beispiele sollten sie ihre bitte mailen, damit sie Stoff für den zweiten Workshop habe.
Von den Schwierigkeiten, einer Dritten seine Arbeit zu schildern
Nichts kommt. Frau Eraydin schickt mehrere Mails an den Kassenleiter, Herrn Holtz. Keine Reaktion. Der zweite Workshop rückt heran. Er soll um 8:30 Uhr beginnen. Frau Eraydin hat sich nicht wie sonst detailliert vorbereitet. Um 8:15 Uhr geht eine Mail von Herrn Holtz ein – mit einer Rechnung im Anhang. Aber ohne Erklärung.
Start des Workshops. Frau Eraydin bedankt sich bei Herrn Holtz dafür, dass er ihr ein Beispiel geschickt hat. Sie wirft die eingesandte Rechnung mit dem Beamer an die Wand. Eraydin: „Herr Holtz, ich sehe, dass das eine Rechnung der Abteilung für Tourismusförderung ist an eine Touristin, der ein umfangreiches Informationspaket zugeschickt wurde. Inwiefern hat das mit einer Störung zu tun?“ – Holtz: „Na, so geht es doch nicht.“ Eraydin: „Was geht so nicht? Ich habe keine Ahnung vom Verbuchen von Rechnungen. Könnten Sie mir das erklären?“ H: „Aber damit kann man doch gar nichts anfangen!“ E: „Können Sie mir das bitte erklären, warum man damit nichts anfangen kann?“
Circa 5 Fortsetzungen dieses E-H-Pingpongs später. Frau Eraydin hat nun verstanden, dass auf der Rechnung der Tourismusabteilung die PK-Nummer fehlte. Das ist die sog. Personenkonto-Nummer im öffentlichen Bereich, bei Privatunternehmen würde man vielleicht von Kundennummer oder Rechnungsnummer sprechen.
Warum Herr Holtz sich so ärgert
Und sie hat herausbekommen, was das Problem ist: Die Kreiskasse erhält eine Zahlung von 25 €. Dabei steht als Verwendungszweck nur „Materialien Oberbergen“. Ein genauerer Schlüssel, um die Zahlung einer Rechnung zuordnen zu können, fehlt. Jetzt fängt die Suche an, welche Abteilung diese Zahlung veranlasst haben könnte. Alle Zahlungen mit Betrag „25 €“ der letzten Wochen werden durchgegangen, verschiedenste Abteilungen angerufen, die müssen auch erst umständlich suchen. Ein Zeitaufwand von drei bis vier Stunden für die Kreiskasse ist die Folge. „Drei bis vier Stunden! Für 25 Euro!! Und manchmal müssen wir den Betrag zurück überweisen, wenn wir keine Rechnung dazu finden. Können Sie sich vorstellen, was uns das für Zeit raubt und wie man sich dann ärgert?“ Eraydin: „Haben Sie denn schon mal mit der Abteilung gesprochen?“ Herr Holtz, Brust herausgereckt: „Ach für die sind wir doch nur die Nerver von der Kreiskasse, die schon wieder mit was kommen. Denen sind wir völlig schnuppe.“
Lösungsphantasien. Der Dezernent als Drohkulisse, das DMS als Zwangskorsett für die anderen
Frau Eraydin hakt nach. Ob so etwas denn öfter vorkomme? Ja, bestimmt zwei, drei Mal im Monat. Nur von der Tourismusabteilung? Nein, es gibt ein paar „schwarze Schafe“ unter den Abteilungen. Was man denn da tun könne? Herr Holtz überlegt nicht lange: „Der Finanzdezernent muss eine Dienstanweisung verfassen und vom Landrat absegnen lassen und alle Abteilungen verpflichten, künftig in jede Rechnung die PK-Nummer zu schreiben.“ Und hat das etwas mit der E-Akte zu tun? „Ja klar. Man kann in alle Rechnungsvorlagen die PK-Nummer als Pflichtfeld aufnehmen. So dass man gar keine Rechnung versenden kann, die dieses Feld nicht ausgefüllt hat.“
Aber direkte Kommunikation ist auch nicht immer schlecht
Frau Eraydin schlägt Herrn Holtz einen anderen Weg vor. Er könnte doch erst einmal auf eine Abteilung zugehen – eben die Tourismusförderung – und mit der eine entsprechende Vereinbarung treffen. Und später könne man sich die anderen Abteilungen vorknöpfen.

Gesagt getan. Zehn Tage später gibt es eine kleine Online-Konferenz, die von Frau Eraydin organisiert und moderiert wird. Außer ihr und Herrn Holtz nimmt noch die Leiterin der Tourismus-Abteilung und ihre Assistentin, die immer die Rechnungen stellt, teil. Die Konferenz dauert gut 20 Minuten. Die Kolleginnen aus dem Tourismus sind bass erstaunt und fast schon erschrocken, was sie der Kreiskasse für Aufwand bereitet haben. Sie werden natürlich in Zukunft die PK-Nummer aus dem Finanzsystem heraussuchen bzw. dort neu anlegen. Und wenn irgendwas noch nicht rund laufe, solle Herr Holtz doch bitte ganz zeitnah auf sie zukommen.
Die Online-Konferenz ist zu Ende, und nur Frau Eraydin und die Tourismus -Leiterin sind noch im Raum. Eraydin: „Frau Adam, nur interessehalber eine Frage: ist Herr Holtz irgendwann in den letzten Jahren mit diesem Problem auf Sie zugekommen? Er ärgert sich ja schon, seit er in der Kreiskasse arbeitet.“ Adam: „In den letzten Jahren nicht. Aber vor vier Tagen. Da ist er persönlich gekommen, hat sich zeigen lassen, wie wir eine Rechnung erstellen. Und er hat uns gezeigt, wo im Finanzprogramm wir eine neue PK-Nummer anlegen können, falls ein Kunde noch nicht erfasst ist.“
Das Fazit von Frau Eraydin
„Tja“, sagte Frau Eraydin, nachdem sie mir die Story erzählt hatte. „Herr Holtz ist also von sich aus abteilungs-übergreifend aktiv geworden. Das hat er bestimmt im Leben noch nicht gemacht. Und im Kopf von Herrn Holtz hat sich an diesem kleinen Beispiel eine richtige Kulturrevolution ereignet.
„Erst dachten er und seine Kassenkolleg:innen, die Abteilung für Tourismus sei böse. Sie würden dort die Kreiskasse geringschätzen, als kleine Lichter in Entgeltgruppe 5. Er wollte diese hierarchische Abwertung rächen durch eine hierarchische Aufwertung seinerseits: mittels des Dezernenten die große Keule DA schwingen.
„Dann kam Herrn Holtz die Idee, die Touristenförderer seien vielleicht nicht in erster Linie überheblich, sondern vielmehr unfähig. Sie könnten mit PK-Nummern nicht umgehen. Dieser Gedanke machte sein Selbstbewusstsein stark genug, um auf Frau Adam zuzugehen. Und er konnte gut und engagiert in unserer kleinen Konferenz auftreten.
„Die DMS-Lösung, die Herrn Holtz gekommen war (Pflichtfeld in Rechnungsvorlagen verwaltungsweit), ist eine typisch technische Herangehensweise. Ich sage mal: ‚Workflow programmieren statt miteinander sprechen.‘ Das hätte den 10fachen Aufwand bedeutet (an Programmieren usw.) und bestimmt ein Jahr bis zur Realisierung. So haben wir in zwei Wochen eine Lösung für die eine Abteilung Tourismus. Und Herr Holtz hat jetzt gelernt, wie er auf die anderen „schwarzen Schafe“ selber zugehen kann. Dazu braucht er mich nicht mehr.
„Für mich als Projektleiterin für die E-Akte ist dieses Beispiel ein wichtiger Lernschritt. Das E-Akten-Projekt kann viel bewirken – weit über die digitalen Arbeitsweisen hinaus. Kein theoretischer Vortrag über Silodenken und die Nachteile hierarchisch-bürokratischer Dienstanweisungen hätte bei Herrn Holtz einen Riesensprung im Verhalten bewirken können, wie es diese kleine 25€-Rechnung getan hat. So angepackt, ist das E-Akten-Projekt eine Perlenkette von ‚cultural hacks‘ in die bestehende Verwaltungskultur hinein.“
Anmerkungen
/1/ Die Geschichte ist wahr erfunden. Sie ist in Wirklichkeit der Zusammenschnitt aus zwei Geschichten in zwei E-Akten-Projekten. Alle Angaben sind anonymisiert. Und das Landratsamt Oberbergen liegt in Dig-Italien, einem Land der blühenden zITronen und der Zukunft, so um 2030 herum.
