Die Diskussion um das Thema „Wie kann die Verwaltung die Digitalisierung vorantreiben – und vor allem warum?“ spielt auf unserem Blog eine zunehmende Rolle. Einige Beiträge sind dazu erschienen. /Anmerkung 1/ Auf unserer Jubiläumskonferenz „Agile Verwaltung 2023“ wird es eine Rolle spielen.
Die praktische Frage, die sich viele engagierte Innovator:innen in den Verwaltungen stellen, lautet: „Wie können wir praktisch anfangen? Wir sind von Blockaden umgeben – wie können wir damit umgehen?“ – Eine mögliche Antwort darauf liefert der Front-Line-Ansatz.
Der Ansatz stammt von Alan G. Robinson und Dean M. Schroeder. Sie haben dazu ein Buch geschrieben, das 2022 in den USA erschienen ist /Anmerkung 2/.

Die Autoren stellen am Anfang des Buches heraus, dass Change Management in öffentlichen Institutionen ganz anderen Gesetzmäßigkeiten gehorcht als in Profit-Unternehmen. Einer der verbreitetsten Glaubenssätze laute: „Die Verwaltung muss von der Wirtschaft lernen. Regierungs-geschäfte müssten mehr wie ein Geschäft geführt werden.“
Völlig falsch, sagen Robinson und Schroeder. Regierung und Verwaltung müssten mehr wie Regierung und Verwaltung geführt werden. Es herrsche dort zum Beispiel eine besonders hohe Komplexität der Aufgaben mit vielen Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Akteuren und auch staatlichen Ebenen.
Das Wichtigste in der Herangehensweise der Autoren: sie arbeiten empirisch, nicht ideologisch. So vermeiden sie die Fallstricke der Marktanbetungsrituale. Sie haben eine große Anzahl von Projekten in der öffentlichen Verwaltung der USA untersucht und dabei typische Blockaden wie auch besondere Erfolgsfaktoren zu identifizieren. Zu den besonderen Blockaden zitieren sie die RIE-Methode, die in Changeprojekten der Privatwirtschaft sehr erfolgreich ist. RIE bedeutet „Rapid Improvement Events“ (etwa: Maßnahmen zur schnellen Verbesserung). In der Verwaltung aber stellte sich heraus: solche schnellen Verbesserungen, die in Privatunternehmen innerhalb von zwei, drei Tagen realisiert wurden, dauerten im öffentlichen Bereich – sechs Monate…
Woran lag das? Ein Beispiel aus dem Buch:
Harry Kenworths, ein Berater, der viele RIEs im öffentlichen Sektor durchgeführt hat, bestand darauf, dass ein Team, mit dem er zusammenarbeitete, vor dem Start einer Maßnahme alle Richtlinien und Vorschriften prüfen sollte, die möglichen Änderungen im Wege stehen könnten. In einem von uns untersuchten Bundesstaat des Mittleren Westens war ein Team von fünf Rechtsanwälten damit betraut, dafür zu sorgen, dass die Verbesserungen nicht gegen bestehende Gesetze oder Vorschriften verstoßen.
(Seite 13)
Und was waren die Gemeinsamkeiten bei erfolgreichen Projekten? Denn die gab es auch – und mit zum Teil erstaunlichen Erfolgen in kurzer Zeit, die alle Privatunternehmen in den Schatten stellten.
Der Anstoß zu diesen Change-Projekten ging in der Regel nicht von der obersten Führung einer Behörde oder Gemeindeverwaltung aus, sondern von unteren Führungskräften oder Mitarbeiter:innen mit direktem Kundenkontakt. „Leute an der Front“ nennen sie die Autoren. Auch das eine Besonderheit in der öffentlichen Verwaltung, denn – so zitieren sie einen Verwaltungsleiter aus der schwedischen Stadt Borås:
Demokratische Verwaltung stellt einen der wenigen Orte in der Welt dar, an dem die Führungskräfte in der Regel viel weniger über ihre Organisationen wissen als die Leute, die an sie berichten.
(das.)
Ein Beispiel aus der Stadt Denver
Statt langer Theorien ein konkretes Beispiel für die „Front-Line-Methode“.
Stacie Louks, neue Leiterin der „Abteilung für Verbrauchsteuern und Lizenzen“ in der Stadt Denver, startet eine Verbesserungsinitiative. Die Abteilung vergibt rd. 80 verschiedene Lizenzen – Genehmigungen zur Personenbeförderung (z.B. Taxisfahrer); für Personal in Sicherheits- und Wachunternehmen; Ausschanklizenzen für Restaurants; für lebensmittel-verarbeitende Betriebe usw.
Stacie will etwas gegen die mehrstündigen Wartezeiten der Kunden und die Überlastung der Mitarbeiter:innen tun.
Jede:r der 39 Beschäftigten soll mindestens eine Verbesserungsidee machen, die innerhalb der nächsten sechs Monate umsetzbar ist – ohne großen Bedarf an externer Unterstützung (z.B. durch die IT-Abteilung).
53 Vorschläge gehen ein.
Ein Verbesserungsvorschlag lautete: Die Kunden mussten für ihre jeweilige Lizenz meistens mehrere Formulare ausfüllen. Einige Formulare wurden für verschiedene Arten von Lizenzen gebraucht, z.B. Nachweis eines amtlichen Führungszeugnisses. Das brauchte sowohl der Taxifahrer wie der Wachmann.
Jeder Kunde musste die Formulare, die er für sein spezifisches Anliegen brauchte, aus Dutzenden von Stapeln passend heraussuchen.
Das war fehleranfällig. Häufig kamen Kunden an den Schalter – und sie hatten ein Formular vergessen und mussten eine Schleife drehen. Das bedeutete längere Wartezeiten für die Antragsteller und Mehrarbeit für die Mitarbeiter.
Ein Kollege schlug nun vor, die Formulare in Mappen nach Lizenztyp vorzusortieren. Jetzt musste ein Kunde nur eine Mappe „für Taxilizenzen“ oder „für Alkoholausschank“ greifen und hatte schon alle benötigten Formulare beisammen. Fehler und die Verzögerungen fielen fort.
Ein zweiter Vorschlag: Die Abteilung hatte einen einzigen Kopierer für alle Schalter. Damit sollten ursprünglich Kosten gespart werden. Aber das hieß, dass jeder Mitarbeiter, der eine Kopie machen musste, quer durch den Raum zum Gerät gehen musste. Eventuell mit Wartezeiten, weil sich Schlangen bildeten.
Ein Beschäftigter schlug vor, für jeden Schalter einen Kopierer zu kaufen.
Stacie prüfte ihr Budget und wog es gegen den Nutzen ab. Geld war noch vorhanden, und die Schlangen am Kopierer lang.
Nach Realisierung aller dazu geeigneten Verbesserungen sank die durchschnittliche Wartezeit der Kunden von 1:40 Stunden auf 7 Minuten (-93%). In den Folgemonaten wurden auch die 7 Minuten noch eliminiert.
Welche Lehren für Digitalisierungsprojekte in einzelnen Verwaltungen?
- Versucht nicht, Blockaden, auf die ihr stoßt, zu beseitigen. Das ist nur in Ausnahmefällen sinnvoll. Meistens bedeutet es, dass ihr euch in die Resignation treiben lasst. Sucht mögliche Verbesserungen, die nicht blockiert werden.
- Kommunen können Verbesserungen allgemein und die Digitalisierung im Detail eher vorantreiben als Bundes- oder Landesverwaltungen. Und wiederum innerhalb der Kommunen können untere Ebenen eher strategische Entscheidungen treffen („was lohnt sich, als Nächstes anzupacken?“) als Bürgermeister, Landrät:innen oder Dezernent:innen.
Nur die Leute an der „Kundenfront“ sehen die Probleme und können ihre Dringlichkeit und Realisierungs-Chancen einschätzen. - Das liegt daran, dass die Prozesse „von oben“ unsichtbar sind. Keine obere Führungskraft kommt auf die Idee, Formulare anders zu sortieren und dadurch 20% der Wartezeiten zu beseitigen.
- Oft kommt man so auf kleine Lösungen für kleine Probleme. Aber die Probleme treten massenhaft auf und haben deshalb in der Summe große Wirkung.
- Auch große Top-down-Projekte können gut durch viele kleine lokale Ideen umgesetzt werden.
- Ergebnis des Vorgehens ist eine lernende Organisation: gelebte „Schwarmintelligenz“. Auf die sind wir aber in Zukunft angewiesen, denn die Rollenaufteilung „2% der Beschäftigten in den oberen Führungsetagen definieren die Ziele und 98% setzen die dann um“ funktioniert nicht mehr.
Es gibt einen großen Nachteil dieser Front-Line-Methode: Wenn wir gezwungen sind, quasi „unter dem Radar“ der Hierarchie durchzutauchen, um zu Resultaten zu gelangen – dann werden wir in der Regel auch keine Lorbeeren für Erfolge ernten. Anerkennung bleibt oft aus.
Aber dafür gibt’s dann ja das Forum Agile Verwaltung, seinen Blog und seine Konferenzen.
Dieser Beitrag wurde auf dem Event „Was wird aus den Digitallotsen? Das Konzept eines Digitalisierungsmanagers“ am 11. Januar 2023 gehalten. Es fand in unserer neuen Eventreihe „Impulse in der Mittagspause“ statt. Wer sich für die Reihe interessiert, findet hier die aktuellen Ankündigungen. Die Präsentation vom 11.01. könnt ihr hier herunterladen:
Anmerkungen
Aus dem Tagebuch des Digitalisierungsbürokraten – OZG
Warum ist das Thema Agile Transformation für die Verwaltung wichtig?
Was macht Digitalisierung in Deutschland so langsam? Aus der Doktorarbeit ‚Digitization fast and slow‘