Statt Workflow-Mythos: Raus aus den Silos!

Ich habe kürzlich in einem Post ein halb-fiktives Fallbeispiel eines Workflows geschildert. Dabei ging es um eine Beschaffung, deren Ablauf ganz komfortabel und modern in einem DMS abgebildet war. Im Beispiel stritten sich ein Herr Leichtenberger vom Vermessungsamt und ein Herr Helming von der Beschaffungsstelle darum, was wohl ein angemessener Preis für ein zu beschaffendes Tachymeter sein dürfe und welche Qualität das Vermessungsamt verlangen könne. (siehe https://agile-verwaltung.org/2016/03/24/mythos-workflows-das-ewige-unerfuellte-versprechen/)

Am Ende hatte ich den DMS-Workflow als Scheinlösung für einen tatsächlich verkorksten Prozess bezeichnet und die Frage gestellt: „Was wäre eine agile Antwort auf diese Situation? Was würden wir Herrn Leichtenberger und Herrn Helming empfehlen? Und was wäre eine gute, nachhaltige Methode der Prozessverbesserung?“

Dazu habe ich in der Zwischenzeit mit einigen agilen Kollegen diskutiert und  mir auch selbst noch ein paar Gedanken gemacht.

Workflow = Komplizierte Abbildung komplexer Prozesse

Der geschilderte Prozess ist komplex im Sinne des Cynefin-Modells. /1/ Das Ergebnis des Vorgangs steht nicht von vornherein fest, sondern ist Ergebnis eines Abwägungsprozesses der beteiligten Personen.

Diese Komplexität wird aber im Prozess wiedergegeben durch Kompliziertheit, das heißt durch Regeln. /2/

Die Regel lautet einfach: „Der Bedarfsträger beantragt eine Beschaffung aus seinem Budget. Im Antrag setzt er eine voraussichtliche Investitionshöhe fest. Der Zentrale Einkauf kann diese Summe korrigieren aufgrund seiner Kenntnisse der Markverhältnisse sowie des übergeordneten Ziels der Wirtschaftlichkeit.“

Diese Regel wiederum wird im DMS-Workflow nur abgebildet (siehe Abbildung oben). Charakteristisch dafür sind vier Festlegungen:

  1.  Der Bedarfsträger ist verantwortlich für die Qualität des Produkts.
  2. Der Zentrale Einkauf ist zuständig für die Umsetzung der Sparvorgaben.
  3. Für die Einhaltung der Sparvorgaben werden Anreize gesetzt, für das Qualitätsziel nicht.
  4. Der Zentrale Einkauf hat das letzte Wort.

Die Ziele „Qualität“ und „Preis“ sind widersprüchlich. Das ist so im Leben. Der Widerspruch taucht im Privatleben auf, wenn ich ein Auto kaufe. Und im Geschäftsleben genauso.

In unserem Beispiel aber werden die Verantwortlichkeiten für die beiden Ziele auf zwei Personen aufgeteilt, und zwischen beiden ein Machtgefälle konstruiert. Der Workflow gießt dieses Machtgefälle nur in eine unhintergehbare Form. Dadurch kann sich ein borniertes Teilziel gegen die anderen bornierten Teilziele durchsetzen. Ein qualitativ gutes Ergebnis im Sinne eines gemeinsamen Optimums der Einzelziele kann in der Regel nicht erreicht werden.

Lösungsbeispiel

Der Projektleiter des DMS, Herr Schlenk, überlegt sich nach seinen beiden Gesprächen Folgendes: Die Lösung für einen besseren Prozess wäre gerade nicht ein automatisierter „Workflow“, sondern Verhandlung auf Augenhöhe.

Dafür definiert das Landratsamt sog. „Leitplanken“. /3/

Die wichtigste Leitplanke legt fest:

„Die Beteiligten an einem Beschaffungsantrag bilden ein Beschaffungsteam (Vorgangsteam). Zum Beschaffungsteam gehören immer der Bedarfsträger (Antragsteller) und der zuständige Sachbearbeiter der Beschaffungsstelle. Wenn für die Beschaffung besondere Fachkenntnisse erforderlich sind, über die die antragstellende Abteilung nicht verfügt – zum Beispiel IT-Beschaffungen -, wird auch ein entsprechender Experte in das Vorgangsteam aufgenommen.

Das Ziel unserer Beschaffungen lautet: ‚Bereitstellung optimaler Arbeitsmittel für unsere Mitarbeiter bei gleichzeitiger Kürzung der Sachausgaben um 15%, wie im aktuellen Jahresbudget beschlossen.‘

Das Vorgangsteam trifft die Beschaffungsentscheidung gemeinsam im Konsens. Wird ein Konsens nicht binnen einer Woche erreicht, wird der Vorgang auf die Ebene der Abteilungsleitungen eskaliert“.

Auf diese Art und Weise ist gewährleistet, dass das Gesamtziel im Sinne des Landratsamtes Oberbergen („leistungsfähiges und preisgünstiges Produkt“) zumindest im Blick bleibt.

Die Unterstützung seitens des DMS für einen solchen Verhandlungsprozess wird jetzt sehr viel einfacher. Sie besteht im Wesentlichen darin, dem Vorgangsteam einen gemeinsamen Ordner („Vorgangsakte“) zur Verfügung zu stellen. In diesem Vorgangsordner legen alle Mitglieder des Vorgangsteams ihre Dokumente ab (also alle Spezifikationen, Nutzenberechnungen, Notizen usw.), bis ein gemeinsamer Beschluss gefasst ist.

AGILE Tipps für die Lösungssuche

Der Kern der Lösungsmethode besteht darin, komplexe Ergebnisse nicht mit komplizierten Methoden abbilden zu wollen, sondern angemessen komplexe Methoden anzuwenden.

Dazu gehört:

  • Die widersprüchlichen Ziele „Qualität“ und „Kosteneinsparung“ werden nicht in Teilziele auseinandergerissen, sondern bleiben vereint. Es werden verbundene Ziele formuliert.
  • Das Gleiche gilt für die Verantwortlichkeit der Zielerreichung: Beide Protagonisten sind gemeinsam dem verbundenen Ziel verpflichtet.
  • Die Macht im Gesamtsystem wird erhöht. Nicht nur der Sachbearbeiter des Zentralen Einkaufs hat die Macht über den Antragsteller. Sondern der kann eine Lösung auch verhindern, indem er den Konsens verweigert.

Die im Lösungsbeispiel genannte Eskalationsregel ist im übrigen kein Allheilmittel. Es besteht die Gefahr, dass im Vorgangsteam keiner dem anderen wehtun möchte und sich beide schnell darauf einigen, die Lösungsfindung nach oben zu delegieren. Um dem gegenzusteuern, sollten immer Anreize gesetzt werden, eine Eskalation nur im Ausnahmefall zu wählen.

Mit dem Bild des gemeinsam verantwortlichen Vorgangsteams wird der Sand aus dem Prozess entfernt. Im gewählten Beispiel bilden nämlich Herr L. und Herr H. „eigentlich“ bereits ein Vorgangsteam. Sie sollen einen Vorgang („Beschaffung eines Tachymeters“) gemeinsam zum besten Abschluss bringen. Aber die beiden verhalten sich nicht so. Sie verharren in ihrem Silodenken („ich als Leiter der Vermessungsabteilung“, „ich als Beschaffer“). Sie sehen sich nicht als kooperierende erwachsene Personen, die für ein gemeinsames Ziel eintreten. Ein solches steht gar nicht zur Debatte, sondern es gibt nur Siloziele („Qualität, koste es, was es wolle“ gegen „Sparen ist an sich die beste Qualität“).

Anmerkungen

/1/ Das Cynefin-Modell unterscheidet einfach, komplizierte, komplexe und chaotische Prozesse. Vgl. den Artikel <http://www.teamworkblog.de/2015/05/wie-adaptiv-sind-ihre-prozesse-teil-1.html>, dort auch weitere Literaturangaben.)

/2/ Siehe dazu das  Buch von Yves Morieux und Peter Tollman: Six Simple Rules: How to Manage Complexity without Getting Complicated. Harvard Business Review Press, 2014, ISBN 9781422190555. 2014. Dieses Buch geht ausführlich auf Unternehmens- und Behördenstrategien ein, der gesteigerten Komplexität der Anforderungen durch Erhöhung des Kompliziertheitsgrades gerecht zu werden.

/3/ Der Begriff „Leitplanken“ stammt aus dem Adaptive Case Management.

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

Ein Gedanke zu „Statt Workflow-Mythos: Raus aus den Silos!“

  1. Das spiegelt wider, was ich in 24 Jahren DMS-Branchen sehen konnte. Intuitiv werden eher gemeinsame Ablagesysteme für Artefakte, die im Prozess entstehen, zur Verfügung gestellt, als dass komplizierte Prozesse modelliert werden, die die Teilnehmer in Korsetts zwingen. Prozesse, deren Regeln sich zudem immer wieder ändern und zu teurer Administration der Workflows führen. In den meisten fällen reicht eine Statusinformation und eine Abonnement-Funktion, die die Abonnenten darüber informiert, wenn Änderungen im Datenbestand zum Vorgang erfolgt sind. Oder Wiedervorlage-Funktionen, die Aufgaben in „Wartehaltung“ zu einem passenden Zeitpunkt aktivieren und dann darüber informieren, dass es etwas zu tun gilt.

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