Kollektive Wirksamkeitserwartung

Es ist noch August. Die Frage kam von Blogdirektor Steinbrecher: „Kannst du Joker spielen? Sommerloch?“ Als Pensionär besitzt man echte wundervolle Zeitgefäße.

Ich: „Kannst du mir ein Wunschthema liefern?“  Wolf Steinbrecher: „Gerne das Thema Selbstwirksamkeit. Dass wir die Digitalisierung und Klimapolitik nur hinkriegen, wenn alle mitmachen dürfen. Und dass die Schule dafür die Weichen stellen muss.“ Ok. Passt doch gut.

Wie wäre es denn mit folgendem Ansatz: Drei von Hatties aktuellen Sechs Top-Faktoren als Erklärung, warum Australiens Fußballfrauschaft bis ins WM-Halbfinale kam.

Die Hattie-Studie – ich muss das kurz erklären – ist die größte Bildungsstudie weltweit, die wissenschaftlich unbestritten beschreibt, welche Faktoren sich denn in der Schulpraxis wirklich effektiv auf die Lernleistung auswirken. Inzwischen sind es über 300 Faktoren. John Hattie ist übrigens Professor für Erziehungswissenschaften und Direktor des Melbourne Education Research Institute an der University of Melbourne, Australien. Hier geht es zu den neuesten Studienergebnissen, falls sich jemand darin vertiefen will.

Leider, leider ist die Hattie-Studie an den meisten Schulen überhaupt noch nicht angekommen. Wenn das an der Schule Ihrer Kinder anders ist, dann darf ich gratulieren. Wäre es flächendeckend so, wären wir in Deutschland der Idee von Wolf Steinbrecher, dass Schulen doch bitteschön die positiven Weichen für Digitalisierung und Klimapolitik stellen sollten, schon ganz schön nahe gekommen.

Aber Schule setzt seit ihrer „Erfindung“ auf die Leistungsentwicklung des Einzelnen. Also schon immer. Wer in sich hineinfühlt, spürt es in der eigenen DNA. Wer kann sich denn eine Schulklasse vorstellen, die Teamwork in den Vordergrund stellt? Eine Fußball-Nationalmannschaft hingegen ist genau dann erfolgreich, wenn sie sich komplett als Team versteht. Klar, die Fähigkeiten der einzelnen Spielerinnen sind natürlich von großer Bedeutung … und der Zufall und das Glück spielt natürlich auch noch eine wichtige Rolle spielen, die den Fußball so spannend macht.

Eine erfolgreiche moderne Gesellschaft sollte eigentlich auch als Team arbeiten können. Wer aber von der ersten Klasse an lernt, dass die Welt fast immer auf Einzelleistung setzt, muss später erst mühsam seine eigene DNA verändern, um im Team erfolgreich zu sein.

Ich werde einmal konkreter. Die aktuell höchste Effektstärke in der Hattie-Studie ist die „Beurteilung des Peer Leistungsniveaus“. Effektstärke 1,85. Übersetzt: Wenn ich immer genau weiß, wo meine Peer-Group steht, dann kann ich mich darauf einstellen und mit meinen Leuten zusammen loslegen. Für erfolgreiche Fußballerinnen ein Muss.

Ich versuche das auch einmal in das „normale Leben“ zu übertragen. Wenn ich weiß, wo alle Leute aus meiner Community stehen und welche Stärken und Schwächen sie besitzen, dann sind wir gemeinsam in der Lage, etwas Starkes zu entwickeln und umzusetzen. Wenn ich mich aber in einer Community bewege, in der durch Unwissen über den aktuellen Stand der anderen das eigene Selbstbewusstsein negativ beeinflusst wird, weil es unwillkürlich Neid und negative Fantasien hervorruft, dann ist meine Community nicht in der Lage, befreit loszulegen.

Zweitbedeutsamste Effektstärke in der Studie heißt „Kollektive Wirksamkeitserwartung.“ Effektstärke 1,43. Na ja. Das ist bei einer erfolgreichen Fußballfrauschaft natürlich das A&O und dort kann man diesen Faktor live miterleben. „Kollektive Wirksamkeitserwartung“. Klar, das kennt jeder. „Kollektive Wirksamkeitserwartung plus ein Quantum Glück.“ Wie im normalen Leben oder? Hattie steht zwar für Schule, aber offensichtlich auch für das ganz normale Leben. 

Der schlichte Grund: Schüler:innen sind ganz normale Menschen, nur eben junge. Und wir Menschen ticken einfach so. Fühlen Sie in sich rein. Sollten sie in einer kleinen Community leben, in der kollektive Wirksamkeitserwartung für Sie immer wieder spürbar ist, dann wissen Sie, warum das auch für uns Menschen in jungen Jahren im Berufsfeld Schüler:in von so großer Bedeutung ist. Ist es nur leider in der Community der meisten Schulklassen überhaupt nicht.

Und nun der sechststärkste Faktor: „Beurteilung des eigenen Leistungsniveaus.“ Effektstärke 1,26. Kurz drüber nachdenken, dann wird den meisten klar sein: Stimmt. Allüberall. Wer kennt sie nicht. Früher fähige „Kolleg:innen“, die sich überschätzt hatten und z.B. einen Leitungsjob angenommen haben, der sie überfordert. Peter-Prinzip. Nicht effektiv. Auch jede einzelne Fußballerin muss natürlich ihre eigenen Stärken und Schwächen kennen. Zusammen mit der Kenntnis den Peer-Leistungen und der kollektiven Wirksamkeitserwartung ein echtes Erfolgsrezept.

Wenn ich meinen kleinen gedanklichen Ausflug zum Frauen-Fußball auf Schulbehörden übertragen sollte, dann würde ich vorschlagen: Nehmt Hattie bitte, bitte ernst und übernehmt diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in die moderne Planung von Schulen. Nehmt Schüler:innen als vollwertige junge Menschen wahr und traut ihnen viel mehr zu als allgemein üblich. Man kann sie übrigens auch viel mehr fordern.

Ich nutze diesen mir eher zufällig in den Schoß gefallenen Blogbeitrag dann doch gleich einmal für eines meiner persönlichen aktuellen Herz-Themen: SchüLehr:innenschule. Aber da dies sicher eher nur für Bildungs-Insider von Interesse ist, die wegen dem Problemfeld Lehrermangel schlecht schlafen, entführe ich Sie dafür besser auf meine eigenen Seiten des pädagogischen Ateliers für Blickwinkeländerungen.

Mit den besten Grüßen

Heinz Bayer alias Otto Kraz … Forum agile Verwaltung  … Hochschule für agile Bildung Zürich

Ein Ausschnitt aus der oben verlinkten Vertiefung zur Hattie-Studie.

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