Selbstbestimmung Hui, Fremdbestimmung Pfui?

Marianne Gronemeyer, emiritierte Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften

In diesem Artikel möchte ich das Plädoyer von Marianne Gronemeyer für die Nicht-Ächtung der Fremdbestimmung vorstellen. Sie sieht in der Fremdbestimmung eine wichtige Funktion in unserer Gesellschaft. Ob diese aber einen guten oder schlechten Beigeschmack hat, da kommt es eben auf die Art und Weise des Zustandekommens des Arbeistauftrags an. Frau Gronemeyer stellt in ihrer Einleitung bedenkenswert fest:

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Der Unterschied zwischen selbstbestimmter und fremdbestimmter Arbeit ist unkenntlich geworden, und das ist ganz im Sinne derer, die das Sagen haben. Es kann ihnen gar nichts Besseres passieren, als wenn die Untergebenen sich ihrer Willensfreiheit rühmen und an ihre Entscheidungsfreiheit glauben. Betrug und Selbstbetrug wirken da einträchtig zusammen. Denn natürlich möchte man sich lieber als Herr im eigenen Hause fühlen denn als Knecht unter fremder Knute.

In vielen unserer Artikel schreiben wir über unsere Haltungen während des gemeinsamen Arbeitens. Auf Augenhöhen um eine Lösung ringen,  ist so eine andere Redewendung, wenn es um Agilität geht, im Rahmen komplexer Beziehungen sich an ein Ziel heranzutasten.

Nun ist es auch hier nicht schwarz und weiß. Eben nicht ‚Selbstbestimmung Hui, Fremdbestimmung Pfui‘, sondern es kommt immer auf den Kontext an, sprich wie ein Arbeitsauftrag verhandelt wurde. Und ein wichtiger Kontext ist die der Erfahrung, dass schließlich noch kein Meister vom Himmel gefallen ist. Es ist wohl offensichtlich, dass wir nicht Jemanden ohne Erfahrung beauftragen wollen, uns ein sicherheitsrelavantes Produkt zu fertigen, denken wir nur an Hochhäuser, Hochgeschwindigkeitszüge oder Langstreckenflugzeuge. Lesen wir dazu einmal rein, was Frau Gronemeyer zu dieser Situation des Auftragsverhandels festzustellen weiß:

Ehrenrettung der Fremdbestimmung

Wir sind möglicherweise in einem verhängnisvollen Irrtum befangen, wenn wir ganz selbstverständlich, geradezu reflexhaft Fremdbestimmung negativ und Selbstbestimmung positiv beurteilen. Ich könnte geradezu darauf bestehen, dass nur aus fremdbestimmtem Tun, also aus solchem, zu dem ich bestimmt oder ‚berufen’ bin und das mich unter einen ‚Anspruch’ stellt, etwas Gutes erwachsen kann. Während selbstbestimmte Tätigkeit vielleicht in erster Linie auf Eigennutz spekuliert, ist jene, zu der Jemand in Anspruch genommen und berufen wird, von vornherein in ein soziales Gefüge eingebunden. Die für diesen Vorgang der Beauftragung benutzten Wörter oder Wortkombinationen: ‚berufen, in Anspruch nehmen, bestimmen, jemandem etwas zur Aufgabe machen’, bezeichnen alle ein Geschehen zwischen Menschen, die als Sprechende und Hörende aufeinander bezogen sind. Wer Jemanden ‚beruft’, muss einen Hörer finden. Das gleiche gilt, wenn er ihn ‚in Anspruch nehmen’ will. Wenn Jemand zu etwas bestimmt wird, wird ihm zugleich eine Stimme verliehen, kraft derer er selber Sprecher werden kann. Wer Jemandem etwas zur Aufgabe macht, sucht als Gebender einen Empfänger, der bereit ist, seinen Eigenwillen vorübergehend ‚aufzugeben’, also seinerseits Geber zu werden. Was diese Fremdbestimmung von Bemächtigung, was die Berufung von der Ausbeutung unterscheidet, ist, dass Auftraggeber und Auftragnehmer sowohl Sprecher als auch Hörer sind. Sobald Einer nur anordnet und der Andere stumm bleibt und ausführt, was ihm vorgeschrieben wurde, wird nicht Fremdbestimmung, sondern Herrschaft ausgeübt. Nennen wir sie also Fremdbeherrschung. So gesehen wären also Fremdbestimmung und Selbstbestimmung gar keine unversöhnlichen Gegensätze.

Berufen kann nur ein Auserkorener werden, einer, der zu der Bestimmung, die ihm zugedacht ist, in jeder Hinsicht stimmt. Eine Berufung stiftet eine unverwechselbare Bezogenheit zwischen Rufer und Berufenem und der Aufgabe, die sie miteinander teilen. Sie ist so konkret, dass sie nur namentlich geschehen kann. Jemanden berufen, ist etwas ganz Anderes als ihn auf seine Eignung für ein Projekt hin zu mustern. Die Eignungsprüfung ist vom Gesichtspunkt der Selektion bestimmt und konzentriert sich auf die Ausmusterung der Ungeeigneten. Die Berufung hingegen ist eine Einladung, die den Berufenen in eine Aufgabe und in eine Gemeinschaft hereinholt.
Sie setzt gerade nicht voraus, dass der Angesprochene das erforderliche Know how bereits mitbringt und die geforderte Könnerschaft routiniert handhaben kann, sondern eher umgekehrt, dass er oder sie über sie noch nicht verfügt. Auf den Berufenen richtet sich eine Hoffnung, auf den Getesteten eine Erwartung. Und das ist wahrlich ein Unterschied.

Ich berufe Jemanden zu einer Aufgabe, die er „ – zumindest zunächst – kaum bewältigen kann“, setze ihm Ziele, „die seine Möglichkeiten – zumindest im Moment überschreiten“, und lege Qualitätsmaßstäbe an, „die jedes Mal weit über seinen – augenblicklichen – Fähigkeiten liegen“. Ich traue also Jemandem etwas, was er noch nicht ist und noch nicht unter Beweis stellen kann, zu und gehe das Wagnis ein, mich in ihm zu irren. Dazu ist etwas notwendig, was nur in einem persönlichen Verhältnis seinen Platz hat: gegenseitiges Vertrauen. Wer sich zutraut- und das ist wahrlich ein Wagnis -, einen Anderen fremdzubestimmen, muss vor allem sich und dem Anderen Rechenschaft über die Rechtmäßigkeit der Aufgabe geben. Er muss im Rahmen des Möglichen sicher sein, dass er den Anderen nicht zu schädlicher, zerstörerischer oder überflüssiger Arbeit anstiftet. Wenn ich Jemandem etwas zu tun gebe, von dem ich glaube, dass es unbedingt getan werden muss, hoffe ich, dass der Andere darin mit mir übereinstimmt und sich angesichts des Vertrauens, das ich ihn setze, zutraut, sich der Sache anzunehmen. Insofern Fremdbestimmung eine Beziehung zwischen Dreien stiftet, dem Rufer, dem Berufenen und der Aufgabe,  müssen alle drei gleiches Gewicht haben. Sobald eine der drei Instanzen das Übergewicht bekommt und die Belange der anderen benachteiligt oder ganz missachtet werden, entsteht eine Schieflage. Wenn die Aufgabe dominiert, werden Diejenigen, die sie tun, instrumentalisiert, wenn die Beauftragten dominieren, herrscht pädagogische Tyrannei, wenn der Auftraggeber dominiert herrscht Ausbeutung. Alle drei Instanzen müssen füreinander nicht nur in Rufweite, sondern auch hörfähig sein, um die immer gefährdete Balance zwischen ihnen aufrecht zu erhalten. Dafür aber braucht es überschaubare Zusammenhänge, kleine Einheiten und kurze Wege. Nichts von dem findet sich z.B. in der modernen Berufswelt. Beruf und Berufung sind mittlerweile so weit auseinandergedriftet, dass sie trotz ihrer engen sprachlichen Verwandtschaft keine Gemeinsamkeit mehr haben. Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass wir uns über die bindende Macht unserer Sprache achtlos hinweggesetzt haben und uns Wörter mit gutem Klang für schlechte Gewohnheiten ausleihen

Wenn ich Jemanden fremdbestimme, dann muss also die Aufgabe bedeutsam, ja notwendig sein. Ich berufe Jemanden, weil ich ihn oder sie in einer wichtigen Angelegenheit brauche, und zwar ausdrücklich diesen besonderen Anderen für dieses besondere Anliegen brauche. Menschen werden durch die Aufgaben, die ihnen im Laufe ihres Lebens gestellt werden, geprägt und in ihrem Werdegang bestimmt. Wer mit Überflüssigem beschäftigt wird, wird selber austauschbar und überflüssig. Wem Belanglosigkeiten zugemutet werden, wird selber belanglos. Wer dagegen mit ernsten Anliegen betraut wird, kann wachsen. Die Möglichkeit‚ überhaupt ‚Ich’ zu sagen, hängt daran, dass ich in meiner Lebensgeschichte oft genug für bedeutsame Aufgaben ‚in Anspruch’ genommen wurde: „Das Hören, dass wir für Andere da sind und etwas bedeuten, dass sie etwas von uns wollen, geht also dem Aussprechen dessen, dass wir selber sind und was wir selber sind, vorauf. Dass wir Befehle von Außen erhalten und von Außen beurteilt werden, gibt uns Selbstbewusstsein. Denn nun empfinden wir uns als Etwas und Besonderes gegenüber diesem Befehl und diesem Urteil. Etwas anderes und etwas Besonderes zu sein, ist das Grunderlebnis des Ich.“

Und dieser Text ist nur ein kleiner Auszug aus dem kompletten, und sehr bedenkenswerten Plädoyer „Fremdbestimmung – Ja, bitte!“ von Frau Gronemeyer. Es sind hier auch eine Reihe von weiterführenden Quellenangaben enthalten.

Autor: Dr. Martin Bartonitz

Geboren 1958 und aufgewachsen in Dortmund, am Rande des Kohlenpotts, einem Schmelztiegel während der Gründerzeit eingewanderter Menschen. 1992 nach der Promotion in experimenteller Physik gewechselt von der Messprozess- in die Geschäftsprozesssteuerung. Mit Blick auf die Erfahrungen in der Optimierung der Effizienz von Prozessen in der Bürowelt kam in den letzten Jahren immer mehr die Erkenntnis: Das Business machen die Menschen. Und wenn nur nach der Effizienz geschaut wird, dann wird auch noch die letzte Motivation in den Unternehmen zerstört. Daher sollten Organisation und auch die eingesetzte Software die Menschen in ihrer Kreativitität unterstützen und sie nicht knechten. Selbstbestimmtheit statt Fremdbestimmung sollte uns den nächsten Schub in unserer gesellschaftlichen Entwicklung bringen.

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