Warum interessieren sich Unternehmen und Verwaltungen so zunehmend für agile Arbeitsweisen?
Auf diese Frage, die wir bei verschiedenen Veranstaltungen, Workshops und auf unserer FAV-Konferenz immer wieder gestellt haben, kommen viele individuelle Antworten. Und viele ähnliche. Drei Begriffe, die eine wichtige Rolle zu spielen scheinen, will ich hier aufnehmen und überlegen, was es mit ihnen und Agilem auf sich haben könnte. Ich freue mich besonders über Kommentare zum gemeinsam weiterdenken…!
Komplexität – „unsere Anforderungen werden immer komplexer…“
Diese Anforderungen sind lokal vielleicht verschieden oder unterschiedlich gewichtet. Generell aber sind die Ansprüche an die (und das Selbstverständnis der) Verwaltung aktuell weniger stabil und glasklar, als sie es lange Zeit waren. Zahlreiche Themen und Projekte wollen einfach nicht in die gewohnte Struktur passen. Sie sind nicht eindeutig einer Zuständigkeit oder Organisationseinheit zuzuordnen. Sie werden als ‚zusätzlich‘, als ,nicht zur Aufgabe gehörend‘ oder einfach als ‚speziell‘ wahrgenommen. Sie sind neu und bewegen sich im Querschnitt verschiedener Bereiche. Dabei übersehen wir manchmal, dass diese Themen gekommen sind, um zu bleiben. Und dass das Aufscheinen neuer komplexer Anforderungen voraussichtlich nicht aufhören wird, sondern immer stärker unseren Alltag prägt.
‚Komplex‘ ist anders als ‚kompliziert‘. Während es für komplizierte Fragestellungen meist mindestens eine zutreffende Antwort gibt, funktionieren komplexe Fragestellungen anders. Jede Teilentscheidung in einem komplexen Prozess hat Konsequenzen, die richtungsweisend wirken und so eine neue Dynamik anstossen. Das heisst kurz gesagt, dass Ursachen und Wirkungen in komplexen Umgebungen erst rückblickend sichtbar werden.
„In a complicated context, at least one right answer exists.
In a complex context, however, right answers can’t be ferreted out.
It’s like the difference between, say, a Ferrari and the Brazilian rainforest. Ferraris are complicated machines, but an expert mechanic can take one apart and reassemble it without changing a thing. The car is static, and the whole is the sum of its parts. The rainforest, on the other hand, is in constant flux—a species becomes extinct, weather patterns change, an agricultural project reroutes a water source—and the whole is far more than the sum of its parts.“ [SNOWDEN BOONE 2007]
Komplexität ist also nicht zufällig komplex. Sondern anders. Deshalb verzerrt der Versuch der Komplexitätsreduktion, nur um einen leichteren Umgang mit der Situation zu simulieren, die tatsächlich bestehende Realität. Häufig hilft im Umgang mit Komplexität eben ganz und gar nicht ihre Reduktion, sondern die kollaborative koordinierte Arbeit als multiprofessionelles Team und eine adaptive Etappierung und Taktung des Arbeitsprozesses entlang der Erkenntnisse. So können Erkenntnisfelder gesucht und gefunden werden und dann pragmatisch und realitätsnah bearbeitet werden.
Führung – „Unsere Leitung verlangt, dass wir mehr leisten. Aber mehr von dem, was schon jetzt nicht gut funktioniert, hilft uns nicht weiter…“
Führung ist eine Funktion in einem Betrieb. Wenn eine Führungsperson wichtige Entscheide auf sich vereint, dann ist der Betrieb so gut wie diese Person. Oder so limitiert. Hilfreich sein könnte die Fähigkeit zur Gestaltung von organisatorischer und personenbezogener Anpassung an situative Fragestellungen und Ziele. Diese Fähigkeit ist nicht abhängig von einer Führungsperson. Sie kann auch von zuständigen Teams übernommen werden. Unter Einbezug ganz verschiedener Fachlichkeiten und Blickwinkel – aber ein gemeinsames Projekt. In der Zusammensetzung, die der gegebenen Situation am sinnvollsten angepasst erscheint. Nicht nur feste Abteilungen, sondern gemeinsame, bewusst zusammen gesetzte Teams mit adaptierten Rollen. Fang an, hör auf – und tue dies sinnvoll immer wieder.
Planung – „Es geht alles so schnell. Wir können kaum noch planen…“
Planung ist wichtig. Allerdings nicht in erster Linie in die Zukunft gerichtet – „so wird es sein“ – sondern besonders, um aus dem Verlauf unserer Arbeit zu lernen und uns der Realität anzupassen. Die erlernte Theorie und die Planungsannahmen gehen oft von idealisierten Umständen aus. Viel Energie im Alltag geht ins Ausbalancieren der Zusatzaufwände und der Unsicherheiten, die durch die Unterschiede zwischen Planung und tatsächlicher Situation entstehen.
Planung steht im ständigen Gegenüber dessen, was die Realität gerade tut. Der Unterschied zwischen Planung, Realität und Ziel ist das wichtigste Informations- und Lernfeld. Dieses stetige Lernen beeinflusst das Vorgehen. Also ist das Weiterentwickeln des Plans – bzw die Dokumentation der Auswirkung des Dazulernens auf das aktuelle Vorgehen – der Normalzustand. Das heisst, selbst wenn der Plan nicht alleinbestimmend und Änderungen unterworfen ist, braucht es ihn. Fang an, hör auf – und tue dies sinnvoll immer wieder.
Quo vadis?
Für die Verwaltung bedeutet das einen Rollenwechsel: aus dem Denken in Systemen und Dezernaten wird das stetige Gestalten von angepasster Organisation.
Speziell die öffentliche Verwaltung hat aber in der Auseinandersetzung mit Neuem mit besonderen «branchenspezifischen» Schwierigkeiten zu kämpfen. Ihr grundsätzlicher Auftrag ist es, für Stabilität, Verbindlichkeit, Rechtstreue und vor allem Verlässlichkeit zu sorgen. Alles Aspekte, die besonders unter Veränderungsprozessen zumindest in der Zeit von Übergängen eher zu leiden scheinen. Auch fehlt Routine damit, die zumindest eine gewisse Sicherheit geben könnte. Die öffentliche Verwaltung ist weniger darauf angewiesen, sich quasi permanent
- mit Innovationsdruck: «neuer und besser»,
- mit sich ständig verändernden Kundenanforderungen und dem variablen Kaufverhalten oder
- mit unmittelbaren Konkurrenzkämpfen von Mitanbietern
auseinanderzusetzen und dagegen erfolgreich zu bestehen. Ihr fehlt also an Erfahrung, mit solchen Phänomenen selbstverständlich und routiniert umzugehen.
Vielleicht können agile Arbeitsweisen hier etwas Linderung verschaffen. Wir werden es, gemeinsam mit den vielen bereits interessierten Verwaltungsvertretern, versuchen herauszufinden.
Ich stimme dem zu, dass wir es mit steigender Komplexität zu tun haben. Komplexität aber als Ursache der entstehenden Probleme zu definieren erscheint mir zu einfach. Die Komplexität war schon immer da. Diese hat unter geringer Last in den Verwaltungsprozessen nicht zu Problemen geführt. Jetzt kommen die Prozesse unter Last (z.B Asylverfahren) und dann ist plötzlich die Luft weg sich um komplexes zu kümmern. Nun entsteht der Eindruck die Komplexität sei Ursache der Probleme. Im Grunde sind es aber die ineffizienten Prozesse die Standardprobleme (Kompliziertes und einfaches) nicht schnell genug abarbeiten können. Den Menschen die operativ in den Prozessen arbeiten bleibt kein Raum mehr sich um komplexes zu kümmern. Meines Erachtens gilt es als erstes die Organisationen zu befähigen die Standardaufgaben effizient abzuarbeiten. Das schafft Luft für anderes.
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Wenn man schon nicht bereit ist, sein starkes Kausalitätsprinzip ganz aufzugeben, sollte zumindest die Pluralität der Wirkungsmechanismen und damit ‚UrsacheN‘ und ‚WirkungEN‘ berücksichtigt werden.
Retrospektiv ergeben sich dann Kontingenzen, nicht Kausalitäten …
Wenn alles sich gegenseitig beeinflusst, führt der ‚divide et impera‘-Ansatz nicht mehr zu Lösungen.
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Sehr einverstanden. Danke für den Gedanken! Habe es im Text eingebaut – und würde zu gerne über den Umgang mit Kontingenzen statt mit Kausalitäten auch in der Praxis weiter philosophieren. Werde mal denkend in mich gehen und mich dann hier wieder melden. Wer macht mit ? Denn mit Kontingenz umzugehen braucht Kommunikation – sagt Luhmann.
Wie also zum Beispiel kann ich mit meinem professionnellen Umfeld mit nicht notwendigen nicht-eindeutigen Möglichkeiten Handlungswege beschreiten ?
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Wunderbare Perspektive von Komplexitätsbewältigung und Führung mit Blick auf vertrauensvolle Verwaltung. Ja, Vertrauen ist eins der Dinge, die uns in die Wiege gelegt wird. Unsere Babies kommen mit einem Urvertrauen auf diese Welt, denn andernfalls würden sie bei dem, was sie alles zu lernen haben, schier um.
Eine meiner Tochter hat Ergotherapie gelernt. Das sie und mich besonders interessierende Thema ist das der Resilienz. Wir sehen heute viele Menschen in die Depression gelangen. Das scheinen Jene Menschen zu sein, die zu wohl behütet durch ihre Kindheit gingen. Je weniger Tiefen, Verletzungen sie in ihrem frühen Leben erfuhren, desto eher haut es sie um, wenn in ihrem Erwachsensein ihre Planung völlig über den Haufen geworfen wird. Heutige Helikopter-Eltern, die ständig ihren Kindern den Hintern hintertragen, dürfen sich ein Leben lang um ihre wenig lebensfähigen Kinder kümmern.
Dagegen sind jene Kinder, die Vertrauen in ein ständiges Aufstehen wie zur Zeit des Laufenlernens erleben durften, in ein Leben mit ständiger Veränderung: da muss doch auch was Positives draus zu machen sein! Das wird schon!
Bezogen auf die zunehmende Beschleunigung der Veränderung heißt das für diese Menschen: Lass kommen, es wird schon eine Lösung geben 🙂 Und wenn ich mich selbst ändern muss. Eben: dauernde Änderung wird das Maß der nächsten Zeit. Und da geht nur „Probieren über Studieren“. Der Leiblingsspruch meines Vaters, von Beruf Dreher 🙂
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