Die ganz besondere Hebelwirkung der Verwaltung
Deutschland, Europa, die Welt; in vielen Regionen werden klassische, liberale oder soziale Demokratie derzeit auf eine harte Probe bzw. gar in Frage gestellt.
Viele fühlen sich machtlos, die Welle aufzuhalten.
Welche Rolle kommt der öffentlichen Verwaltung dabei zu?
Sie ist ja in vielem DIE prädestinierte Kontaktstelle zwischen staatlicher Obrigkeit und Bürgerinnen (das Maskulinum ist klaro immer mitgemeint ;-D ).
Zwei anekdotische Beispiele als Reflexionsfläche
(als erfundene Realität formuliert, so zwar geschehen, aber etwas abgeändert im Sinne einer Anonymisierung. Und nicht in allen Kommunen / Ländern gleich so zutreffend aufgrund unterschiedlicher Regelungen) :
Erfundene Realität 1:
Eine deutsche Beamtin geht in Pension. Sie hat erst in der Wirtschaft gearbeitet, wurde später verbeamtet als Teil einer kommunalen Verwaltung. Jetzt hat sie das entsprechende Alter erreicht.
Die Behörde teilt ihr mit, dass der Betrag ihrer Pension versorgungsadäquat sei, das heisst, die Versorgung der frischgebackenen Rentnerin damit als ausreichend sichergestellt gilt. Daher zieht der Staat von seiner Pensionszahlung einen Betrag in Höhe der von ihr vor der Verbeamtung erwirtschafteten Rente ab, damit der versorgungsadäquate «Deckel» nicht überschritten wird.
Der Pensionsanspruch wie auch die Rente sind von ihr erarbeitete Gelder – konkret erlaubt sich aber der Staat, einen Teil dessen für sich zu beanspruchen, damit „nicht zuviel bezogen wird“.
Der Staat muss immer abwägen zwischen Partikularinteressen und dem Gemeinwohl. Das ist eine der Umsetzungsaufgaben der Verwaltung.
Entsteht aber immer wieder der Eindruck, Staat und Verwaltung verträten zunächst ihre ganz eigenen Interessen als sich selbst verpflichtete verwaltende Institution und es gehe überhaupt gar nicht erst um die Balance Gemeinwohl und Personeninteressen, verlieren die Bürgerinnen Vertrauen in diesen Staat.
Erfundene Realität 2
Ein Auslandsdeutscher muss seinen abgelaufenen Personalausweis verlängern. Die Botschaft seines Aufenthaltslandes und alle Konsulate haben so lange Wartelisten für die Ausstellung neuer Ausweispapiere, dass sie schon seit längerer Zeit keine Termine vergeben.
Er wendet sich also an die Kommune seiner letzten Meldeadresse in Deutschland, er weiss, dass es eine Kann-Richtlinie gibt, die erlaubt, einen neuen Personalausweis dort ausstellen zu lassen – es gibt sogar eine Tarifregelung dazu – für Auslandsdeutsche wird die anfallende Gebühr verdoppelt.
Ein Anruf dort ergibt folgende Auskunft:
«Ich habe meine Vorgesetzte gefragt, das ist für uns zu aufwändig, wir machen das nicht.»
Auf die Frage, wie sich das mit dem Sinn von Verwaltung vereinbaren lasse, den Bürgerinnen dabei zur Seite zu stehen, ihren gesetzlichen Pflichten nachzukommen, kommt die Antwort:
«Wir überlasten uns doch nicht absichtlich, das ist allein Ihr Problem, hätten Sie halt eine deutsche Adresse behalten müssen.»
Er wartet nun die Frist ab, die nötig ist, um die Staatsangehörigkeit seines Gastlandes anzunehmen, um wieder in den Besitz gültiger Ausweispapiere zu gelangen, bevor auch der Pass abläuft.
Der Staat verhängt eine Ausweispflicht. Die staatsvertretenden Verwaltungsstellen, in diesem Fall die Botschaft und die befragte Kommune, können oder wollen den damit verbundenen Aufwand nicht leisten.
Weitere Anekdoten finden sich auch hier im Artikel «Leben und Verwaltung – über die Haltung der Verwaltung zu ihren eigenen Leistungen».
Die Beziehung zwischen Bürgerinnen und Staat ist an der Nahtstelle Verwaltung oft gestört.
Die Zielsetzungen von Verwaltung und Bürgerinnen sind nicht die gleichen – von beiden werden sie ganz offen als unterschiedlich empfunden.
Oft sprechen Bürgerinnen und Verwaltung nicht einmal die gleiche Sprache – deutsch und behördendeutsch sind nicht automatisch gegenseitig verständlich.
Es gibt ein paar Fragen, deren Beantwortung Bevölkerung, Verwaltung und Politik sich zur gemeinsamen Pflicht machen sollten, um die gestörte Beziehung zwischen Teilen der Bevölkerung und dem Staat aufzuarbeiten und zu einem neuen gemeinsamen Verständnis zu kommen:

- Was ist die Existenzberechtigung einer öffentlichen Verwaltung im DACH-Raum eigentlich? Wozu haben wir sie (und sie nicht schon lange outgesourct an andere professionelle Dienstleister)?
- Was kann und soll und muss sie sein aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger, aus Sicht der Politik, der Gesellschaft, der Wirtschaft …
- Und vor allem: Was kann und soll und muss die öffenltliche Verwaltung sein aus Sicht ihrer selbst? Was ihr Sinn, wonach strebt sie?
Was sind die ihr übergeordneten Ziele, Werte und was zeichnet sie aus?
Was ist zentral wichtig / was auch wichtig, aber weniger / was „muss halt“?
Und was muss aufhören?
Die Verwaltung als gelebte Verfassung.
Deren Sinn und Werteverständnis mehr verpflichtet als Weisungen und (Über-)Regulierungen.
Es kann nicht allein um Aufwände, Pflichten, Rechte und Regelungen gehen.
Verfassung ist die übergeordnetste Erlasstufe. Nicht die zweidimensionale Einzeldirektive. Es ist der grundlegende Sinn, das, was Bürgerinnen eines demokratischen Gemeinwohl- und Sozialstaates und die öffentliche Verwaltung gemeinsam haben, die ein Zusammenfunktionieren von Staat, Verwaltung und Gesellschaft funktionieren macht. Gelebte Verfassung im Alltag eben. Sonst entfremden sich Staat respektive seine Institutionen und seine Bürgerinnen immer weiter und das Vertrauen der Bevölkerung geht verloren. Und dann?
Trotz aller Regeln und Gesetze – ohne gegenseitiges Interesse und Vertrauen geht es nicht.
Ich habe keine Möglichkeit, eine empirische Studie von Presse und online-Artikeln zu machen. Aber eine Vermutung:
Es gab eine Zeit, in der «Vater Staat» als elterngleiche, manchmal disziplinierende, im Grunde aber fürsorgliche und benevolente Autorität wahrgenommen und beschrieben wurde.
Heute lese ich zunehmend Wahrnehmungen und Vergleiche mit hinter der Zeit weit zurückgebliebenen ewig gestrigen Prinzipienreitenden, mafiösen Seilschaftenstricklieseln, steuerhinterziehenden Möchtegern-Bonzen, realitätsfernen Selbstdarstellenden und wirtschaftsinteressengesteuerten Marionetten, wenn von Politik, Staat und Verwaltung die Rede ist.
Und selbst wenn das nicht repräsentativ oder nur Minderheitssaussagen seien: Die Tendenz ist bedenklich. Es ist etwas faul im Staate. Und die Verwaltung kann ihre Rolle darin nicht ignorieren, wenn sie eine Existenzberechtigung behalten soll.
