Ein neues Werkzeug
Am Wochenende las ich einen Artikel über die Auswirkungen der KI auf „die jungen Leute“1. Er war voller Angst. Es war von einer Generation ChatGPT die Rede, der die Erfahrung der Selbstwirksamkeit fehlen würde, weil ChatGPT selbst die Zusammenfassung der Recherche übernehmen würde.

https://www.pexels.com/de-de/foto/licht-schreibtisch-notizbuch-vintage-7610808/
Da fiel mir ein, so was Ähnliches habe ich bereits erlebt. Im Studium war ein Teil der Ausbildung die wissenschaftliche Recherche zu einem vorgegebenen Thema. Damals hieß es in die örtliche Bibliothek gehen, die richtige Abteilung finden und dort nach Büchern und Zeitschriften schauen. Es gab bereits die elektronische Recherche im Bestand. Ich erinnere mich, dass ich nach dem Heraussuchen der Bücher am Recherche-PC, gern die Regale ablief und im Bestand stöberte. Das ein oder andere fand ich – insbesondere am Anfang – zusätzlich. Weil ich lernen musste, dass die Artikel in Tagungsbänden mit den neuesten Erkenntnissen nicht einzeln inhaltlich auffindbar waren. Aus dieser Erfahrung heraus suchte ich dann die Tagungsbänder der akribisch notierten Liste der wichtigen Tagungen grundsätzlich während der elektronischen Recherche heraus und schaute dann in den einzelnen Tagungsbändern in den Regalen nach, ob darin für mich wichtige Artikel enthalten waren. Ich lernte mit dem Werkzeug Recherche im Bibliotheksbestand umzugehen. Pech hatte ich, wenn ein wichtiges Buch oder Band nicht im Bestand vor Ort waren. Die Universitätsbibliotheken in Deutschland stehen schon lange in engem Kontakt und man konnte über die eigene Unibibliothek ein Werk aus einer anderen Unibibliothek bestellen, Fernleihe hieß das. Da die Arbeit als gedrucktes Papier den Ort wechseln musste, dauerte es, bis man das bestellte Werk in der Hand hielt.
Als „Google Scholar“ startete und man die Recherche mit dem Fokus auf wissenschaftliche Arbeiten von zuhause aus machen konnte, wurde ebenfalls der Untergang der künftigen Generationen mindestens aber der guten wissenschaftlichen Arbeit prophezeit. Die Recherche müsse man gar nicht mehr selbst machen, Google erledige das für einen.
Was ist seitdem passiert? Die Recherche muss man immer noch machen. Google und andere Suchmaschinen finden zwar fast alles, aber man muss immer noch wissen was man sucht und wie man es macht. Die gute wissenschaftliche Arbeit ist nicht untergegangen, der Schritt Recherche ist nur anders geworden. Die Fernleihe hat sich größtenteils erledigt, das Ergebnisspektrum ist größer geworden. Ein Student, der früher die Suche auf den Bestand der eigenen Unibibliothek beschränkt hatte, wird heute mit dem gesamten Weltwissen konfrontiert und muss damit umgehen können.
Bei einer Konferenz im April dieses Jahres zum Einsatz der KI in Lehrorganisation und Hochschulverwaltung2 ist die Diskussion über den Einsatz und Umgang mit der KI in der Lehre nicht ausgeblieben. Der Einwand „wenn die Studis ihren Text durch ChatGPT ‚schleifen‘ können, dann kann ich die Arbeiten nicht nach der Qualität der Formulierungen beurteilen“ hatte nicht nur mich überrascht. Mein Erdkundelehrer fiel mir ein, der eine schlechtere Note für ein Referat gab, wenn es Rechtschreibfehler gab. Als Begründung kam das Argument, die Sprache sei das Werkzeug der Juristen und die Ausdrucksweise gehöre damit zum wichtigen Beurteilungskriterium. Die Antwort des vortragenden Juristen war – „Beurteilen Sie doch die Idee, die in dem Text steckt, nicht die Ausdrucksweise.“
Vermutlich gab es auch mal eine ähnliche Diskussion, als die Abschlussarbeiten nicht mehr handgeschrieben, sondern auf Schreibmaschine getippt abgegeben werden konnten. Für manche Lehrende ist das Anpassen der traditionellen Prüfungen an aktuelle Gegebenheiten eine echte Herausforderung. Das belegt auch die Tatsache, dass es Kurse gibt, die die Studierenden auf eine 5-Stündige Klausur mit Papier und Stift vorbereiten und zwar in dem die Hand darauf trainiert wird die physische Leistung des langen Schreibens überhaupt zu vollbringen, die offensichtlich bis dahin – und vermutlich auch danach – nicht benötigt wird.
ChatGPT ist das bekannteste Large Language Model (LLM) – eine KI, die Texte produziert, die wie von einem Menschen klingen. Die LLMs bestehen den vereinfachten Turing-Test3, der testen soll, ob ein Computer gleichwertiges Denkvermögen hat wie ein Mensch. Dazu muss man feststellen, dass die LLMs zwar Texte wie Menschen produzieren, aber nicht denken können. Der Test wurde sich in der Zwischenzeit weiter entwickelt4.
LLMs können nicht denken! Sie werden uns das Denken nicht abnehmen können. Wir sollten also anfangen die LLMs als das zu sehen, was sie sind: ein neues Werkzeug. Wie jedes neue Werkzeug, wird es die Art verändern, wie wir an und mit Texten arbeiten. Wir werden neue Fertigkeiten brauchen, um die LLMs effizient einsetzen zu können. Andere Fertigkeiten, die keine Rolle mehr spielen, werden wir verlernen dürfen. Wenn wir dieses Werkzeug einsetzen können, werden wir einige Schritte der Texterzeugung und Recherche schneller machen können. Schnellere Erreichung des Ziels stärkt die Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Davor muss man das „Prompten“ lernen – so heißen die Anfragen in menschlicher Sprache an die KI, um Antworten zu bekommen. Ich kenne Kollegen, die Protokollentwürfe von Videokonferenz sich von der KI erstellen lassen, was sie nicht davor befreit, die Mitschriften der KI durchzulesen und zu überarbeiten, spart aber viel Tipparbeit. Man kann sich einzelne Texte und ganze neue Themen von der KI zusammenfassen lassen und das sind nur die textbezogene Aufgaben. Es gibt Tools, die vieles andere können5.
Mir persönlich liegt der Gastbeitrag von Carsten Maschmeyer derselben Samstagszeitung6 näher, der vorhersagt, dass eine Vier-Tage-Woche auf uns wartet, ganz ohne Fachkräftemangel. Wenn wir erst gelernt haben die Möglichkeiten der KI richtig einzusetzen, ist das der nächste zwangsläufige Schritt, schreibt der Autor in diesem Artikel.
Mein Fazit:
Wir brauchen keine Angst zu haben: ChatGPT & Co ist nur ein Werkzeug. Und, wir dürfen nicht zu entspannt sein: Ausprobieren und Lernen ist angesagt – wir haben ein neues Werkzeug!
Quellenangaben:
- Badische Neueste Nachrichten vom 17.08.2024, „Die Abschlussarbeit ist passé“ von Beate Großegger ↩︎
- Konferenz „Digitalisierung weiterdenken – Künstliche Intelligenz in Lehrorganisation und Hochschulverwaltung“, Karlsruhe, 10. und 11. April 2024 des Projekts MODUS der Hochschulrektorenkonferenz (HRK): https://www.hrk-modus.de/angebote/veranstaltungen/konferenz-digitalisierung-weiterdenken-1/ ↩︎
- Wikipedia, Turing-Test: https://de.wikipedia.org/wiki/Turing-Test ↩︎
- DNIP, Was Turing-Test für die Gesellschaft bedeutet von Marcel Waldvogel: https://dnip.ch/2024/07/18/was-der-turing-test-fuer-die-gesellschaft-bedeutet/ ↩︎
- Wegweise für generative KI-Tools von Marcel Waldvogel: https://marcel-waldvogel.ch/2023/11/18/wegweiser-ki-tools/ ↩︎
- Badische Neueste Nachrichten vom 17.08.2024, „In Summe genau das, was unser Land aktuell braucht“ von Carsten Maschmeyer ↩︎

Danke für den Beitrag. 🌻
Thematisch verwandt und falls es interessiert:
Künstliche Intelligenz
Einen heiteren Spätsommer
wünscht Nirmalo
Den letzten Satz mit dem «Ausprobieren» kann man nicht genug betonen. Danke dafür!
Werkzeuge, die wir als Kind spielerisch ausprobieren konnten — auch Dinge damit machen, die so nicht im Handbuch stehen(!) — beherrschen wir aus den Effeff und können Nutzen und Risiken einschätzen.
Mit der KI zu spielen und ihr auch ein paar konfuse Aufgaben zu stellen, hilft, die Grenzen und Möglichkeiten auszuloten. Also los! 😉
Leopoldina hat ein Diskussionspapier veröffntlicht „Generative KI – jenseits von Euphorie und einfachen Lösungen“. Für die Leser*innen dieses Artikels sicher interssant: https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/generative-ki-2024/
Leopoldina hat ein Diskussionspapier veröffntlicht „Generative KI – jenseits von Euphorie und einfachen Lösungen“. Für die Leser*innen dieses Artikels sicher interssant: https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/generative-ki-2024/