Empirisches Arbeiten steht nicht hoch im Kurs. Das Motto bei neuen Projekten lautet eher „Ärmel hochkrempeln und loslaufen“. Dabei kann ein wenig empirische Ist-Analyse „Wo stehen wir überhaupt?“ nicht schaden, wenn man nicht gegen die Wand laufen will.Deshalb beginnen wir OE-Projekte oft mit der Verteilung eines sog. Selbstbewertungsbogens. Die Zielgruppen sind ganz unterschiedlich: in manchen Projekten ist es der Lenkungsausschuss, in anderen sind es Mitarbeiter und Führungskräfte der Pilotabteilungen. Oft machen wir die Selbstbewertungsaktion auch mehrmals im Projekt – zum Beispiel jedes Mal, wenn eine neue Abteilung ins Projekt kommt.
Nutzenorientierte Formulierungen
Ein typischer Selbstbewertungsbogen ist eine Excel-Tabelle mit 15 bis 25 Behauptungen, die positiv – also analog zu Audits im Qualitätsmanagement – verfasst sind. Wenn es bei dem Projekt zum Beispiel um die Verbesserung von Auskünften bei Bauanträgen geht, könnte eine Behauptung lauten:
„Wenn sich ein Bürger nach dem Stand seines Antrags erkundigt, kann jeder Teamkollege sofort unabhängig von der formellen Zuständigkeit Auskunft erteilen.“
Der Erfüllungsgrad einer solchen Aussage kann dann mit einem Wert zwischen Null und Fünf bewertet werden (0=überhaupt nicht erfüllt, 5=wir sind Weltmeister). Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus einem Selbstbewertungsbogen (SBB) zum Start eines E-Akten-Projekts (DMS-Einführung).

Wichtig ist, dass die Fragen nutzen-orientiert sind und nicht als Schuldzuweisungen interpretiert werden. Das ist nie 100%ig möglich. Aber wir sollen uns bewusst sein, dass Fragen, die auf individuelles Verhalten zielen:
Ich wende in meiner Arbeit immer den Einheitsaktenplan an.
einen extrem demotivierenden Effekt auf Mitarbeiter haben. Das Projekt erscheint dann als neue Zwangsjacke, die noch mehr Regeln erfinden und ihre Anwendung überwachen soll, und die Selbstbewertung als Verhörmethode auf dem Weg dahin.
Mit unserer nutzen-orientierten Formulierungsweise versuchen wir, die Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass das Projekt ihnen in ihrer täglichen Arbeit etwas bringen soll und nicht nur die neuen eGovernment-Gesetze irgendwie über die Bühne gebracht werden sollen.
Anonymisierte auswertung und gemeinsame Ergebnisinterpretation
Wichtig ist, dass die Selbstbewertungsbögen anonymisiert ausgewertet werden. Und dass die Ergebnisse gemeinsam in einem Workshop analysiert werden.
Wir haben ein kleines Excel-Tool, mit dem die SBB im Nu ausgewertet sind. Heraus kommen zwei Grafiken. Zuerst ein Histogramm, das die durchschnittliche Punktzahl pro Bogen auswertet:

Abbildung 2 zeigt, wie sich 14 Bögen von ausgewählten Mitarbeitern aus drei Sachgebieten einer Kommunalverwaltung verteilen. Die „guten Bögen“ – die sich selbst eine hohe Punktzahl gegeben haben – stehen links (gelb), die Bögen „mit hohem Verbessserungspotenzial“ stehen rechts (orange und rot).
Es ergibt sich in der Regel keine Normalverteilung, sondern ein durchaus differenziertes und aussagekräftiges Bild. Im Workshop können die Mitarbeiter sofort eine Interpretation liefern: „Sachgebiet A arbeitet fast nur im Fachverfahren. Da fallen kaum Dokumente an, die man manuell im Dateisystem auf dem Server ablegen müsste. Aber die Sachgebiete B und C haben komplexe Aufgaben im Stadtplanungsbereich, da ist eine strukturierte Schriftgutverwaltung sehr schwierig.“
Und schon haben wir gute Anhaltspunkte, welche Sachgebiete wir am Anfang als Piloten ins Projekt holen werden (natürlich die mit dem höchsten Nutzen, B und C). Aber die nächste Auswertung liefert noch genauere Ergebnisse:

Hier werden oben in der Grafik die Aussagen des SBB (hier von 1 bis 25) in Kurzform aufgelistet. Die schwarze Kurve stellt den Mittelwert über alle Bögen dar. Ausschläge der Kurve nach oben bedeuten „schlechte Selbstbewertung“ bzw. hohes Verbesserungspotenzial. Bei guten Selbstbewertungen biegt die Kurve nach unten ab. Die schwachen Kurven im Hintergrund stellen die einzelnen (anonymen) Bögen dar.
Jetzt können wir uns gemeinsam anschauen, bei welchen Thmenebereichen das Projekt besonders hohen Mehrwert für die Anwender erzeugen kann. Ist es die Ablösung des Papiers? Ist es die E-Mail-Flut? Ist es der mangelnde Überblick bei komplexen Projekten?
Türöffner in Denkräume
Jetzt wird der Workshop erst interessant. Man kann verschiedene Fragestellungen anschließen:
- Wir können bei einzelnen Punkten tiefer einsteigen. „Wir haben an mehreren Arbeitsplätzen eine hohe E-Mail-Belastung. Woran liegt das denn?“ – Und schon ist man mitten in einer 5W-Sequenz.
- Wir können Visionen ausmalen. „Was wäre anders, wenn wir alle Verbesserungspotenziale ausgeschöpft hätten – die ideale Arbeitsumgebung 2022 – wie sähe die aus?“ Eine Methode wie „Remember the Future“ bietet sich da an.
- Welche Fragen haben wir im Selbstbewertungsbogen vergessen? Welche hätten Sie sich noch gewünscht? Warum? Wie hätten Ihre Antworten gelautet?
Auf jeden Fall bedeutet diese empirische Ist-Analyse eine „Stockung im Projekt, die uns weiterbringt“. Das größte Risiko von Organisationsentwicklungs-Projekten besteht darin, zu kurz zu springen. Oder, wie Rüdiger Czieschla in seinem letzten Beitrag schrieb: „Selten kommt Gutes dabei heraus, wenn wir etwas tun müssen.“ Wenn man gemeinsam (Projektteam und Anwender) zu Projektstart empirisch arbeitet, dann tritt man erstmal neben die eigene Organisation und fragt sich: „Wo stehen wir eigentlich? Und wo wollen wir hin? Und warum?“
Und auf einmal ist es kein „Muss“ mehr, das im Vordergrund steht, sondern die eigenen Ziele. Es ist durchaus eine Stockung zu Projektstart, aber eine, die neuen Schwung verleiht und Freude bringt. (Wenn es erlaubt ist. In manchen Verwaltungen gilt das „nicht lange nachdenken, die Ärmel aufkrempeln“ als höchste Projekttugend. Dort optimiert man und optimiert – und nichts wird besser.)
Materialien zum selbst ausprobieren
Wer möchte, kann sich den kompletten SBB aus Abbildung 1 hier herunterladen. Wer Selbstbewertungen zu anderen Themen sucht oder selbst welche entwerfen will, kann uns hier eine Mail schreiben: