Das Neue Steuerungsmodell (NSM), die deutsche Variante des New Public Management, hat die strategische kommunale Diskussion dominiert, seit es in den 90er Jahren von der KGSt entwickelt wurde. In den letzten Jahren gab es einige bilanzierende Artikel, wobei die kritischen Stimmen zu überwiegen scheinen. /1/
Aus einer agilen Perspektive ist interessant nachzuforschen, welche Elemente des NSM die Kommunen befähigt haben, ihre Leistungen zu steuern und besser und schneller auf neue Herausforderungen zu reagieren. Und wo sie vielleicht sogar starrer, unflexibler gemacht wurden.
Diesen Themen wollen wir in den nächsten Monaten eine lockere Folge von Artikeln widmen. Heute: Die Methoden der Umsetzung von Zielen.
Die schöne Welt der Kennzahlen
Zum Start meiner Nachforschungen bin ich auf ein paar Amtsleiter aus benachbarten Landratsämtern zugegangen, die ich noch von früher aus meiner Tätigkeit als Controller eines Landkreises kannte. Ich war damals (Mitte der 90er bis Mitte der Nullerjahre) zuständig für die Vergleichsringarbeit unserer Behörde und hatte einige Kontakte geknüpft.
Eine meiner Auskunftspersonen, Gottfried Seybold, war bis zu seiner Verrentung letztes Jahr Leiter der Psychologischen Beratungsstellen des Landkreises Oberstaufen. /2/ Seine Aussage erstaunte mich von allen am meisten. Als ich ihm meine übliche Einleitungsfrage stellte:
„Was hat sich Ihrer Meinung nach durch Einführung des NSM am meisten geändert?“
antwortete er:
„Die Autoritätsgläubigkeit. Das Buckeln nach oben hat drastisch zugenommen, und die Verhältnisse innerhalb unseres Amtes wurden komplizierter.“
Herr Seybold erklärte er mir dann genauer, was er meinte.
Das Berichtswesen war deutlich ausgebaut worden. Interne Controllingberichte vom Amt an Landrat und Kämmerer wurden eingeführt, und es gab die Ergebnisse der Vergleichsringe. Zentrale Kennzahl für die Beratungsstellen war
behandelte Fälle
Vollzeitstellen
Wenn sich im internen Controllingbericht herausstellte, dass die Zahl der Fälle pro Stelle von 185 auf 172 gesunken war, so war das schlecht. Wenn der Vergleichsring dann auch noch ergab, dass die Beratungsstellen eines anderen Kreises 204 Fälle pro Jahr und Stelle „erledigte“, war das nochmal schlechter.
Dagegen gab es vier mögliche Strategien:
1. versuchen, effizienter zu werden;
2. Erklärungen für die schlechteren Resultate liefern;
3. Ausflüchte für die schlechteren Resultate finden;
4. Zahlen beschönigen, fälschen, lügen.
Das Paradoxe sei gewesen, so Seybold, dass die vom NSM eigentlich angestrebte Strategie 1 in der Realität durch die Strategien 2 bis 4 völlig in den Hintergrund gedrängt wurde.
Das hing mit der inneren Dynamik der Budgetverhandlungen zwischen Amt und Behördenspitze (vor allem Kämmerei) zusammen: Wer effizienter wurde, hatte nichts davon. Er bekam im Folgejahr das Budget gekürzt. Wer das Budget behalten wollte (sei es zum Ziel besserer Beratungsleistungen, sei es, um den Aufwand für Verbesserungen zu vermeiden), musste Strategien 2 bis 4 wählen.
„Innerhalb meines Amtes ergaben sich dadurch ganz merkwürdige Koalitionen“, so Seybold. „Diejenigen, die wirklich etwas für unsere Klienten tun wollten und zum Beispiel mehr Zeit für Gespräche haben wollten, verbündeten sich mit denjenigen, die nur an einem ruhigen Lenz interessiert waren. Also eine völlig widersinnige Einheitsfront der ganz Engagierten mit den ganz Uninteressierten.
Ich selbst wollte Strategie 2 fahren, also Erklärungen liefern. In unserer Hauptberatungsstelle lagen die Fallzahlen tatsächlich weit unter dem Durchschnitt; aber dort lag auch ein sozialer Brennpunkt. Viele Fälle waren nicht nach 3 bis 4 Beratungsgesprächen abgeschlossen, sondern erst nach sieben und mehr. Das drückte auf die Kennzahlen.
Als ich in einem Bericht sozioökonomische Kennzahlen lieferte, die als erklärende Variablen die Unterschiede innerhalb unserer Beratungsstellen und zu anderen Landkreisen dienten, wurde das von der Kämmerei sofort unter ‚Strategie 3‘ eingeordnet: ‚Wilde Ausflüchte‘.
‚Siehst du‘, sagten meine Mitarbeiter, ‚lügen musst du, etwas anderes hilft nicht.‘ Und den Leiter einer dezentralen Beratungsstelle habe ich dann tatsächlich dabei erwischt, wie er mir einfach erfundene Fallzahlen lieferte.“
Momente des Misserfolgs
Die Beratungsstellen im Kreis Oberstaufen konzentrieren wie in einem Brennglas die Faktoren, die die versprochenen Erfolge des NSM zumindest behindert haben. Die KGSt hatte das von ihr entwickelte Modell unter anderem damit begründet, durch Controlling und simulierter Wettbewerb ließe sich das Wachstum öffentlicher Ausgaben begrenzen. Dies sollte quasi im Selbstlauf, ohne dauernde politische Konflikte geschehen. Die Basis dafür sollten „objektive“ Kennzahlen liefern, die die Leistungsentwicklung sowohl diachron (also im Zeitablauf von einem Jahr aufs andere) als auch synchron (im Vergleich mit anderen Kommunen) dokumentieren sollten.
Das war bestenfalls naiv, im schlimmeren Fall ideologisch verblendet. Die Darstellung Seybolds zeigt: Kennzahlen stellen kein Mittel zur Fremdsteuerung dar.
Hören wir Seybold selbst: „Statistiken sind wichtig. Sie funktionieren aber nur, wenn sie der Selbststeuerung dienen: wenn eine Beratungsstelle besser werden will, wird sie die eigenen Statistiken auch nicht frisieren. Sowie die Kennzahlen aber der Steuerung durch jemand anderen dienen, riskieren sie, zum Selbstzweck zu werden. Das Buckeln nach oben fängt an, und die Klienten treten in den Hintergrund. Die schwierigeren Fälle werden abgewiesen, sie könnten ja die schönen Kennzahlen verderben. Ganz leichte Fälle, die man schon beim Erstkontakt abschließen könnte, werden hingegen in die Beratung geholt. Denn sie können nach zwei Tagen erledigt werden, dann aber kennzahlenwirksam.“
Agile Sichtweise
Was wäre die agile Antwort auf die Problemstellung „Leistungsmessung bei Psychologischen Beratungsstellen“?
Keine Ahnung.
Das ist jetzt ein kleines Wortspiel, denn ich als Autor habe tatsächlich keine Ahnung, aber die erste agile Antwort würde auch lauten: „Keine Ahnung.“
Die agile Herangehensweise markiert eine grundsätzliche Differenz zum NSM, insofern als sie kein „Modell“ sein will. Die KGSt hat immer den Kommunen gegenüber einen Kohärenzanspruch vertreten: „Entweder ihr führt das Neue Steuerungsmodell ganz ein oder gar nicht. Die einzelnen Bausteine greifen so logisch ineinander, dass man sie nicht nur teilweise annehmen kann.“
Diesen Anspruch hat Agilität nicht. Und wir als Forum Agile Verwaltung haben auch nicht den Hegemonieanspruch der KGSt. /3/ Agilität geht gerade davon aus, dass für komplexe Probleme – und es gibt kaum etwas Komplexeres als Interessensabstimmungen im politischen Raum – keine Lösungen am Reißbrett entworfen und dann in die Praxis umgesetzt werden können. Sondern dass man experimentiert, und dies unter Einbeziehung möglichst vieler Stakeholder.
Konkret:
- Die Psychologischen Beratungsstellen eines Kreises entwerfen sich selbst eine Vision, was „gute psychologische Versorgung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen“ bedeuten könnte.
- Sie tritt darüber mit anderen Stakeholdern (Verwaltungsführung, Politik, Zivilgesellschaft) in Dialog.
- Sie definiert Kennzahlen, mit denen sie den Umsetzungsgrad ihrer Vision messen will. „Solche Kennzahlen sind nützlich, wenn sie dem Dialog dienen. Statistiken geben nie Antworten, sie werfen immer nur Fragen auf.“ (Seybold)
- Sie plant erste Umsetzungsschritte, die sie kurzfristig (z. B. in 3 Monaten) umsetzen kann.
- Sie misst die Ergebnisse und fängt wieder bei 1. an.
Anmerkungen
/1/ So zum Beispiel Lars Holtkamp: Das Scheitern des Neuen Steuerungsmodells, in: der moderne staat – Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management, Heft 2/2008, S. 423-446
/2/ Alle Namen anonymisiert.
/3/ Vgl. den Artikel von Tom Overmans und Klaus-Peter Timm-Arnold, den wir kürzlich vorgestellt haben (https://agile-verwaltung.org/2016/12/22/umgang-mit-finanzknappheit-sind-die-kommunen-in-den-niederlanden-agiler-als-die-in-nrw/). Daraus ergeben sich Hinweise, dass die theoretische Dominanz der KGSt und ihres Neuen Steuerungsmodells die eigenständige Problemsuche der Kommunen in der Finanzkrise eingeschränkt hat.
Kennzahlen wurden schon immer verfälscht und haben in der Regel dazu geführt, dass sich die Energie auf ganz andere als die wirklich anliegende Arbeit konzentriert wird, nur um eben die Kennzahlen zu erfüllen. Da werden dann die einzelnen Teams optimiert, dafür kranken dann die übergreifenden Prozesse …
Deinen 5 Punkte Kreislauf finde ich absolut zuträglich, und fördert das Bild des Menschen, der intrinsisch motiviert ist, Hervorragendes zu erreichen, wenn er schon viel Zeit seines Lebens damit verbringen will. Sinn-Kopplung treibt voran, aber nicht irgendwelche Kennzahlen, nur weil Berater meinen, dass sie mit der Überzeugung Geld verdienen können …
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