Aus der unagilen Methodenkiste: Unangreifbarkeit des Verfahrens statt Streben nach einem guten Ergebnis – Die Verjustifizierung unserer Prozesse

Es ist schon auffällig. Sehr häufig stehen am Anfang unserer Projekte die Constraints, nicht die Opportunities. Bei der 3G-Regel, die aktuell am Arbeitsplatz verbindlich wird, steht zu Beginn von Kritiken aus den Gewerkschaften die Frage, ob die Auskunftspflicht der Beschäftigten gegenüber dem Arbeitgeber über ihre Impf- oder Teststatus nicht deren Datenschutzrechte verletzt. Für Gewerkschafter wird es auf einmal wichtiger, die Daten ihrer Mitglieder zu schützen, als deren Leben. Mitglieder der Regierung scheuen, über zielführende Maßnahmen ergebnisoffen zu diskutieren, sondern stellen die verfassungsrechtliche Unangreifbarkeit von Regelungen an den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Als gäbe es nichts Schlimmeres, als wenn das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz modifiziert oder kassiert. Dann wäre der Abwägungskonflikt, der jedem Gesetz zugrunde liegt, zumindest auf dem Tisch.

Diese (zugegeben: sehr verkürzten) Beispiele sind, so scheint es mir, Symptome einer weitgehenden Herrschaft juristischen Denkens in den Vorgehensweisen von Politik und Verwaltung. Ein ganz kleines Beispiel dafür aus meiner persönlichen aktuellen Praxis möchte ich hier vorstellen, auf seine Wirkungen untersuchen und dann die Frage stellen: Welches Ausmaß an Irrsinn wird durch diese Vorgehensweise generiert, und in welchen Ursachen wurzelt sie?

Zum Beispiel eine öffentliche Ausschreibung

Ich schildere jetzt einen Fall, an dem ich aktuell selbst beteiligt bin. Ein Bundesland hat auf seiner Vergabeplattform eine Ausschreibung veröffentlicht, an der ich mich als Berater beteiligen möchte. Ich beteilige mich praktisch nie an Ausschreibungen. Diese aber reizt mich, weil sie explizit meine Kernkompetenz betrifft. Ich soll für eine öffentliche Verwaltung eine Beratungsleistung erbringen, wie ich sie seit 20 Jahren selbst entwickelt haben.

Der formale Weg

Den Vorsatz umzusetzen, erweist sich als ein steiniger Weg. Folgende Schritte muss ich gehen:

  • Ich muss mich auf der Vergabeplattform anmelden: persönliche Daten in eine Maske eingeben, ein Passwort wählen, eine E-Mail der Plattform bestätigen.
  • Ich muss eine App auf meinen PC herunterladen, auch dafür anmelden, mit Passwort usw.
  • Ich muss dann eine weitere App auf meinen PC herunterladen, die dazu dient, die Verbindung zwischen der ersten App mit der Vergabeplattform im Netz herzustellen. Wieder mit Anmeldung für Nummer zwei verbunden.
    (Eine App eine zur Verbindung einer App mit einer Plattform?? Das ist die erste Gelegenheit, bei der ich anfange, an Kafka zu denken. Eine seiner Schriften heißt „Der Prozess“. Jetzt geht es um digitale Prozesse.)
  • Nun kann ich mich bei der Plattform anmelden. Ich suche die Ausschreibung. Ich kann die Ausschreibungsunterlagen downloaden. Es sind 15 Dateien incl. einer Leistungsbeschreibung. In der Leistungsbeschreibung steht unter anderem, wie man als Bewerber vorgehen muss.
  • Keine dieser Beschreibungen stimmt. In der Leistungsbeschreibung stehen Dateinamen, die im heruntergeladenen Ordner nicht vorkommen. Man muss raten, welche Datei zu welcher Beschreibung passt. Eine Datei, die dort aufgeführt wird, gibt es im Download überhaupt nicht. Gott sei Dank hat ein anderer Bieter das auch bemerkt und eine entsprechende Frage die Vergabeplattform gerichtet. Ich bin beruhigt. Nicht ich bin der Unfähige.
  • Auf der Plattform gibt es ein Tool, mit dem man die auszuführenden Dateien bearbeiten kann. Aber man kann sie das dann nicht in das Angebot abspeichern. Im Angebot abspeichern kann man nur Dateien, die man auf seinem PC bearbeitet hat und von dort in das Angebot hochlädt. Wozu also überhaupt das Bearbeitungstool? Irgendjemand hat irgendetwas gedacht, und niemand hat es zu Ende geführt.
  • Bei einigen der auszufüllende Dateien handelt es sich um PDF‘s. Dabei geht es um Fragen wie: „Sind Sie Mitglied bei Scientology?“ Dabei muss man einfach ein Häkchen in das Nein-Kästchen setzen, seinen Namen darunter setzen (glücklicherweise nicht signieren) und das Ganze wieder abspeichern. So etwas kann man auch Digitalisierung nennen. Einfacher wäre es, einfach ein Formular im Netz zur Verfügung zu stellen.
  • In die Leistungsbeschreibung selbst, die 20 Seiten umfasst, muss man auch etwas eintragen. Aber das PDF ist nicht editierbar. Also muss man es ausdrucken, handschriftlich ausfüllen, die 20 Seiten wieder einscannen und das gescannte Dokument hochladen.

Ich bin ausgebildeter Informatiker. Ich praktiziere Online-Banking. Die Kombination beider Voraussetzungen hat es mir ermöglicht, in insgesamt sechs Arbeitsstunden die Vorgehensweise zu verstehen, dann zu verstehen, was ich nicht verstanden hatte, dann zu verstehen, dass es da oft nichts zu verstehen gab, und dann die geforderten Dokumente auszufüllen und hoffentlich fehlerfrei hoch zu laden.
Wohlgemerkt: 6 Stunden nur für das Ausfüllen, nicht für das Verfassen meines Angebots.
Früher hätte ich die Dokumente innerhalb von 10 Minuten handschriftlich ausgefüllt, in einen Umschlag gesteckt und per Post versendet. Mit Weg zum Briefkasten 30 Minuten. Jetzt 6 Stunden. Eine Verzwölffachung der Ineffizienz. Das ist deutsche Digitalisierung.

Die inhaltlichen Kriterien

Jetzt zu den inhaltlichen Kriterien der Bieterauswahl. Die Bieter müssen drei Referenzprojekte benennen, die jeweils drei Kriterien erfüllen müssen, und sie müssen ein Formular zu ihrer persönlichen Qualifikation ausfüllen. Es handelt sich jeweils um ja-nein-Fragen der Art: „Referenzprojekt B umfasste auch eine DMS Beschaffung.“ Oder „ich bin zertifizierter Scrum-Master.“ Insgesamt 18 Kriterien, für die man jeweils eine Selbsteinschätzung eintragen musste. Eine einzige Nein-Antwort führte zum Ausschluss aus der Ausschreibung.

Und 18 Ja-Antworten führten zur Aufnahme in die Ausschreibung. Das einzige Auswahlkriterium, um zwischen den verschiedenen Anbietern zu entscheiden, ist der Preis. Auf dieser Grundlage fällt die Vergabestelle die Entscheidung über die Bieterauswahl und teilt dieses Ergebnis dem Projektleiter in der ausschreibenden Verwaltung mit.

Es ist keinerlei Gespräch zwischen dem Projektleiter und den anbietenden Beratern vorgesehen. Keinerlei Kennenlernen. Keinerlei persönlicher Eindruck. Obwohl es sich um eine vermutlich mehrjährige Beratung handelt, deren Erfolg immer darauf beruhen wird, ob es gelingt, zwischen Beratenem und Beratendem ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.

Die rein fachliche Erfahrung, wie sie durch die Vergabestelle (notdürftigst) abgefragt wird, ist dafür eine notwendige Bedingung, aber niemals eine hinreichende.

Warum also wird ein Verfahren gewählt, das unausweichlich am Ziel vorbei führt, nämlich: dass sich zwei erwachsene Menschen kennenlernen; dass sie prüfen, ob sie sich eine Zusammenarbeit vorstellen können; einen Probezeitraum des Projekteinstiegs vereinbaren, um diese Zusammenarbeit einen Belastungstest zu unterziehen; und sich dann für oder gegen eine weitere Zusammenarbeit zu entscheiden. Warum geht das gewählte Verfahren in so grotesken Ausmaß am Ziel vorbei?

Zum Hintergrund des constraint-orientierten Denkens

Mein Interesse an der Angelegenheit ist nicht meine persönliche Betroffenheit als potenzieller Dienstleistungserbringer. Mal einen Arbeitstag in eine verlorene Sache zu investieren, ist nicht so schlimm (auch wenn ich relativ ärger-anfällig bin bei Prozeduren, die sich digital nennen und aus dem Steinzeitalter zu stammen scheinen). Mir geht es vor allem um das Ergebnis solcher Ausschreibungen für die Verwaltung, die einen Unterstützungsbedarf hat.

Ziel der Vorgehensweise der Vergabestelle ist nicht, ein optimales Ergebnis für ihren Kunden zu erzielen. Sondern eine für sie selbst optimierte Vorgehensweise, nämlich: juristisch unangreifbar zu sein.

Das ganze Verfahren dient einzig und allein darin, unklare, unscharfe Kriterien zu vermeiden, die vielleicht zum Einspruch eines Anbieters führen könnten. Wenn es z.B. eine persönliche Beurteilung jedes Bewerbers durch den Projektleiter aufgrund eines Gesprächs gäbe. Dann könnte ja ein abgelehnter Bewerber vor Gericht ziehen. Das muss unbedingt vermieden werden, dann hätte ja die Vergabestelle Arbeit und Erklärungsbedarf!
Aber Beratungssituationen stellen nun einmal menschliche Beziehungen dar, und die sind immer unklar und unscharf und in dauernder Bewegung begriffen. Es gibt nur Einzelfälle, es gibt nicht wirklich eine Regel. Die Einzelfälle in ein festes Korsett eindeutiger Kriterien zu schnüren, stellt eine ganz grundsätzliche Verkennung der Situation dar.

Ich gehe jetzt mal wieder vom Einzelfall weg. Und komme zurück auf die in der Einleitung zitierten Beispiele. Es geht nicht nur um Vergabe, sondern es geht um Good Governance insgesamt.

Unser Denken wird den vor uns stehenden Herausforderungen nicht gerecht werden, wenn es constraint-orientiert bleibt. Das juristische Denken ist das illegitime Kind der Naturwissenschaften. Beide handeln von Gesetzen. Gemeinsam ist beiden der Begriff der Subsumtion. Wenn ein Apfel vom Baum fällt oder die Erde um die Sonne kreist, dann subsumiert der Physiker beide Phänomene unter das Gesetz der Gravitation. Der Jurist versucht das Gleiche, aber im gesellschaftlichen Leben. Er versucht, ganz verschiedene Fälle – zum Beispiel, drei Bewerber in einer Ausschreibung – unter eindeutig feststellbare Kriterien zu subsumieren. Hier stößt er schnell an seine Grenzen – merkt das auch, wenn er gut ist – aber er wirft das nicht seiner Herangehensweise vor, sondern erklärt es zu einem Mangel des Lebens.

Wir werden, so meine Befürchtung, um eine grundsätzliche Fragestellung der Herrschaft juristischen Denkens in unserer politischen und Verwaltungspraxis nicht herumkommen, wenn wir angesichts der globalen disruptiven existenziellen Herausforderungen nicht untergehen wollen.

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

2 Kommentare zu „Aus der unagilen Methodenkiste: Unangreifbarkeit des Verfahrens statt Streben nach einem guten Ergebnis – Die Verjustifizierung unserer Prozesse“

  1. Irgendwann – und das irgendwann hat schon angefangen – werden sich gute, fähige und ausgewiesen leistungsstarke Dienstleister leisten, nicht mehr für die öffentliche Verwaltung zu leisten. Ob das der Sinn ist?

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  2. Hallo Wolf,
    ganz herzlichen Dank für diese pointierte und klare Analyse! Da muss sich wirklich etwas ändern, zumal ich wie du das Gefühl habe, dass es eher restriktiver wird – übrigens parallel auch bei Bewerbungsverfahren und v.a. auch bei den unsäglichen Beurteilungsverfahren.
    Vor längerer Zeit hatte ich mal mit einem Juristen zu tun – bei einer Bezirksregierung. Wann immer Schulleitungen in schwierigen Situationen auf ihn zukamen, dass da jetzt doch mal rechtliche Schritte dran seien, war seine Gegenfrage: „Was ist denn aus eurer Sicht pädagogisch sinnvoll in dieser schwierigen Situation? Wenn ich das verstanden habe, schauen wir anschließend nach der rechtlichen Seite. Und dann finden wir einen sinnvollen Weg.“
    Eigentlich kann es doch nicht sein, dass er ein Einzelfall unter allen Verwaltungsjurist:innen ist. Und ich glaube nicht, dass alle Kolleg:innen in den Vergabestellen nur restriktiv sind. Wo gibt es interessante Beispiele, wie auch größere Vergaben „anders“ gestaltet werden können?
    Herzlichen Gruß
    Doro

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