
Eines der 12 Prinzipien des agilen Manifesto lautet:
„In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann, und passt sein Verhalten entsprechend an.“
Der Scrum Leitfaden führt hierfür die Retrospektive als Teil des Scrum-Prozesses ein. Der Scrum-Prozess rhythmisiert die Durchführung der Retrospektive als Teil des Sprints: am Ende jedes Sprints führt das Team eine Retrospektive durch.
Idealerweise im Anschluss an den sogenannten Review, der Feedbackrunde mit den Anspruchsberechtigten (Management, Anwender u. ä.). Dieses Vorgehen stellt sicher, dass die Erkenntnisse aus der Retrospektive bei der Planung des Folgesprints berücksichtigt werden können und einfließen.
Wie eine Retrospektive gestaltet werden sollte, lässt der Scrum Leitfaden offen und bietet daher für den Scrum Master keine Orientierung. Es gibt lediglich eine Empfehlung für die Dauer der Retrospektive, die für einen vierwöchigen Sprint eine Gesamtlänge von 3 Stunden vorgibt.
In der Praxis ist immer wieder zu beobachten, dass versucht wird, die Retrospektive aus vermeintlichen Gründen der Effizienz (Zeit u. ä.) zu kürzen oder gar zu streichen. Daher ist es sinnvoll, immer wieder die Bedeutung der Retrospektive hervorzuheben. Die Retrospektive ist wichtig, um das Werkzeug des Teams in Stand zu halten. Hier wird die Säge geschärft, mit der das Team auch den dicksten Stamm in entsprechende Teile zerlegen kann.
Die Rhythmisierung und die klare Timebox ermöglichen es den Teilnehmern, die Retrospektive – ähnlich wie das Daily – in ihren Zeitplan einzubauen. Die Teilnahme ist Pflicht für die Teammitglieder, und aufgrund der Planbarkeit dürfte es kaum eine Ausrede geben, die greift 😉
Ablauf
Für eine effektive und effiziente Retrospektive braucht es einen Rahmen. Einen Rahmen, der geeignet ist, den Gesprächsraum zu öffnen, die wesentlichen Ansatzpunkte zu identifizieren und eine offene, gleichzeitig wertschätzende Kommunikation zu ermöglichen und gleichzeitig am Ende zu verbindlichen Ergebnissen zu kommen. Dabei hat sich eine fünfstufiger Grundstruktur in der Praxis bewährt, die sich auch in der einschlägigen Literatur wiederfindet:
1. Den Boden bereiten
Die Phase 1 dient dazu, alle Teilnehmer abzuholen, und auf das Kommende einzustimmen. Es geht, darum die entsprechende Gesprächsatmosphäre zu schaffen. An dieser Stelle empfiehlt es sich, die Regeln der Zusammenarbeit in den Vordergrund zu stellen, unter anderem bietet sich hierzu die Goldene Regel und die sogenannte Las-Vegas-Regel an. Idealerweise sind diese für alle gut sichtbar visualisiert, sodass sie während der Retrospektive selbst immer wieder ins Bewusstsein rücken können, z. B. indem sie als Plakat an der Wand aufgehängt sind. Es geht dabei darum, sich bewusst zu machen, dass eine gute Retrospektive nur dann gelingen kann, wenn sich alle Beteiligten mit dem nötigen Respekt und auf Augenhöhe begegnen, niemand in Sorgen sein muss, dass sein Engagement negative Auswirkungen auf ihn hat.
Beispiel für die Goldene Regel:
„Alle Teilnehmer behandeln sich mit Respekt und Wertschätzung. Es geht nicht um Schuldzuweisungen und Besserwisserei, es geht um das Team, in das sich jeder mit bestem Wissen und Fähigkeiten einbringt.“
Die Goldenen Regel spricht für sich selbst. Schuldzuweisungen sind tabu. Bei Retrospektiven besteht allerdings immer wieder die Gefahr, dass die Teilnehmer in „alte“ Muster der Problemorientierung verfallen und sich am Ende in Schuldzuweisungen verstricken. Hier lässt sich dann mit Verweis auf die „Goldene Regel“ sehr einfach gegensteuern.
Beispiel für die Las-Vegas-Regel:
„What happens in Vegas, stays in Vegas.“
Auch die Las-Vegas-Regel bedarf keiner weiteren Ausführung. Im Grundsatz gilt: sofern nicht anders vereinbart, verlässt das gesprochene Wort nicht den Raum.
Zusammen schaffen die beiden Grundregeln einen „sicheren Hafen“, der es erlaubt, offen und ehrlich, ohne Nachteile befürchten zu müssen, die Themen anzuschneiden, die aus Sicht der Teilnehmer der Retrospektive Herausforderungen darstellen.
Hilfreich ist, in dieser Phase zu Beginn ein erstes Stimmungsbild abzuholen und so die Teilnehmer auf die kommenden Gesprächsrunden einzustimmen.
Für die folgenden beiden Phasen ist ebenfalls sinnvoll, das Team auf einen lösungsfokussierten Fokus einzuschwören, d. h. insbesondere die zukunftsgerichtete Sicht hervorzuheben.
2. Daten sammeln
Die zweite Phase dient dem Sammeln möglicher Themen. Wichtig ist, zu Beginn den Raum zu öffnen. Für jeden Teilnehmer sind andere Themen bedeutsam. Wie bei einem guten Brainstorming sollte daher zu Beginn dieser Phase nicht bewertet, sondern zunächst ungezwungen gesammelt werden. Erst in einen Folgeschritt erfolgt die gemeinsame Priorisierung.
Ein guter Moderator achtet darauf, dass nicht nur die negativen Seiten thematisiert werden. Ganz im Sinne einer lösungsfokussierten Herangehensweise sind insbesondere auch die Dinge wichtig, die besonders positiv waren. Sie bieten oft die besten Ansatzpunkte für die Folgephase. Auch bietet es sich bei dieser Gelegenheit, besondere Leistungen anzuerkennen.
Bewährte Praxis ist, Themen bereits während Sprints in einem eigenen Backlog zu sammeln, auf den alle Teammitglieder Zugriff haben. So er bietet eine gute Grundlage für die Retrospektive und verhindert, dass im Tagesgeschäft Themen verloren gehen. Der Retrospektiven-Backlog dient als Gedächtnisstütze des Teams. Auch kann bereits während des Sprints selbst das eine oder andere kleinere Hindernis unmittelbar gelöst werden.
3. Einsichten gewinnen
Die dritte Phase dient der Erkenntnisgewinnung. Hier geht es um das aktive „Lernen“ für die Zukunft. Welche Erkenntnisse lassen sich ableiten, um die Zusammenarbeit weiter zu verbessern? Es bietet sich insbesondere hier an, eine lösungsfokussierte Haltung einzunehmen und ein besonderes Augenmerk auf die Themen zu werfen, die besonders gut waren. Sie bieten hierfür eine besonders gute Ausgangsbasis. Es bietet sich – im Sinne einer wertschätzenden Zusammenarbeit – die Möglichkeit an, Raum für Lob und Anerkennung zu schaffen.
4. Entscheidungen treffen: Nächste Hypothesen und Experimente definieren
Auf die Phase der Erkenntnisgewinnung schließt die Phase des „Entscheidungstreffens“ an. In dieser Phase werden auf Basis der Erkenntnisse Entscheidungen getroffen, welche Verbesserungsmaßnahmen für den kommenden Sprint in Angriff genommen werden sollen. Das bedeutet gemeinsam festzulegen, welche Maßnahmen im kommenden Sprint umgesetzt werden. Auch hier gilt: Weniger ist mehr. Sprich: fokussiert auf ein Verbesserungsziel ist die Erfolgsquote höher. Auf dieser Basis bietet es sich an, eine User Story zu formulieren, die das Verbesserungsziel für den kommenden Sprint dokumentiert und bei Sprintplannung für den Folgesprint berücksichtigt wird.
5. Abschluss
Der Abschluss rundet die Retrospektive ab. Es bietet sich an, hier nochmals kurz die wesentlichen Ergebnisse für alle Teilnehmer zusammenzufassen und eine „Retrospektive“ der Retrospektive durchzuführen. Ein Stimmungsbild gibt Anhaltspunkte, ob die Retrospektive tatsächlich zielführend war und schließt im Hinblick auf die Eröffnung den Kreis.
Methodische Hilfestellungen
Für jeden dieser fünf Schritte gibt es eine Vielzahl an methodischen Ansätzen und Hilfestellungen, die sich in der Praxis bewährt haben. Um die Retrospektiven abwechslungsreich und damit etwas spannender zu gestalten empfiehlt es bei jeder Retrospektive, die verschiedenen Ansätze immer wieder neu zu mischen. Diese Abwechslung ist hilfreich, der Unlust durch Routine entgegenzuwirken. Eine sehr gute Quelle hierfür ist Webseite retromat.org. Hier sind über 130 Ansätze mit Hilfestellungen dokumentiert, und ein Zufallsgenerator generiert für jede der fünf Phasen methodische Vorschläge. Nicht alle sind zwar für jedes Team geeignet, dennoch bietet der Retromat damit eine gute Ausgangslage und sehr gute Hilfestellung.
Idealerweise werden die Ergebnisse jeder Phase während der Retrospektive auf Flipchart protokolliert und festgehalten. Im Anschluss bietet es sich an, ein Fotoprotokoll möglichst zeitnah an alle Teilnehmer zu versenden und so die notwendige Transparenz zu sichern.