Ich weiß, dass das, was ich hier von mir gebe, aktuell ein schlecht einlösbares Trostpflaster für genervte und gestresste Eltern ist. Denn er lässt sich erst nach der Schulzeit eurer Kinder auf die aktuelle Wunde kleben
Ich stelle trotzdem folgende Behauptung auf: Entgegen den üblichen Aussagen, die man im Moment überwiegend zum Thema Homeschooling hört, lernen selbst Kinder, deren Lehrer:innen einen grottenschlechten Homeschooling-Job machen und deren Eltern wenig Unterstützung zu Hause geben können ziemlich vieles, das mit ihrer eigenen Zukunft zu tun hat. Nebenbei erwähnt: Es gibt viel mehr Lehrer:innen, die zur Zeit einen starken Homeschooling-Job machen – und damit ganz oft „notgedrungen“ agil arbeiten – als nicht so gute oder gar grottenschlechte. Leider merkt man das nicht so richtig in der öffentlichen Wahrnehmung.
Jean-Paul Munsch schreibt in seinem Buch Verantwortung übernehmen und Orientierung schaffen Sätze wie „Die Verantwortung, sich selbst ernst zu nehmen, kann einem niemand abnehmen.“ Übrigens sehr empfehlenswert, das Buch. Aber hier geht es mir nur um diesen einen Satz.
Ja klar, in der Pandemie wurden Kinder und Jugendliche ins kalte Wasser geworfen. Sie mussten sehr schnell feststellen, dass ohne sie selbst gar nichts geht. 2020/21 ist für viele möglicherweise die größte Krise ihres Lebens. Sie absolvieren aber auch alle gerade eine sehr individuelle agile Ausbildung in Sachen Krisenbewältigung. Ja klar, ich weiß, das tröstet im Moment wenig.
Doch schauen wir mal in 10 -15 Jahren auf die heutigen Schüler:innen. Dann werden sie ihren Platz in der Berufswelt eingenommen haben (auch sie altern gnadenlos) oder gerade einnehmen. Dann wird es keine Rolle mehr spielen, wie gut die Lehrpläne 2020/21 in der Schule durch die heutigen Lehrpersonen erfüllt wurde.
(Denn, mal unter uns, das hat ja im Leben nach der Schule sowieso noch nie eine wirkliche Rolle gespielt. Man schaue sich doch einfach dazu sein eigenes Zeugnis von früher an – danach nicken doch die allermeisten ganz wild.)
Denn nach der Schule geht es um Dinge wie Krisenbewältigungskompetenz, Kommunikationskompetenz, Teamfähigkeit, Organisationskompetenz, Ernsthaftigkeit, Wille, Durchhaltevermögen, Geduld, Kreativität, Eigenständigkeit, Agilitätskompetenz, Flexibilität und und und … und eben um diese wunderbare Fähigkeit, sich selbst ernst zu nehmen.
Na ja, lasst uns in 10 Jahren noch einmal drüber reden.😎
Heinz Bayer – Team Weiterbildung an der Hochschule für agile Bildung in Zürich
p.s. Wie wunderbar es doch wäre, wenn es solche Hochschulen wie die unsere zuhauf gäbe und Junglehrer:innen dadurch zuhauf in die Schulen strömten, für die das Ziel Zukunft der Lernenden im Mittelpunkt stehen würde und die den Lehrplan nur als nützliche Orientierung sehen könnten. Nicht als Damoklesschwert, das ihren Alltag bestimmt.
Ja, ist ja gut. Aber wundervoll träumen wird man doch wohl dürfen. 😎
Jetzt drücke ich auf alle Fälle erst einmal ganz doll die Daumen, dass möglichst viele Kolleg:innen an den Schulen mindestens in diesem Schuljahr erkennen, welche Fessel Lehrpläne sein können, wenn man sie nichtagil nutzt.
Lieber Heinz, vielen Dank für deinen Impuls. Ich denken auch das unsere Kinder derzeit so viele Erfahrungen sammeln, welche in ein paar Jahren wertvoller den je sein werden.
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Habe mich gerade noch hieran erinnert, und sollte der Geschichte anhören, wenn wir mit anderer Haltung lernten:
„Schulen und Schulunterricht werden in zunehmendem Maß irrelevant für die große Reise unseres Planeten. Niemand glaubt heute noch daran, dass Naturwissenschaftler in Naturkundestunden, Politiker im Unterricht für politische Bildung und Dichter in Englischlektionen ausgebildet werden. In Wahrheit lehren Schulen nichts, außer wie man Anweisungen befolgt.“
John Taylor Gatto
7 Lektionen von John Taylor Gatto
1. „Die erste Lektion, die ich unterrichte, ist Verwirrung“ (S. 18).
So werde alles, was an Schulen gelehrt wird, aus dem Zusammenhang gerissen, sei der Stundenplan ein „Flickenteppich“, würde den Schülern nur ein „Werkzeugkasten oberflächlicher Begriffe“ mitgegeben. Die Kinder müssten die Lerninhalte so akzeptieren, wie sie vermittelt werden, und dann so wiedergeben. Kritisches Denken werde unterbunden, denn dann könnten ja auch z.B. die Dogmen des Lehrers hinterfragt werden.
2. „Das zweite Fach, das ich unterrichte, ist die unentrinnbare Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht.
… Meine Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass es den Kindern gefällt, mit Kindern gleichen Niveaus zusammengesperrt zu werden oder dass sie es zumindest widerspruchslos erdulden. Wenn ich meine Sache gut mache, können sich die Kinder nicht einmal vorstellen, anderswo zu sein, denn ich habe ihnen beigebracht, die höheren Lernniveaus zu beneiden und ihnen mit Ehrfurcht zu begegnen, auf die darunter liegenden Niveaus dagegen mit Verachtung herabzublicken“ (S. 20). So lerne jedes Kind, dass es – auch später als Erwachsener – „den ihm angemessenen Platz in der Pyramide hat“ (S. 21).
3. „Das dritte Fach, das ich unterrichte, ist Gleichgültigkeit“ (S. 21).
Selbst wenn Lehrer einen interessanten Unterricht machen oder von den Kindern verlangen, zumindest Begeisterung zu heucheln, sei mit der Pausenglocke alles schlagartig vorbei: Die Schüler „müssen sich wie ein Lichtschalter an- und ausschalten lassen. Nichts Wichtiges wird in meiner oder irgendeiner anderen mir bekannten Unterrichtsstunde jemals zu Ende geführt. … Die eigentliche Lektion der Pausenglocke ist, dass es keine Arbeit gibt, die es wert ist, zu Ende geführt zu werden. Warum also sollte man sich für irgendetwas engagieren?“ (S. 21).
4. „Das vierte Fach, das ich unterrichte, ist emotionale Abhängigkeit.
Mit Fleißbienchen und Smileys, mit Lächeln und Stirnrunzeln, Auszeichnungen, Ehrungen und Strafen bringe ich den Kindern bei, ihren Willen der vorherbestimmten Befehlskette zu unterwerfen“ (S. 22). Die Schüler hätten keine Rechte, ihre Individualität würde zugunsten der Anpassung unterdrückt, ein Widerstand werde bestraft.
5. „Das fünfte Fach, das ich unterrichte, ist intellektuelle Abhängigkeit. Gute Schüler warten darauf, dass ein Lehrer ihnen sagt, was sie tun sollen“ (S. 22).
Die Lehrer hätten die Macht zu kontrollieren, was Kinder denken. Und wer so denke wie erwartet, sei ein guter Schüler und würde entsprechend benotet. Dies sei die wichtigste Lektion von allen: Wir müssten die Abhängigkeit von anderen Menschen akzeptieren, denn darauf basierten Hierarchien, Wirtschaft, Sozialwesen, Rechtssystem usw.
6. „Das sechste Fach, das ich unterrichte, ist labiles Selbstbewusstsein.
… Unsere Welt würde so, wie sie ist, eine Flut selbstbewusster junger Leute nicht sehr lange überleben, daher unterrichte ich, dass die Selbstachtung eines Kindes von der Meinung eines Experten abhängen sollte. Meine Kinder werden beständig ausgewertet und beurteilt“ (S. 24). Menschen dürften sich nicht selbst einschätzen, sondern müssten lernen, das Urteil „objektiver“ Dritter zu akzeptieren.
7. „Die siebte Lektion lautet, dass man sich nicht verstecken kann. Ich lehre die Schüler, dass sie immer unter Beobachtung stehen und immer überwacht werden“ (S. 25).
Auch der Austausch mit den Eltern diene der Kontrolle. Mit Hilfe der Hausaufgaben werde die Schule in die Familie hinein ausgedehnt, „wo die Schüler sonst ihre freie Zeit nutzen könnten, um etwas zu lernen, was nicht autorisiert ist, zum Beispiel von den Eltern, durch eigenes Erkunden oder durch Kontakt mit einer kompetenten Person in der Nachbarschaft“ (S. 25 f.). Privatheit bzw. Privatsphäre müssten den Menschen vorenthalten werden, um die Gesellschaft zentral kontrollieren zu können.“
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Lieber Heinz,
ja, da kann ich nur Zustimmen. Mein 13jähriger Sohn meinte diese Woche, er fände es gut, auch zukünftig einen Tag zu Hause digital zu lernen. Die Kinder haben gelernt, sich selbst zu organisieren, überhaupt selbständig zu lernen, sich in neue Techniken fit gemacht und viel Selbstbewusstsein gewonnen. Der Lehrer des 11jähirgen meinte, die Kinder wachsen merklich über sich hinaus und hätten wahnsinnig viel gelernt in den letzten Monaten – nicht nur schulischen Stoff.
Zwei Bemerkungen jedoch dazu: Leider hat die digitale Umsetzung des Fernlernens der einzelnen Schule vor Ort noch einen großen Einfluss auf den Erfolg und des Lernens in diesen Tagen. Und noch viel wichtiger: Während viele Lehrer verstanden haben, was Selbstorganisation bedeutet, gibt es leider noch einige, die nach ihrem Online-Unterricht gleich die Aufgaben eingereicht haben und nur dann als pünktlich abgegeben ansehen. Das ist ein Spagat, den die Kinder gerade aushalten müssen: Einerseits sich selbst zu organisieren und manchmal auch mit dem Internet oder Technik zu kämpfen und gleichzeitig Lehrer zu haben, die so unterrichten, als wäre Remote-Unterricht das gleiche wie vor Ort. Das ist eine Frage der Haltung. Dies muss dann nächste Schritt sein, dass sich die Lehrer*innen mit der eigenen Haltung und der Erwartung an die SuS auseinander setzen. Das wird spannend!
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Lieber Heinz,
„Du lernst nicht für die Schule sondern fürs spätere Leben“, sagte mir immer mein Vater, wenn ich mal wieder so richtig keine Lust auf Hausaufgaben hatte oder eine Klassenarbeit wieder versemmelt hatte.
Ernüchtern ist, wenn sich Mensch anschaut, mit welcher Motivation die Schule ins Leben gerufen wurden. Da war eher das Motto „Du sollst Gehorsamkeit lernen, so dass Du später optimal Deine Pflicht beim Militär oder deinem Lohngeber gegenüber erfüllen kannst.“
Anne Querrien hat eine ausführliche Analyse der Grundschuleinführungszeit für Frankreich – das war sicher auch in den meisten anderen europäsichen Ländern so – niedergeschrieben. Und das war für Lehrer damals genauso knechtend wie für die Schüler (siehe hier den 10. Teil: https://faszinationmensch.wordpress.com/2021/02/26/das-korps-der-lehrerschaft/ ).
Fragt sich, wie viel von den damaligen Lehr-Memen noch immer im Schulbetrieb rumgeistern.
Und dann fühlt sich das richtig gut an, was mit den neuen agilen Haltungen in Schul- und Arbeitswelt an Wandel einhergeht 🙂
Viele Grüße
Martin
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Lieber Heinz,
Du sprichst mir aus der Seele.
Gleich am ersten Tag des ersten Lockdowns habe ich meinem damals 12jährigen Sohn ein Kanban-Board gebastelt, damit er und wir überhaupt eine Übersicht gewinnen können in dieser völlig neuen Situation. Jeden Montag morgen hat er es mit bunten Zetteln bestückt und dann über die Woche geschaut, was alles schon erledigt ist. Der Vorteil war: Die Lehrer:innen hatten sehr zeitig angefangen, auch digital Wochenpläne zu erstellen, so wie auch in Präsenz üblich (Montessorischule). Es war ihm eine diebische Freude, Zettel für Zettel ins Done zu verschieben. Im zweiten Lockdown hat er sich selbst ein neues Board gemalt. Es hing und hängt bei uns im Flur für alle sichtbar. Er kam auf die Idee, noch eine zeitliche Einteilung dazu zu nehmen, damit alle wissen, wann ich z.B. im E-Learning bin (wann also das WLAN besonders belastet ist), und wann wer aufgrund der Termine fürs Mittagessen zuständig ist. Das wichtigstes Feld für ihn war das Feld FREIZEIT am Nachmittag – damit dieses immer unberührt von Aufgaben blieb, ist er sogar über die gesamte Zeit freiwillig früh um acht aufgestanden. Er hat gelernt, sich mit seinen Freunden zu verabreden, um Aufgaben gemeinsam zu lösen, kann mit Videokonferenzen umgehen und setzt sich auch an überlange Arbeitsblätter. Die FREIZEIT vor Augen 🙂
Das alles wird als Erfahrung bleiben…
Beste Grüße
Ute
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