Agilität wird als Heilmittel für die Auswirkungen der VUKA-Welt präsentiert. Wenn Verwaltungen sich für agile Vorgehen interessieren, wie VUKA muss dann ihre (Um-)Welt sein, damit Agilität Sinn macht? Oder ist Agilität einfach auch ein gutes Konzept, um Strukturen in Bewegung zu bringen, den Fokus auf den Kunden und seine Bedürfnisse zu lenken und die Arbeitswelt menschlicher zu machen? Das agile Mindset als VUKA-unabhängige Variante, Change und Organisationsentwicklung zu fördern.
„Willkommen in der VUKA-Welt!“ oder „Spätestens seit 9/11 leben wir in der VUKA-Welt…“. In unzähligen Websites, Blogs und Beratungsangeboten wird Agilität in Organisationen in Zusammenhang gesetzt mit einer Welt, die von VUKA geprägt ist. VUKA steht als Akronym für
- Volatilität – Schwankungen unterworfen, auch schnell und sprunghaft
- Unsicherheit – abnehmende Berechenbarkeit von Entwicklungen und Ereignissen, Unbeständigkeit
- Komplexität – eine Reihe von Variablen, die in einem System in Zusammenhang mit einander stehen und deren Wirkung aufeinander nicht abschätzbar ist
- Ambiguität – Mehrdeutigkeit von Informationen, Situationen, Ereignissen.
Agilität und die damit verbundene Beratungsleistung wird als Strategie, als Kompetenz zum Umgang mit der VUKA-Welt angepriesen. Ich frage mich: Ist tatsächlich die gesamte Welt, in der sich die relevanten Unternehmen bewegen, VUKA, oder ist es ein Verkaufsargument, deshalb auch etwas Panikmache? Für Branchen wie die Börse, Automotive oder die IT mögen VUKA-Bedingungen direkt gelten. Diese sind stark vom Wettbewerb geprägt und die Produktzyklen haben sich in den letzten Jahren rapide verkürzt. Eine Leitzinserhöhung oder -senkung bringt sofort die Kurse ins Schwanken. Für Unternehmen, die global agieren, sind (politische) Entwicklungen auf anderen Kontinenten mitunter fatal. Es sind Branchen, in denen alles darauf ausgerichtet ist, den Gewinn zu maximieren.
Lenken wir unseren Blick auf den öffentlichen Dienst: Warum beschäftigen sich Verwaltungen mit agilen Konzepten und wie relevant ist VUKA für deren „Welt“? Wird der Hype aus der Unternehmenswelt in die Verwaltung getragen, weil sich Verwaltung mangels eigener Lösungen gerne Managementkonzepte aus Unternehmen aneignet und mal wieder eine interessante „neue Sau“ unterwegs ist? Schauen wir uns VUKA-Szenarien in Verwaltungen einmal genauer an:
- Volatilität – ein viel zitiertes Beispiel: die Flüchtlingskrise – insbesondere mit den UMA’s, den unbegleiteten Minderjährigen, die Asyl suchen; eine drohende Epidemie. Bei den Entwicklungen auf dem Wohnungs- und Immobilienmarkt oder den Gewerbesteuereinnahmen trifft das Attribut der schnellen und sehr schwankenden Veränderung nicht unbedingt zu. Hier sind Veränderungen des status quo einige Zeit im Voraus prognostiziert; übrigens: auch bei der Flüchtlingskrise gab es bereits Jahre zuvor Hinweise auf diese Entwicklung. Die Zahl an Menschen, die dann tatsächlich in unserem Land anreisten, überraschten allerdings in ihrer Größe.

- Ungewissheit: Diese gehört in Verwaltungen genauso wie in Unternehmen „zum Geschäft“, vielleicht auf etwas andere Art. Beispiele sind Einsätze in Afghanistan, die möglichen Folgen von Unwettern und Katastrophen für Leib und Leben, für Hab und Gut von Bürger*innen, öffentliche Sicherheit und Ordnung bei Großveranstaltungen oder Demonstrationen, aber auch Wahlergebnisse und die Auswirkungen der Digitalisierung. Der Umgang mit Ungewissheit gehört quasi zum Kerngeschäft von Staat und Verwaltung, von Polizei und Feuerwehr. Präventiv wird der Umgang mit kritischen Situationen vorbereitet und trainiert, jeder Handgriff muss im Ernstfall sitzen. Die Pläne werden spezifisch entwickelt und liegen in der Schublade. Bereitschaftsdienste sichern den sofortigen Einsatz. Nebenbei bemerkt: Diese Pläne stärken die Entscheidungsfreiheit dezentraler Teams in der konkreten Situation vor Ort.

- Komplexität ist in Verwaltungen ebenfalls Alltag: Mit einander konkurrierende (politische) Interessen und Positionen, die bei Vorhaben unter einen Hut zu bringen sind, das angemessene Handeln in Reaktion auf das Agieren von anderen Staaten und Staatsoberhäuptern, die Umsetzung von EU-Recht, große (Bau-)Projekte wie die Entwicklung von Konversionsflächen, die weit in die Zukunft und finanziell in die Verpflichtungen der folgenden Generationen reichen und womöglich in Eigentumsrechte eingreifen.

- Auch Ambiguität gehört zum Normalfall: Mehrere Interessengruppen verlangen Entscheidungen zu ihren Gunsten, legen Regelungen und das (gleiche) Recht jeweils für sich aus, berufen sich auf die aktuelle Rechtsprechung, die Recht neu auslegen oder erst noch konkretisieren muss. Beispiele? Das Kopftuchverbot, das Nachbarschaftsrecht beim Bauen, Entscheidungen über das Sorgerecht für Kinder, Bürgerentscheide zu politisch umstrittenen Entscheidungen. Auch immer wieder neue, innovative Geschäftsmodelle zwingen Verwaltungen, Entscheidungen zu treffen und ihre Rolle für ausgleichende Gerechtigkeit zu erfüllen. Zu nennen wäre das Taxiunternehmen UBER, das keine eigenen Fahrzeuge besitzt, Airbnb als global operierende, aber regional präsente Hotelkette.

Es scheint, als müsse auch die Verwaltung reichlich viele VUKA-Szenarien bewältigen, auch wenn Behörden (noch) nicht marktgetrieben sind, mit Ausnahmen wie der Bundeswehr eher weniger global aufgestellt sind und als Branche so garnicht „VUKA“ rüber kommen. Behördenvertreter*innen sind in Kontinent überschreitenden Netzwerken engagiert, Kommunen gestalten Klimaschutz entscheidend mit und agieren damit global. Für viele Situationen gelten komplexe Prozesse, die unkalkulierbaren, externen Einflüssen ausgesetzt sind und nicht als standardisierter Ablauf wie eine Blaupause verfolgt werden können. Umgekehrt gibt es unzählige Prozesse und Leistungen, die immerzu gleich ablaufen, wie z.B. die Ausstellung eines Reisepasses. Ist die Welt von Verwaltungen also nun VUKA oder nicht? Wie seht Ihr, wie sehen Sie das?
Mein Fazit: nicht nur aus einem VUKA-Umfeld leitet sich der Einsatz von Agilität ab. VUKA hin oder her, die Denkweisen, Methoden und Arbeitsbedingungen des agilen Sets können wir nutzen, um Verwaltung in Bewegung zu halten, zu modernisieren und weiter professionell aufzustellen. Um Führenden in einer sich ändernden Arbeitswelt andere Formate und Rollen anzubieten, um das Bedürfnis von Beschäftigen zu erfüllen, kreativer, mit mehr Spaß gemeinsam an Themen zu arbeiten. Um eine moderne, attraktive und exzellente Verwaltung zu sein. Um Betroffene zu beteiligen und Lösungen besonders in Fällen mit hoher Ambiguität gemeinsam zu entwickeln. Und um der Vision von einer in alle Richtungen sehr menschlich arbeitenden Organisation näher zu kommen.
Ich bin gespannt, wie die (Verwaltungs-)Welt in zwanzig Jahren aussehen wird…