Überlastung durch Projekte: Die Kosten der Projektinflation

Viele Mitarbeiter in IuK- und Organisationsabteilungen kämpfen mit einer Überzahl paralleler Projekte. Häufig wird darüber gestöhnt. Dass es sich aber nicht „nur“ um subjektive Überlastung handelt, sondern dass daraus messbare Projektrisiken resultieren, ist oft nicht im Bewusstsein der Projekt-Auftraggeber.

Verschwendung durch unproduktive Arbeit

Städte und Kreise arbeiten oft an vielen Projekten gleichzeitig. Häufig liegt dabei die Projektleitung in der Hand weniger Abteilungen (Orga und/oder IuK), die dadurch besonders belastet werden. Kürzlich sagte mir eine IuK-Leiterin einer mittleren Stadt (35.000 Ew.): „Herr Steinbrecher, in meiner Jahreszielvereinbarung sind 25 Projekte aufgelistet, für die ich mit meinem 6er-Team in diesem Jahr Bericht erstatten soll.“ Im Durchschnitt war hier jedes Teammitglied an 7,3 Projekten beteiligt.

Warum kann das nicht gut gehen?

Eine erste Auswirkung zeigt Abbildung 1.

Abbildung 1

Viele Projekte werden als „Teilzeitprojekte“ aufgesetzt. Die Mitarbeiter im Projekt nehmen daran neben ihrer „Tagesarbeit“ teil und werden nur in beschränktem Maß von ihrer Routinearbeit freigestellt. Oft gibt es überhaupt keine Vereinbarung über eine solche Freistellung, sondern es wird dem Mitarbeiter überlassen, wie er klarkommt.

Die Abbildung vergleicht drei unterschiedliche Konstellationen. Im ersten Fall ist ein Mitarbeiter mit seiner ganzen Arbeitszeit im Projekt tätig. Das beschäftigt ihn zu 95%. Es gibt ein paar kleine Routinearbeiten, vor allem Abstimmungen mit den Abteilungskollegen in der „Linie“, aber die machen nur 5% (ca. 2 Stunden die Woche) aus.

In der zweiten Konstellation hat der Mitarbeiter einen beträchtlichen Anteil Routinearbeiten zu erledigen (60% oder drei Tage die Woche), und einen etwas kleineren Anteil (40% oder zwei Tage) kann er dem Projekt widmen. Von diesen zwei Tagen wird aber ein bestimmter Teil von unproduktivem Aufwand aufgefressen: ca. 5% oder zwei Stunden (niedrig angesetzt!) entfallen auf „Umschaltaufwand“ /Anmerkung 1/ zwischen Projekt und Routineaufgaben: dauernd kommt etwas ganz Dringendes aus dem Tagesgeschäft dazwischen. Diese Unterbrechungen erfordern einen höheren „Rüstaufwand“ im Kopf, weil man sich danach immer wieder erst in das Projekt hineindenken muss. Und sie führen meist auch zu einem höheren Koordinationsaufwand, weil man seine Projektaufgaben nicht ganz termingerecht erledigt und dann Arbeitspakete anderer Projektmitglieder, die davon abhängen, ebenfalls verschoben werden müssen („Dominoeffekt“).

Dieser Koordinationsaufwand sinkt nicht oder nur wenig, wenn die Projektzeit sinkt. Säule 3 der Abbildung zeigt einen Mitarbeiter, der nur 20% (einen Wochentag) für das Projekt Zeit hat. Auch er hat die gleichen 5% Umschaltaufwand. Relativ zum produktiven Projektaufwand macht dieser auf einmal ein Viertel der gesamten Zeit aus; bei Konstellation 2 war es nur ein Achtel.

Ergebnis: Je weniger Zeit einem Mitarbeiter relativ (als Anteil an seiner gesamten Arbeitszeit) für ein Projekt zur Verfügung steht, desto mehr davon muss er anteilig auf unproduktive Arbeiten verwenden.

Abbildung 2 zeigt die gleiche Regel noch einmal unter etwas anderen Umständen. Oft ist es so, dass immer die gleichen Mitarbeiter an Projekten beteiligt sind. Einfach weil sie die motiviertesten, kreativsten oder begeisterungsfähigsten sind.

Abbildung 2

Nehmen wir an, ein solcher Mitarbeiter hat jeweils 60% seiner Zeit für Projekte zur Verfügung und muss nur 40% für Routine aufwenden. Diese Projekte kann er einmal für ein einziges Projekt verwenden, oder er muss es – so stellen es die Säulen rechts dar – auf eine zunehmende Anzahl von Projekten verteilen.

Der Anteil seiner unproduktiven Umschaltkosten steigt von links nach rechts stetig. Im ersten Fall beträgt er ein Zwölftel seiner Projektzeit; im Fall ganz rechts ein Drittel. Auch hier wieder eine beträchtliche Verschwendung von materiellem und geistigem Aufwand durch die Vielzahl paralleler Projekte.

Verzugskosten der Kaugummiprojekte

Ein zweiter Kostenfaktor sind die Verzugskosten. Verzugskosten entstehen, wenn ein Projekt verspätet fertig wird und der entsprechende Nutzen entsprechend auch auf sich warten lässt. Als z.B. die Lkw-Maut auf Autobahnen erst mit jahrelanger Verzögerung kam, entgingen dem Staat Einnahmen in Milliardenhöhe.

Multiprojecting bringt immer Verzugskosten mit sich. Abbildung 3 zeigt zwei verschiedene Projektverläufe:

Abbildung 3: Verzugskosten beim „Hin- und Herschalten“ zwischen Projekten

Im oberen Teil wird ein Projekt nach dem anderen abgearbeitet. Nehmen wir an, jedes Projekt dauert einen Monat. Dann ist Projekt 1 nach einem Monat fertig, Projekt 2 am Ende des zweiten Monats und Projekt 3 am Ende des Quartals. So einfach, so gut.

In der unteren Hälfte wird ein Projektverlauf gezeigt, bei dem das Projektteam dauernd zwischen den Projekten hin und her springt: erst 1, dann 2, dann 3, dann wieder 2, dann 3 usw. Die Dauer der drei Projekte ist jetzt länger (4 Monate), wegen der Switching Costs des vorigen Abschnitts. Aber vor allem das Hin- und Herspringen führt zu Verzögerungen:

  • Projekt 1 wird erst nach 4 Monaten fertig (3 Monate später als in der oberen Variante)
  • Projekt 2 nach 3 ½ Monaten (+1 ½ Monate)
  • Projekt 3 nach 1,25 Monaten (+0,25 Monate).

Insgesamt eine Verzögerung um fast fünf Monate „entgangene Nutzungsdauer“ bei einer Projektdauer, die nur drei Monate betragen müsste.

Demotivation

Die beschriebenen Verzugskosten fließen nur sehr selten in ein Projektcontrolling ein und werden deshalb in ihrer Dimension nicht erkannt.

Und es kommt ein weiterer Faktor hinzu, und der ist aus meiner Sicht der allerwichtigste: die Motivation der Projektgruppe leidet gewaltig.

Wenn aus einem potenziell einmonatigen Projekt ein viermonatiges wird (oder bei größeren Projekten aus einem Jahr vier Jahre werden), hat am Schluss keiner mehr Lust darauf. Die Energie, die die Menschen im Projekt aufwenden müssen, um überhaupt noch zu Ergebnissen zu kommen, wird immer größer.

Und vor allem: die Teambildung wird fast unmöglich. Wenn fünf Leute sich drei Tage die Woche gemeinsam um ein Projekt kümmern können, dann haben sie die Chance, wirklich zu einem guten Team zusammenzuwachsen. Sie können sich Zeitfenster für gemeinsames Arbeiten schaffen; sie können in diesen Zeitfenstern physisch in einem Teamraum sitzen und schnell auftretende Fragen klären. Kurz: sie werden produktiv.

Wenn die gleichen qualifizierten und engagierten Leute nur einen halben Tag dem Projekt widmen dürfen, kriegen sie keinen gemeinsamen Teamraum („so viele Teamräume für die ganzen Projekte haben wir gar nicht“). In der Regel geht jeder mit seinen aktuellen Arbeitspaketen an seinen individuellen Arbeitsplatz und schlägt sich dort durch. Das sind Rahmenbedingungen, in denen Menschen nur schwer produktiv werden.

Erste Schlussfolgerungen

Der erste Schritt zur Besserung ist: eine Verwaltung muss sich erst einmal einen Überblick über ihre aktuellen Projekte schaffen. In vielen Organisationen existiert nicht einmal eine einheitliche, allen Beteiligten zugängliche und beschlossene Projektliste.

Ein zweiter Schritt: soweit wie möglich Projektbeteiligte ganztags für Projekte freistellen, statt einen Haufen Teilzeitprojekte anzustoßen.

Und dann: möglichst wenig Parallelprojekte, sondern sukzessives Abarbeiten. Das macht uns insgesamt schneller, weil es Verzugskosten spart.

Vorschlag

Das Forum Agile Verwaltung hat Kontakt zu vielen Verwaltungen. Ich persönlich bin derzeit vor allem in Stadt- und Hochschulverwaltungen unterwegs. Ich würde gerne eine Sammlung von „Good practices“ zusammenstellen. Vorher würde mich aber brennend interessieren, ob es sich um einen subjektiven und zufälligen Eindruck meinerseits handelt, dass es sich um ein wichtiges Thema handelt, oder ob es auch anderen Leuten ähnlich geht wie mir. Es würde mich freuen, wenn der eine oder die andere mir eine Nachricht mit dem kleinen Formular zukommen ließe.

Anmerkung

/1/ Englisch „Switching costs“. Die Übersetzung „Umschaltkosten“ stammt kreativer Weise von mir.

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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