Agile Verwaltung und Politik: Mit Scrum und Bürgerräten politische Entscheidungen vorbereiten

Innenansicht des Plenarsaals im Reichstag in Berlin, Deutschland, Wikipedia (gemeinfrei)

Ich habe die letzten Wochen viel darüber nachgedacht, wie mit Hilfe von agilen Ansätzen politische Entscheidungen vorbereitet werden können. Zwei Dinge waren dabei für mich wichtig:

  1. Der politische Entscheidungsprozess – im Sinne einer demokratischen Entscheidungsfindung durch die entsprechenden Gremien – wird nicht ausgehebelt. Die politischen Entscheidungsgremien haben die Entscheidungshoheit.
  2. Die Ausgestaltung ist möglichst einfach, effizient und effektiv.

Erste Vorüberlegungen: Beschlussvorlagen als Entwicklungsprojekte

Mein Ausgangsgedanke war, die Vorbereitung politischer Entscheidungen als komplexe Entwicklungsprojekte zu verstehen, bei denen unterschiedliche Aspekte beleuchtet werden, um qualitativ hochwertige Entscheidungsgrundlagen für den finalen politischen Entscheidungsprozess vorzubereiten. Üblicherweise werden Entscheidungen von der Exekutive – sprich den Ministerien oder – im kommunalen Kontext – von den Fachämtern der Stadtverwaltung auf- und vorbereitet. Dies findet meist hinter geschlossenen Türen statt. Die Öffentlichkeit wird erst im Rahmen des eigentlichen, politischen Entscheidungsprozesses eingebunden, wenn der Beschlussvorschlag in die Gremien gelangt und dort diskutiert wird. Bestenfalls sind Interessensgruppen im Hintergrund involviert, wobei der Prozess intransparent bleibt.

Dabei bin ich von folgenden Überlegungen ausgegangen: Die Vorbereitung von entsprechenden Vorlagen mit hohem Komplexitätsgrad werden als Entwicklungsprojekt definiert. Den Rahmen bildet Scrum. In diesem Fall ist der zuständige Minister oder – im kommunalen Kontext – der Bürgermeister der Product Owner. Der Verwaltungsunterbau stellt die Mitglieder des Umsetzungsteams, das cross-funktional aufgestellt ist. Der Prozess wird von einem „Scrum Master“ begleitet. In vierwöchigen Sprints werden Entwürfe mit ihren Zwischenschritten erarbeitet und entwickelt, an neue Erkenntnisse angepasst und fortgeschrieben. Solange, bis der Vorschlag eine – von der Politik und Verwaltung gemeinsam definierte – Entscheidungsreife erreicht hat, um in den „offiziellen“ politischen Beratungs- und Entscheidungsprozess der Gremien einfließen zu können.

Die Herausforderung: Einbindung der Anspruchsberechtigten

Wie es sich gehört, gibt es am Ende jedes Entwicklungssprints einen Review und eine Retrospektive. Die Retrospektive, die im Team stattfindet, ist relativ einfach zu lösen und stellt kein Hindernis dar. Die Herausforderung ist – aus meiner Sicht – der Review. Mein erster Impuls, diesen Review zum Beispiel als Teil einer Gemeinderatssitzung durchzuführen, scheint mir nicht wirklich zielführend. Zum einen ist der Rahmen durch entsprechende rechtliche Vorgaben nicht geeignet, zum anderen würden die Gremien, die ohnehin bereits gut gefüllte Tagesordnungen abarbeiten müssen, überfrachtet und damit der laufende Politikbetrieb gestört. Gleiches gilt für die Ausgliederung in einen Ausschuss.

Eine mögliche Alternative stellen klassische Bürgerbeteiligungsformate wie Zukunftswerkstätten dar. Diese sind jedoch aufwendig. Es muss alle vier Wochen viel Zeit aufgebracht werden, die Sitzung und die Räume bereitzustellen, Bürger einzuladen, die Moderation vorzubereiten und durchzuführen. Hinzu kommt das Risiko, dass durch „Übermüdungserscheinungen“ die Engagementbereitschaft der Bürger überdehnt wird. Ein weiterer Aspekt: eine kontinuierliche Beschäftigung mit dem Thema kann auch nicht sichergestellt werden. Die Fluktuation würde dazu führen, dass Themen immer wieder neu behandelt werden müssen, da die Kontinuität der Beteiligten nicht gegeben ist.

Die mögliche Lösung: Bürgerräte

An dieser Stelle kommen als Lösungsidee Bürgerräte ins Spiel. Wir haben die Initiative Bürgerrat bereits im Rahmen eins Gastbeitrag in unserem Blog vorgestellt. Bürgerräte werden durch Losentscheid ausgewählt und verpflichten sich, für eine überschaubare Dauer in einem beratenden Gremium mitzuwirken. Dadurch lässt sich sicherstellen, dass auch Personen mitwirken, die im politischen Entscheidungsprozess unterrepräsentiert sind. Gleichzeitig reduzieren wir die einseitige Einflussnahme durch wirkmächtige Einzelinteressen. Schöner Nebeneffekt übrigens: Gerade im kommunalpolitischen Umfeld – in dem Kandidaten für Gremien langsam Mangelware werden – bietet sich die Chance, hier Menschen für Kommunalpolitik zu begeistern, die bisher nicht aktiv waren.

Politik beauftragt Verwaltung agil Lösung zu entwickeln mit Scrum und einem Bürgerrat

Die Bürgerräte vertreten die Anspruchsberechtigten im Review. Hier kann ausführlich über die Zwischenergebnisse diskutiert werden. Die Mitglieder des Bürgerrats haben sich für einen überschaubaren Zeitraum von 18 Monaten verpflichtet. Ständige personelle Wechsel sind nicht zu befürchten, so dass Vorwissen nicht permanent verloren geht und neu aufgebaut werden muss. Der organisatorische Aufwand wird – im Vergleich zur klassischen Bürgerbeteiligung – verringert. Da der Fokus auf dem jeweiligen thematischen Auftrag des Bürgerrats liegt, ist eine fokussierte fachliche Auseinandersetzung im Bürgerrat gegeben. Der Prozess ist transparent. Die Verwaltung erhält unmittelbare Rückmeldungen von Betroffenen, die unmittelbar in den Entwicklungsprozess einfließen kann. Da der Bürgerrat ausschließlich beratende Funktion hat, bleibt die Entscheidungshoheit der politischen Gremien unangetastet.

Der Praxistransfer: Am Beispiel der Kommunalpolitik

Um ein besseres Verständnis zur praktischen Umsetzung zu bekommen, habe ich gedanklich die beschriebene Idee in den Kontext einer Kommunalverwaltung übertragen.

Die (fiktive) Stadt Agilheim hat bereits erste Erfahrung mit agilen Ansätzen gesammelt. Unter anderem wurde die E-Akte mit Scrum eingeführt und erste Fachbereiche haben begonnen, Kanban für ihre Prozess-und Ablauforganisation einzuführen. Im Rahmen eines gemeinsamen Strategieworkshops haben Gemeinderat und Verwaltung von Agilheim Themen priorisiert, die sie im nächsten Jahr aufgreifen und bearbeiten wollen und Quartalsziele definiert, um deren Umsetzung zu befördern.

Zu den priorisierten Themen gehört die Entwicklung von Richtlinien für eine soziale und nachhaltige Baulandverdichtung im städtischen Siedlungsgebiet mit entsprechenden Empfehlungen für die Überarbeitung der Bebauungsplanung. Dieses Projekt soll auf Basis von Scrum mit Beteiligung der Bewohner der betroffenen Stadtquartiere erfolgen. Ziel ist es, innerhalb eines Jahres mögliche Lösungswege und ein Konzept zu entwickeln, das – vorbehaltlich der Entscheidung des Gemeinderats – umgesetzt werden kann. Ein Gemeinderatsbeschluss definiert einen klaren Arbeitsauftrag für das Scrum-Team und den Bürgerrat.

Ein cross-funtionales Team aus verschiedenen Fach- und Sachgebieten (Bauen, Umwelt, Kultur, Soziales sowie Ordnung und öffentliche Sicherheit) wird gebildet. Parallel werden die Vorbereitungen für die Einrichtung eines Bürgerrates getroffen und Einwohner des betroffenen Wohnquartiers per Losverfahren ausgewählt.

In einer gemeinsamen Auftaktveranstaltung wird die Projektvision vorgestellt und vom Gemeinderat offiziell beschlossen. Das Scrum-Team beginnt mit seiner Arbeit. Am Ende jedes vierwöchigen Sprints stellt das Scrum-Team die Ergebnisse des Sprints im Bürgerrat vor. In der 4-stündigen Review-Sitzung werden die Vorschläge in einem moderierten Prozess geprüft, diskutiert, Verbesserungsvorschläge und Anregungen eingebracht, die von der Verwaltung für die Planung des Folgesprints aufgegriffen und geprüft werden.

Nach einem ¾ Jahr liegt ein fertiges Konzept in verschiedenen Varianten vor, das nach Auffassung des Bürgerrats und des Scrum-Teams ausreichend ausgereift ist, um hieraus einen Beschlussvorschlag für den Gemeinderat zu formulieren. Das Konzept wurde mit weiteren zuständigen Fachbehörden (z. B. Denkmalamt) im laufenden Prozess abgestimmt. Der Beschlussvorschlag wird von der Verwaltung in den regulären Entscheidungsprozess eingebracht.

Der Gemeinderat der Stadt Agilheim berät zuerst im Bau- und Planungsausschuss den vorgelegten Vorschlag, ehe er in öffentlicher Sitzung mit geringfügigen Änderungen (Finanzierungsvorbehalte bei einzelnen Maßnahmenvorschlägen) mit großer Mehrheit beschlossen wird.

Resümme: Einen Versuch wert?

Die hier skizzierte Idee ist sicherlich noch nicht ausgereift. Auch dürfte klar sein, dass dieses Vorgehen sich nur für größere Vorhaben mit einem gewissen Komplexitätsumfang eignet. Die Idee, agiles Vorgehen mit einem Bürgerrat zu kombinieren, kann ich mir durchaus in der Praxis vorstellen. In der Phase der Entscheidungsvorbereitung arbeiten Verwaltungsfachleute und betroffene Bürger als Fachleute eng zusammen, entwickeln gemeinsam einen Lösungsweg für einen komplexen Sachverhalt. Es findet ein regelmäßiger Austausch statt, der das gegenseitige Problemverständnis erleichtert. Dabei wird der eigentliche, politische Entscheidungsprozess zu keiner Zeit ausgehebelt. Die politischen Entscheider haben zu Beginn als Auftraggeber und als diejenigen, die das Ergebnis abnehmen, das letzte Wort. Dennoch bleiben noch einige Frage offen, die sich vermutlich erst in der praktischen Umsetzung zeigen werden.

Autor: Thomas Michl

Agilist aus Überzeugung - Lean-Enthusiast und Kanban-Fan - Veränderungsbegleiter - Dipl.-Verw.Wiss. - MBA - 🇮🇪 Irland-Fan - Mitgründer Forum Agile Verwaltung

3 Kommentare zu „Agile Verwaltung und Politik: Mit Scrum und Bürgerräten politische Entscheidungen vorbereiten“

  1. Das wäre ein toller Ansatz. Es wird für einen Versuch leider – wie so oft – an Offenheit und Haltung fehlen. Politiker*innen sehen Bürger*innen nur selten als Expert*innen in eigener Sache. Das zeigt sich bei den hohen Hürden in direkt-demokratischen Verfahren oder den wenigen Formaten an Bürgerbeteiligung bzw. deren Nutzung.

    Sollten in der Demokratie nicht die Bürger*innen stets die Auftraggeber*innen sein? Was die Bürger*innenräte erarbeiten, sollte von der Politik so gut wie möglich umgesetzt werden. Sie können entsprechend der Rahmenbedingungen Einfluss auf den Zeitrahmen oder einzelne Aspekte nehmen, wenn sie transparent kommunizieren, warum Dinge so oder so nicht funktionieren.

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