20.000 Entscheidungen treffen wir täglich – sagen zumindest die Hirnforscher. Wären also über 7 Millionen Entscheidungen in einem Jahr. Wen wundert es da, wenn ein paar schlechte Entscheidungen dabei sind? Würden ja schon rein statistisch kaum ins Gewicht fallen…
Wobei: Natürlich beschäftigen uns die wenigsten der 20.000 Entscheidungen länger. Die, über die wir wochenlang grübeln, sind da wohl die Ausnahme – also wieder statistisch gesehen. Aber wenn dort eine falsche Entscheidung dabei ist, hängt sie uns manchmal ziemlich lange nach…
Sackgasse und Tabu
Und was – werden Sie sich fragen – hat das nun alles mit agil, IT und Verwaltung zu tun und all den anderen Themen, die hier sonst behandelt werden?
Es ist eine berechtigte Frage und ich möchte sie mit einer Geschichte beantworten:
Ein Kunde – sagen wir der Einfachheit halber eine mittelgroße Stadtverwaltung – bittet uns um Unterstützung und Beratung. Man hat zwei Jahre zuvor begonnen, eine E-Akte einzuführen. Dem wiederum vorausgegangen ist eine Ausschreibung mit all den notwendigen formalen Schritten und Fristen – Sie kennen das alle. Mit anderen Worten: vor etwa vier Jahren hatte man intern die Entscheidung getroffen, eine E-Akte einzuführen und jetzt, vier Jahre später war man noch immer nicht über die Pilotabteilung hinausgekommen.
Warum? Darüber scheiden sich die Geister.
Wir versuchen in einer großen Runde die Positionen dazu einzuholen. Die einen sind der Meinung, das System ist funktional nur für die Pilotabteilung geeignet und für andere Abteilungen nicht. Die anderen sehen technische Schwierigkeiten im Bereich der Performance. Es gibt die Meinung, der Lieferant hätte mehr tun müssen, und jene, dass die internen Vorgaben nicht passen. Und darüber hinaus noch eine ganze Reihe von Zwischentönen und Nuancen.
Und aus diesem Meinungsdschungel schleicht sich die Frage des Projektleiters des Kunden an: „Kann es sein, dass wir in der Ausschreibung vor zwei Jahren eine falsche Systementscheidung getroffen haben?“
Die Stille danach legt sich wie eine Frostdecke über den Raum und alle Augen sind auf uns als ihre Berater gerichtet, die in diesem Moment scheinbar zu Auguren des Schicksals werden.
Denn bei all den Ausführungen, die wir bis dahin zu hören bekommen haben, scheint es doch in Wirklichkeit darum zu gehen: Wurde hier eine Fehlentscheidung getroffen? Und ich höre im Echo dieses Gedankens schon die Rufe nach dem Schuldigen für eine solch frevelhafte Tat.
„Fehlentscheidung“? Oder bloß einfach falsch?
Jedem, der häufig mit solchen oder ähnlichen Entscheidungsprozessen konfrontiert wird, ist klar: Solche Entscheidungssituationen sind viel zu komplex, als dass man in irgendeiner Form sicherstellen könnte zwei Jahre später mit allen Ergebnissen solcher Entscheidungen zufrieden zu sein. Es geht dabei ja nicht um exakt planbare Routinetätigkeiten, sondern wir treffen eine ganze Reihe von Annahmen und versuchen uns in Prognosen in die absehbare Zukunft. Dass nicht alle Annahmen sich später als richtig erweisen, oder sich die Welt anders entwickelt als in unserer Prognose, müssen wir in Kauf nehmen. Und auch, dass wir dann nicht immer das mit unseren Entscheidungen erreichen, was wir ursprünglich wollten. Und ab wann ist es überhaupt eine Fehlentscheidung? Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf.
Laut versuche ich es mit einer Teilabsolution: „Sie kennen uns mit unserem ‚agilen‘ Blick auf die Welt, und aus dieser Perspektive sieht es für mich wie ein Experiment aus. Sie hatten eine Hypothese und haben aus dem Ergebnis etwas gelernt. Die formalen Restriktionen machen es nicht einfach, solche Experimente in den richtigen Rahmen zu setzen – wesentlich ist aber wohl zu korrigieren, wenn das Experiment nicht das geplante Ergebnis bringt. Sie kennen meinen Lieblingssatz dazu: ‚Inspect and adapt‘ und in diesem Sinne sollten Sie die Situation annehmen, wie sie ist und auf dieser Basis Ihre nächsten Schritte setzen – Ihre nächsten Experimente. Vielleicht ein wenig kleiner und nicht mit der Ambition eine Entscheidung für zehn Jahre zu treffen, und doch muss man den nächsten Schritt wagen.“
Ich blicke in die Gesichter rund um mich: Der Knoten hat sich gelöst.
Auf zu den nächsten … vorläufigen Lösungen
Und plötzlich diskutieren wir nicht mehr über die vergossene Milch von gestern, sondern über die im halbvollen Glas vor uns.
Keiner plädiert dafür einfach so weiter zu machen, nur weil es einmal eine Entscheidung gegeben hat.
Auf meine Frage, ob eine E-Akte aus aktueller Sicht noch immer Nutzen in der Organisation stiften kann, kommt ein klares: ja. Bringt die Lösung in der Pilotabteilung einen Nutzen – ja.
Wunderbar, wir sind am richtigen Weg. Man muss dort also nichts beenden, was schon im Einsatz ist. In einigen anderen Abteilungen sieht man keine Chance, das vorliegende System nutzbringend einzusetzen – dafür hat man einen alternativen Favoriten. Mit diesem könnte niederschwellig ein paralleler Pilot entstehen. Kopplungsmöglichkeiten der beiden Systeme werden diskutiert. Die Frage nach der Notwendigkeit eines einzigen organisationsweiten Systems steht im Raum. Sie wird für heute dort stehen gelassen. Nicht alle Entscheidungen müssen heute getroffen werden.
Es bleiben dennoch genug Gelegenheiten, um auf die heutigen 20.000 zu kommen.
Oh ja wie gut kenne ich das. Danke für den schönen Artikel. Ich sage in der Situation oft noch dazu: „‚Richtige’ oder ‚falsche‘ Entscheide sind allenfalls gefühltes Wissen. Es gibt sie nicht. Denn wenn wir uns für eines entscheiden, wissen wir nicht, wie es gekommen wäre, wenn wir anders entschieden hätten. Kein Mensch weiss, ob eine Alternative richtiger, falscher oder sonst wie herausgekommen wäre (ausser in den Paralleluniversen beim Star Trek oder Fringe, das verstehen nur wenige Science Fiction Geeks… und hilft in unserer Projektwelt nur bedingt… ;-D).“
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