Jetzt haben wir doch in unseren betriebswissenschaftlichen Welten mühsam und konsequent Strukturen und Hierarchien aufgebaut. Wir wissen, wie zentral Planung und Ausrichtung allen Handelns auf Stabilität und Absicherung ist.
Die Grundlagen des Agilen Handelns stellen aber doch einiges davon in Frage:
„Anforderungsänderungen gehen vor sturer Verfolgung eines Plans“
„Die Zusammenarbeit mit den Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlungen.“
„Heisse Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen. Agile Prozesse nutzen Veränderungen zum Wettbewerbsvorteil des Kunden.“
„Die Beteiligten und ihre Zusammenarbeit sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge. In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und passt sein Verhalten entsprechend an.“
„Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.“
Ja, spinnen die denn?
Und dennoch scheinen agile Arbeitsformen zumindest Interesse zu wecken und sich in der Fachdiskussion länger zu halten als nur eine kleine Eintagsfliege. Wie kommt man auf sowas?
Mein persönliches Interesse am Agilen hat seine Wurzeln vor vielen Jahren. Als Berufseinsteigerin mit dem Auftrag, Qualitätsmanagement und Organisationsentwicklung für ein Speditions- und Logistikunternehmen zu betreiben. Wenig bis keine Ahnung vom Kerngeschäft, mit einer Position, die es vorher genau so nicht gab. Also keine Möglichkeit, vom Vorhandenen zu profitieren.
Die ersten Wochen im Unternehmen habe ich also quasi als Praktikantin den verschiedenen zentralen Bereichen der Firma verbracht. Import, Export, Dispo, Verzollung und Lager. Gewaltigen Eindruck hat hinterlassen, dass unabhängig von Hierarchiestufe und Bezahlung in allen Bereichen einige Mitarbeitende zu finden waren, die mit Herzblut und enormem Wissen für die Sache gearbeitet haben. Aus ihrer Fachlichkeit und Erfahrung brillante Ideen und kreative, direkt anwendbare Lösungen für Anforderungen entwickelt haben. Ebenso auffällig war aber auch, dass die meisten dieser sehr guten Fachleute nicht wussten, was in den anderen Abteilungen getan wurde – und ob und wie ihre Lösungen Auswirkungen ganz woanders zeigten. So konnte eine Änderung an einem Beleg den Kunden glücklich machen – und die eigene Buchhaltung in den Wahnsinn treiben. Der Auftrag, als Importsachbearbeitende beim Kunden zu eruieren und zu erfassen, ob das transportierte Speiseöl zum Verzehr oder zur Weiterverarbeitung als Mayonnaise gedacht sei, schien unnötiger Aufwand und Formularschikane. Nicht ahnend, dass der Zoll für Speiseöl im Vergleich zum Rohstoff zur Weiterverarbeitung um ein Vielfaches höher ist und damit die Information des Imports an die Zollabteilung nicht zuletzt für den Kunden von hohem Wert. Und die Erfahrung, dass Lagerarbeiter, ganz unten in der Hackordnung des Betriebes, innerhalb von 6 Stunden eine Lösung für ein Supply Chain Problem fanden, an dem die Geschäftsleitung vorher mehrere Wochen intensiv gearbeitet hatte – ohne grossen Erfolg.
Also führte das Qualitätsmanagement lösungsorientierte multiprofessionelle Teams aus allen prozessrelevanten Bereichen ein. Setzte sich dafür ein, dass sie Verantwortung und Kompetenzen bekamen. Dass Kunden beteiligt wurden an der Lösungssuche und dass es bei produktiven Zwischenschritten zur Feier des gemeinsamen Erfolgs ein „Cüpli“ oder ein Feierabendbier gab, bei dem diskutiert wurde, was wirklich besonders gut funktioniert hatte.
Der Begriff „agil“ ist dabei nie gefallen.
Und als dann viele Jahre später das Agile Manifest mit seinen Prinzipien meinen Weg kreuzte, habe ich die Inhalte als alte Bekannte freundlich begrüsst.
Hat dies auf LNGN Agile Meetup rebloggt.
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Danke für diesen Artikel, der eine interessante Perspektive auf agile Herangehensweisen aufzeigt. Ich musste etwas schmunzeln, ob des eingänglichen Kommentars zu Strukturen und Planung. Na klar – Alle wünschen sich feste Strukturen und eine geplante Umsetzung. Nur halt der mit der Anforderung nicht, die nur deshalb nicht umgesetzt wird, weil sie dummerweise zu spät eingebracht wurde. Oder weil fürs Zuhören gerade keine Zeit ist, weil man damit beschäftigt ist, am Kunden vorbei zu arbeiten.
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Hat dies auf Toms Gedankenblog rebloggt und kommentierte:
Agile arbeiten? Wie kommt mensch auf so eine Idee? Ganz einfach. Veronika Lévesque erzählt Euch, wie Sie auf die Idee gekommen ist.
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