Ko-Autor: Professor Dr. Hermann A. Wegner
Es begann im Sommer 2019, als ich eine spannende Anfrage der Justus-Liebig Universität Gießen bekam. Ein internationales Forschungsteam will stärker selbstorganisiert arbeiten, da sich das Team auf mehr als 10 Promovierende verdoppelt hat und eine individuelle Betreuung durch den Doktorvater bei der Gruppengröße nicht mehr leistbar ist. Zudem arbeiten mehrere Promovierende an ähnlichen Themen, da ist eine engere Zusammenarbeit und die bessere Vernetzung untereinander sehr sinnvoll. Andere Formate der Zusammenarbeit wurden notwendig.
Beim vorbereitenden Telefonat machte Professor Wegner, der Initiator und Betreuer der Promovierenden, deutlich, dass „wenn wir das angehen, dann machen wir es richtig. Wichtiger ist der nachhaltige Erfolg als ein eiliger Prozess.“. Für alle Beteiligten war Zeit ein knappes und wertvolles Gut. Das effektive Nutzen der vorhandenen Zeit hatte oberste Priorität.
Gesagt, getan.
Wir einigten uns auf einen 2-tägigen Workshop im Oktober 2019, bei welchem im 1. Schritt der Fokus auf dem Verständnis und Überblick der agilen Arbeitsweise liegen sollte. Was sind z.B. Kernaussagen im Agilen Manifest, welche Veränderungen ergeben sich bei der End-to-End-Verantwortung sowie im Umgang mit Unsicherheit und was heißt es, Fehler machen und scheitern zu dürfen.
Besonderes Interesse weckte der Scrum-Prozess. Hier halfen Impulse und praktische Erfahrungen der TU Dortmund von einem Forscherteam, dessen Mitglieder mit Scrum promovieren. Dem Gießener Team war es wichtig, zu verstehen, warum die einzelnen Schritte im Scrum-Prozess so relevant sind. Hier geben die nachfolgenden Fragen und Antworten eine Orientierung:
Wozu ist es wichtig, vor dem Projektstart eine Vision zu haben? Da wir, anders als im „reinen Scrum“, kein gemeinsames Produkt und so auch keine gemeinsame Vision in unserem Team hatten, war es umso wichtiger, sich bewusst zu werden, was wir mit unserem Projekt bewirken wollen. Nur so können Zielkonflikte vermieden werden, denn es macht u.U. einen Unterschied, ob ich meine Promotion zu einem Stichtag abschließen möchte oder unbedingt ein Nahrungsmittel für den Mittelgeber herstellen möchte, welches beispielsweise Vitamin D enthält und im Menschen wirken soll. In unserem Beispiel hatte das pünktliche Abschließen der jeweiligen Promotionen mit den individuellen Themenschwerpunkten höchste Priorität. Somit war jede:r sein eigener Product Owner, um in der Scrum-Sprache zu bleiben.
Warum macht es Sinn, regelmäßig mit einem Review auf den Prozess und das Prozessergebnis zu schauen? Und warum ist es gerade bei wechselnden Teams – und das sind Forschungsteams in der Regel – so wichtig, bewusst auf die Art und Weise der Teamzusammenarbeit zu schauen (Retrospektive)? Die Antwort auf diese beiden Fragen lautet: um Teamkonflikte früh zu erkennen und entsprechend reagieren zu können.
In unserem Beispiel hatte das Team bereits mehrere Wechsel im Team hinter sich. Wir einigten uns auf 3 Sub-Teams mit ähnlichen Forschungsschwerpunkten und jeweils 3-5 Forschenden. Alle Teammitglieder im Sub-Team hatten, und das war neu, transparente Kenntnis über die im Projekt nutzbaren freien zeitlichen Kapazitäten und die inhaltliche Arbeit der Individuen. Das wurde möglich durch individuelle Kanban-Boards an den gläsernen Laborwänden. Diese wurden eigenverantwortlich gepflegt und transparent aktualisiert (to do – in Arbeit – erledigt).
Zudem ist es wichtig, sich bewusst zu sein, wie viele Wochenstunden für welchen Zweck verwendet werden sollen (Priorisierung, Fokus, Aufwandsschätzung). Nur so sind sinnvolle und verbindliche Arbeitsschritte planbar. In dem nachfolgenden Foto wird die individuelle Stundenaufteilung exemplarisch unten rechts verdeutlicht (z.B. 15h flexibel nutzbar, 30h für Projekt mit Scrum, 5h verplant für Lehre).

Im 1. Schritt braucht das Team Kenntnis, wie viel Zeit für das Projekt im Sub-Team genutzt werden kann. Im 2. Schritt dokumentiert und reflektiert das Team systematisch, wie sich die Planung mit der Ist-Situation deckt. Hindernisse werden benannt und beseitigt. Bei Team-Konflikten wenden sich die Sub-Teams an Prof. Wegner.
Anschließend bewertete das Team die Vorteile / Benefits und Hindernisse innerhalb des Scrum-Prozesses. Das war die Basis für die individuelle Anpassung des Prozesses an die Bedürfnisse des Teams, wie nachfolgende Übersicht zeigt. Der größte Vorteil dieses Prozesses wird vom Team im regelmäßigen Austausch gesehen.
Das haben wir vom „Original Scrum-Prozess“ übernommen: Denken im Kreislauf, Fokus auf Mehrwert, transparente Priorisierung im Backlog, systematische Reflexion, Nutzen der 3 Fragen vom Daily.
Das haben wir angepasst: statt Daily Weekly plus zusätzliche kurze Mail an Prof. Wegner als Zwischenstand, 1 Mal im Monat Monthly mit Review, Retrospektive und Sprint Planning an 1 Tag mit Pausen, Erfolge und Aha-Momente werden im Gruppenseminar bewusst gefeiert.
Für ein Daily war die Gruppe nicht bereit, weil sie es zeitlich nicht einrichten konnten. Drei Subgroups mit jeweils ähnlichen Forschungsschwerpunkten treffen sich 1 x wöchentlich. Das Monthly ist eine Anpassung von Teambesprechung, Review und Retrospektive und dauert 1,5 bis 3 Stunden. Der Kompromiss war nötig, um handlungsfähig zu sein. Nach Semesterende würde das „neue System“ evaluiert und gegebenenfalls angepasst werden.
1 Sub-Team nutzt das Weekly sehr intensiv für seinen Austausch. Die Motivation ist extrem hoch, viele neue Ideen kommen auf und Herausforderungen werden gemeinsam gelöst. Bei einem anderen Sub-Team entsteht der Eindruck, dass sie das Weekly bei jeder Gelegenheit ausfallen lassen. Meine Vermutung ist, dass der Mehrwert noch nicht spürbar ist. Dies wird Thema bei der Evaluation zum Semesterende sein. Vielleicht kann die aktive Subgroup wertvolle Impulse geben, was ihnen der regelmäßige Austausch an Mehrwert gegeben hat, zum Beispiel auf dem Weg zu Ihrer Publikation und Promotion.
Was war nach dem halben Test-Jahr spürbar anders? Was war der Mehrwert?
„Sehr positiv habe ich bemerkt, dass neue Studenten, insbesondere Projektstudenten oder Austauschstudenten, durch die Subgroups sehr gut integriert werden, nicht nur sozial, sondern auch fachlich. Was mir auch aufgefallen ist, ist, dass der persönliche 1:1 Kontakt mit mir verloren gegangen ist. Dies ist sonst im Rahmen der Besprechung der Monatsberichte erfolgt. Deswegen habe ich jetzt eingeführt, dass ich immer nach der halbjährigen Forschungspräsentation ein Feedback-Gespräch mit dem Mitarbeiter führe – über seine Leistungen, Verbesserungsmöglichkeiten, Karriereziele und wie wir diese erreichen. Das wird sehr positiv aufgenommen.“ – so Professor Wegner.
Was noch nicht so klappt, ist das Schreiben der Paper Drafts. Diese sollten – so die Idee – kontinuierlich verfasst und eigenständig in den Weeklys besprochen werden. Die Paper Drafts sind ein wichtiger Baustein für relevante Publikationen und die anstehende Promotion. Aktuell wird das Schreiben vor sich hergeschoben, „der Output ist noch nicht so, wie ich das erhofft hatte.“, so Professor Wegner. „Vielleicht braucht es mehr Ermutigung zum Progress, zum unfertigen Zwischenstand.“
Eine virtuelle Reflexionsrunde im Januar 2021 ergab , dass die Änderungen vom Oktober 2019 als insgesamt „positiv wahrgenommen werden“. Insgesamt war es gut, „den Spirit des Agilen Managements mal wieder aufzubauen und aufzufrischen und auch ein paar Dinge, welche sich eingeschliffen hatten, aufzugreifen, wie zum Beispiel keine Paper Drafts „in Progress“ stehen zu lassen.
Professor Wegner reflektierte mit seinem mittlerweile 17-köpfigen Team die Veränderungen der letzten Monate, denn: „Ich möchte das System auf jeden Fall so weiterführen, aber gerne mögliche Verbesserungen mit der Gruppe diskutieren.“. Hier machte Professor Wegner deutlich, was verhandelbar ist und was nicht. Das eigenständige Arbeiten in drei Sub-Teams ist nicht verhandelbar; die Ausgestaltung und Anpassung von „zu langen Weekly Meetings“ dagegen schon. Für die Promovierenden war die Live-Betreuung durch Prof. Wegner sehr attraktiv, allerdings war diese durch die stark gewachsene Gruppengröße nicht mehr leistbar. Der Interessenkonflikt wird immer noch nachjustiert und angepasst, zum Beispiel durch regelmäßiges Nutzen des 5 Finger-Feedbacks in den 3 Subgroups. Also was lief top, was sollten wir im Blick behalten, was lief schlecht, was sollten wir beibehalten, und was kam zu kurz.
Der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP) läuft – dank Motivation, Retrospektive, Review und menschlichem Interesse.
„Es ist so erfrischend und beglückend, zu erleben, wie Forschende gemeinsam nach Formaten suchen, bis sie ihre wertvolle Zeit für das nutzen können, wofür sie an die Universität gekommen sind – für die Forschung mit Herz und Passion.“ – so mein persönliches Fazit als externe Begleiterin.