Brutkasten der Hoffnung – In fünf Schritten zum gelingenden Experiment

Titelbild: Jackie Ramirez, pixabay

Im Zusammenhang mit agilen Vorgehensweisen werden Experimente als eine Möglichkeit beschrieben, Ideen zu testen. Bei dem Wort „Experiment machen“ klingeln in Verwaltungen allerdings die Alarmglocken. Für viele gehören Experimente in Labore oder wenigstens in ein Innovation Lab, aber nicht in den Verwaltungsalltag. Möglicherweise liegt das an falschen Vorstellungen vom richtigen Ausprobieren. Wie Experimente nicht nur Gedanken bleiben, sondern tatsächlich gelingen und welche Nebeneffekte sie bringen, das erwartet Dich in diesem Beitrag.

Wir alle experimentieren mehr oder weniger täglich. Wenn wir eine neue Strecke fahren, weil auf der üblichen eine Baustelle Staus produziert. Wenn wir merken, ein Verhalten führt bei einem anderen Menschen nicht zur gewünschten Reaktion und wir verhalten uns daher anders. Oder wenn wir ein neues Restaurant oder Rezept ausprobieren. Dann riskieren wir Neues – und fallen damit möglicherweise auf die Nase. Das nehmen wir bewusst oder unbewusst in Kauf.

In Verwaltungen und Unternehmen sieht das etwas anders aus. Wenn Neues ausprobiert werden soll, werden Ideen meist durch den Anspruch auf 150 %ige Konzepte wieder ausgebremst und mögliche Fehler durch aufwändige Kontrollschleifen beherrschbar gemacht. Versucht man, gute, aber unkonventionelle Ideen auf den Weg zu bringen, scheitert schon die Diskussion darüber an den Bedenken, was schieflaufen könnte. Das geht auf Kosten von Innovation und Effizienz, aber noch viel schlimmer zu Lasten der Motivation der Menschen und der Erneuerung der Verwaltung. Hier könnten Experimente helfen – wenn es denn echte Experimente wären. Doch auch diese werden häufig als nicht machbar wegdiskutiert und fallen dem Pessimismus zum Opfer. Aber vielleicht stecken hinter der Skepsis gegenüber Experimenten auch einfach nur falsche Vorstellungen, was Experimente sind, nämlich: Es wird etwas umgesetzt, dann geht es gut oder es geht schief. Wenn es gut geht, war es selbstverständlich. Und im letzteren Fall stürzen sich alle auf die Fehler anstatt auf die Chancen.

Brutkästen der Hoffnung

Francois Jacob[1], französischer Nobelpreisträger, nannte Experimente „Brutkästen der Hoffnung“[2]. Ich finde, das ist ein wunderbares Bild fürs Entwickeln und Ausprobieren, denn hier schwingt mit, warum wir Experimente wagen: Wir suchen eine bessere Lösung für einen Zustand, mit dem wir nicht zufrieden sind. Wir sind neugierig und wollen eine neue, gute Erfahrung machen. Es gibt sicherlich noch viele andere Gründe. Wie kann also die Idee des Hoffnungs-Brutkastens verwirklicht werden? Wie kann Neues, Unsicheres „sicher“ riskiert werden? Wie kann für neue Ideen die Hemmschwelle zum Ausprobieren überwunden werden? Wie können sie die Hürden der Ängste und Bedenken nehmen?


[1] Francois Jacob, 1920 – 2013, französischer Mediziner, Genetiker und Molekularbiologe, erhielt 1965 mit André Lwoff den Medizin-Nobelpreis

[2] Quelle: Jacob 1988 S. 11 f. – Zitat aus OrganisationsEntwicklung, Nr. 3/2014, S. 5

Schutzraum des Ausprobierens

Agile Vorgehen wie zum Beispiel Design Thinking leben von Prototypen und Experimenten, die in iterative Prozesse der Ideensammlung, Bewertung und Auswahl eingebunden sind. Sie fordern methodisch dazu auf, Ideen zu erproben und diese anhand des Feedbacks der Nutzenden weiter zu entwickeln. Werden diese Konzepte genutzt, scheinen Experimente eine Art Schutzraum des Ausprobierens zu haben. Braucht es das Etikett „agil“? Ist eine agile Methode, ein Projekt oder ein Lab als akzeptierte Laborsituation notwendig, damit experimentiert werden darf?

Ablauf eines Experiments

Schauen wir uns an, wie ein „ordentliches“, professionell durchgeführtes Experiment funktioniert[1]. Dabei durchläuft eine Idee, „die Versuchsanordnung“, vier Phasen:

  1. Fragen formulieren. Ein Experiment beginnt mit einer Frage. Diese Frage sollte so formuliert sein, dass man sie mit dem Experiment überprüfen kann. Zum Beispiel: Können wir in unserem Geschäftsprozess, Arbeitsschritte reduzieren? Können wir durch Checklisten die bisherigen Fehler vermeiden und dadurch die Kontrollen streichen?
  2. Hypothesen bilden. Als nächstes wird eine Hypothese formuliert, die im Experiment überprüft werden soll. Diese Hypothese ist eine mögliche Antwort auf die Frage. In unserem Beispiel lautet die Hypothese: Durch den optimierten Arbeitsablauf und die neuen Checklisten in unserem Geschäftsprozess müssen bei Standardfällen keine Kontrollen mehr durchführt werden. Trotzdem werden so gut wie keine Fehler mehr passieren und wir werden viel effizienter arbeiten.
  3. Experiment planen. Bevor das Experiment startet, wird es geplant. Dabei ist wichtig, dass es für die konkrete Situation, den Bereich, die besprochenen Fälle gilt, um die es geht, damit die Wirkung des Experiments auch auf die konkrete Hypothese zurückgeführt werden kann. In unserem Beispiel wird also der Prozess verkürzt. Für die entscheidenden Schritte werden Checklisten und Standards entwickelt und die früheren Kontrollen abgeschafft. Gleichzeitig werden wenige Kennzahlen festgelegt, die im Experiment erhoben werden. Hier würden sich die Bearbeitungszeit, die Fallzahlen sowie die Fehleranzahl anbieten.
  4. Experiment durchführen. Das Experiment wird wie geplant durchgeführt. Dabei sollten möglichst keine Dinge stattfinden, die das Ergebnis verfälschen könnten. In unserem Beispiel wird also nach dem neu gestalteten Arbeitsprozess gearbeitet, an den definierten Stellen sorgen Checklisten dafür, dass die Mitarbeitenden wissen, wie die Schritte richtig und sicher zu tun sind. Sie wissen, dass keine Kontrollen mehr stattfinden. Dabei werden die Kennzahlen erhoben. Sonderfälle werden nicht im Experiment berücksichtigt.
  5. Experiment auswerten. Die Hypothese wird überprüft. Wird sie bestätigt oder widerlegt? In unserem Beispiel wird nach acht Wochen ausgewertet, wie die Zeiten, Fallzahlen und Fehlerzahlen sind. Es wird ein Vorher-Nachher-Vergleich durchgeführt. Es wird geschaut: Ist die Fehlerrate gleich Null oder akzeptabel? Haben die Checklisten gut funktioniert, oder nicht? Kann also auf die Arbeitsschritte und Kontrollen verzichtet werden? Falls die Hypothese widerlegt wurde: Was waren die Gründe dafür? Können weitere Experimente abgeleitet werden? Wie kann es anders gelingen? Und so weiter…

[1] Quelle: Schritt 1 – 4 https://de.serlo.org/biologie/27023/wie-funktionieren-experimente, abgerufen am 30.10.2021

In Experimenten gemeinsam lernen

Die Ergebnisse des Experiments oder der Kette von Experimenten führen also zu Erkenntnissen, an welchen Stellschrauben gedreht werden könnte, bis eine gute Lösung da ist. Diese Lösung kann dann ohne größeres Risiko umgesetzt und als neuer Standard übernommen werden, denn sie ist ja schon erprobt. Dafür eigenen sich wie beschrieben auch Prozesse, die nicht rund laufen. Das Team lernt gemeinsam, aber ohne Schuldzuweisungen und Blockaden vor Veränderungen.

Ich finde, Experimente haben auch einen anderen Touch als Pilotprojekte. Piloten sind Phasen oder Bereiche, in denen ein Konzept erprobt, ausgewertet und später ausgeweitet wird. Gerade die Hypothesen eines Experiments laden dazu ein, die wahren Ursachen aufzuspüren, zu spinnen und verrücktere Lösungen auszuprobieren. Sie sind etwas Besonderes und machen mehr Spaß als das Sich-Im-Kreis-Drehen, warum etwas gehen oder nicht gehen könnte.

Experimentieren als Kulturfaktor

Experimente haben auch noch einen ganz anderen, kulturellen Effekt: Das, was normalerweise als Fehler definiert werden würde und dazu führt, dass alles wieder rückgängig gemacht wird, kann als Fehlschlag gesehen werden. Das hat eine völlig andere Wirkung. Das Risiko eines Fehlschlags ist bewusst eingegangen worden, um etwas auszuprobieren. Die Reaktion in diesem Fall ist also nicht: „Ich wusste von Anfang an, dass das nicht funktioniert – wir machen es wieder wie bisher!“ und damit ist die Lösungssuche vom Tisch. Sondern vielleicht: „Lasst uns eine andere Variante versuchen!“. Dabei sehe ich leuchtende Augen und Entdeckerfreude von Menschen vor mir, die schon gespannt sind, wie das Experiment weiter geht. Es führt eventuell auch zu einem weiteren Experiment mit anderen, vielleicht erfolgreicheren Lösungen. So könnten in unserem Beispiel des zu optimierenden Prozesses weitere Ideen ausprobiert werden, um zu einem besseren Prozessablauf zu kommen. Die Lösung muss nicht die eierlegende Wollmilchsau sein; sie kann auch nur die berühmten 80 Prozent nach Pareto[1] abdecken.

Hinter dem Experiment steht also eine gemeinsame Haltung: Eine Veränderung wird ausprobiert und danach wird abhängig von den Wirkungen entschieden, ob die Veränderung als Standard in die Routine übernommen wird oder nicht. Dann aber auf Basis von Fakten und nicht Vermutungen, hinter denen auch oft Befürchtungen und Bedenken stehen. Ein Experiment kann die Widerstände vor neuen Lösungen nehmen. Man kann Wagnisse ausprobieren, weil sie unter dem Vorbehalt stehen, dass sie tatsächlich eine Verbesserung bringen. Gleichzeitig gilt im straffreien Raum für sie die Prämisse, sie in die Umsetzung zu bringen, obwohl nicht sicher ist, dass die Idee funktioniert. Und Experimente bringen ins konkrete Tun, weg von endlosen Diskussionsrunden ohne Ergebnisse. Ein Experiment kann überall und in jedem Kontext gemacht werden. Es braucht keine agilen Methoden.


[1] Das Pareto Prinzip, auch als „80:20 Regel“ bekannt, besagt, dass rund 80 Prozent eines Effekts 20 Prozent Aufwand erzeugen und umgekehrt – 20 Prozent erzeugen 80 Prozent des Aufwands.

Rahmenbedingungen für ein Experiment

In Organisationen ist wichtig, dass ein Experiment nicht als Spielerei gesehen und formal unterstützt wird, also einen Machtpromotor hat. Und in dem das Experiment ausdrücklich als solches deklariert wird. Bereits zum Start eines Projekts oder eines Vorhabens kann mit den Beteiligten vereinbart werden, dass dieses einen Schutzraum bietet. Es wird also Transparenz geschaffen und es werden Fehlschläge erwartet, weil sie neue Erkenntnisse über einen Sachverhalt oder einen Ablauf bringen. Gegenstand der Veränderungen sollten kleine Schritte sein, nicht der große Wurf. Unabhängig davon, ob das Experiment erfolgreich gelaufen ist: das gemeinsame Analysieren und Bewerten erübrigt Schuldzuweisungen. Alle lernen gemeinsam und Entwicklung wird möglich.

Den Veränderungsmuskel trainieren

Experimente können wir übrigens auch mit uns persönlich machen. Im Beruf oder im privaten Leben. Sie trainieren unseren Veränderungsmuskel und wir finden als Entdeckerin oder Entdecker Neues heraus. Zum Beispiel, wie wir die Grenzen unserer Komfortzone verschieben können oder wie wir unliebsame Gewohnheiten loswerden. Oder wie wir neue Perspektiven öffnen und ein Problem lösen können. Das erweitert nicht nur unseren persönlichen Horizont.

Lust auf ein Experiment? Such Dir etwas aus, was Du Dir schon lange wünscht. Etwas, das Du gerne verändern würdest, weil es Dich im Alltag nervt. Oder etwas, für das Dir bisher der Mut gefehlt hat. Suche Dir vielleicht Unterstützer*innen und wähle nicht unbedingt eine riesen Sache, die für Dich der Besteigung des Mount Everests gleich käme. Nimm etwas, das machbar scheint, aber auch ein paar Risiken mit sich bringt. Führe das Experiment durch, alleine oder gemeinsam mit anderen.

Ich wünsche Dir viel Spaß bei Deinem Experiment! Wenn Du möchtest, schreibe in den Kommentaren darüber. Wir Leserinnen und Leser würden uns freuen.

Autor: Christine Gebler

Veränderungen, die bewegen.

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