Im FAV und darum herum hat sich eine Diskussion entsponnen, wie eine gute Verwaltung in (ferner?) Zukunft aussehen könne. Kann die Kooperation mit dem Bürger bei der Bearbeitung seiner Anliegen zum Normalfall werden, statt weiter vor allem über ihn zu entscheiden? Und ist das überhaupt ein sinnvoller Wunsch?
Ich halte diesen Wunsch für sinnvoll. Oder anders: ich halte ihn für absolut dringend. Wir müssen unsere Entscheidungsprozesse unbedingt beschleunigen und auch ihre Ergebnisse verbessern – sonst können wir die Megaherausforderungen Klimakrise, Pandemie, Flüchtlingsaufnahme getrost vergessen. Solange bei uns nicht das Motto gilt „Digitalisierung zur Unterstützung von grundlegenden Prozessverbesserungen“, sondern „Digitalisierung an Stelle von Änderungen“ werden wir immer den diversen Tsunamis hinterherschwimmen. Und nie vor die Welle kommen.
Zum Stand der Diskussion
Veronika hatte den Reigen vom vorletzten Donnerstag begonnen mit einem Beitrag, in dem sie den Weg eines heiratswilligen Paares durch das deutsche Verwaltungslabyrinth schilderte, als es um die Beibringung eines „Ehefähigkeitszeugnisses“ für den Mann ging, der nichtdeutscher Herkunft war. Sie hatte angemahnt, Verwaltung sei nicht die stumpfe Anwendung von gesetzlichen Regeln, sondern „tätig werdende Verfassung“. Ich hatte diesen ergänzt mit einer weiteren Geschichte eines Senioren-Wohnprojekts, dessen Bauantrag von der Kreisverwaltung mit der Auflage der Installation eines Kinderspielplatzes (mit Schaukel!) versehen worden war. Mir war es vor allem darum gegangen, wie man künftig die Erstellung von Bescheiden im Dialog zwischen Verwaltung und Bürgern zum Regelfall machen könnte („Ko-Dienstleistungsproduktion“).
Michaela Mellinger hat in einem Kommentar vorgeschlagen, Verwaltungen und Gemeinden sollten wesentlich öfter zum Mittel der Mediation greifen, wenn es zu unterschiedlichen Meinungen zwischen ihnen und ihren Anspruchsberechtigten komme. Peter Bauer hingegen hat in einem weiteren Kommentar die Notwendigkeit einer grundsätzlich anderen Art der Gesetzgebung („Staatsreform“ hatte ich das genannt) angezweifelt und vermerkt: „Grundsätzlich wäre mir sehr bange, wenn wir die Verwaltungen aus der Verpflichtung, sich an das Gesetz zu halten, herauslassen würden, wenn wir ihnen auferlegen würden, „werteorientiert“ zu handeln.“
Kleinteilige Regeln bedienen den Untertanengeist
Ich möchte gerne weitere Werbung betreiben für meinen Denk-Ansatz, Gesetze künftig grundsätzlich anders zu formulieren. Und das weiter anhand des Beispiel „ein Bauantrag für ein Senioren-Wohnprojekt“. An Beispielen können wir gut lernen, weil wir uns nicht in die Höhen allgemeiner Betrachtungen zu verlieren drohen.
Die Landesbauordnung BW schreibt vor:
„(2) Bei der Errichtung von Gebäuden mit mehr als drei Wohnungen, […], ist auf dem Baugrundstück oder in unmittelbarer Nähe […] ein ausreichend großer Spielplatz für Kleinkinder anzulegen. Die Art, Größe und Ausstattung der Kinderspielplätze bestimmt sich nach der Zahl und Größe der Wohnungen auf dem Grundstück.“
Dazu gibt es eine Tabelle, bei welcher Wohnungsanzahl welche Spielplatzgröße vorzusehen ist. In meinem Beispiel wurde von der Sachbearbeiterin im Bauordnungsamt die Auflage formuliert, einen „mindestens 30 m² großer Kinderspielplatz mit einer Sandspielfläche von mindestens 4,5 m² und einem Spielgerät (z.B. Schaukel)“ bereitzustellen. Die Ausnahmen, die die LBO vorsehen und die Peter in seinem Kommentar zitiert, trafen in diesem Fall nicht zu. /Anmerkung 1/.
Die LBO versucht, ein sinnvolles Ziel (Raum für Kinder in Wohngebieten zu schaffen) durch eine extrem kleinteilige Festlegung zu garantieren und außerdem dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Bürger gerecht zu werden. Die Kleinteiligkeit ist ein juristischer Ansatz, der versucht, Entscheidungsregeln im sozialen Bereich quasi wie naturwissenschaftliche Gesetze zu formulieren: „Immer wenn die Bedingung X gilt, dann tritt die Folge Y ein.“
Diese Art von Denkweise entspringt einem traditionellen (westlich-patriarchalen) Ansatz, der Entscheidungen nicht als Ergebnisse von Interaktionen zwischen Menschen begreift. Für die Sachbearbeiter:innen ist der Ansatz starrer Regelungen mit einem Risiko behaftet. Wir Menschen haben nämlich die Schwäche, dass sich oft das Mittel an die Stelle des Ziels setzt. Gerade das Notensystem an den Schulen, durch das wir alle sozialisiert wurden, hat uns in dieser Hinsicht geprägt: die „gute Note“, die ein Mittel zum Zweck darstellt, sich gut auszubilden, wird auf einmal zum Selbstzweck – und das „Pauken“ toten Wissens tritt an die Stelle des lebendigen Erprobens und Aneignens. Das Mittel tritt dem eigenen Zweck in den Weg und verhindert es.

So etwas Ähnliches ist bei dem Wohnprojekt passiert. Der Kinderspielplatz auf dem Grundstück wird mangels Kindern nicht genutzt. Und gerecht ist das Ergebnis auch nicht, weil man ungleiche Voraussetzungen von Bauprojekten den gleichen Vorschriften unterwarf.
Wenn die Verwaltung aber bereit wäre, „also agiler, d. h. am Stakeholder orientierter (zu) werden“ (Kommentar von Michaela), würde die Komplexität der Situation anerkannt – und die Lösung wäre einfacher. In einem einstündigen Gespräch zwischen Sachbearbeiterin und Antragsteller hätte man sicher ein sinnvolleres soziales Angebot auf dem Baugrundstück vereinbaren können – anstatt völlig sinnloser Mittelverschwendung oder eine Bauverzögerung um mindestens einige Monate.
Sinnvoll handeln – gegen die Regeln
Charakteristisch für die öffentliche Verwaltung ist ja, dass sie dort, wo Mitarbeiter:innen ihrem Sinn-Auftrag gerecht werden wollen („tätig werdende Verfassung“), sie die strikten Regeln bewusst aushebeln. Ein Beispiel dafür schildert Wolfgang Seibel gleich zu Beginn seines Buchs „Verwaltung verstehen“:
„In der Sprechstunde eines Amtsarztes im Gesundheitsamt einer kreisfreien Stadt erscheint eine krebskranke Zollinspektorin. Sie ist seit einem Dreivierteljahr krankgeschrieben, nun geht es nach Maßgabe der einschlägigen beamtenrechtlichen Regelungen um die Frage, ob sie ihren Beruf überhaupt noch ausüben kann.“
Würde der Amtsarzt diese Frage verneinen und sie berufsunfähig schreiben, wäre das eine zusätzliche psychische Belastung für die noch junge Beamtin. Sie hat nur noch wenige Monate zu leben, und nach ihrem Tod würden auch die Versorgungsleistungen für die Familienangehörigen (u.a. zwei kleine Kinder) gekürzt. Mehrfach wurde der Amtsarzt von der Personalverwaltung gemahnt, doch nun endlich sein Gutachten zu liefern. Nach der letzten Mahnung greift der Arzt zum Telefon und spricht mit dem Abteilungsleiter der Personalstelle. Sie einigen sich auf folgendes Vorgehen:
„Der Amtsarzt möge der Personalstelle schriftlich mitteilen, dass er zur Erstellung des Dienstfähigkeitsgutachtens über die erkrankte Zollinspektorin wegen Überlastung des Gesundheitsamts und speziell seines Sachgebiets derzeit nicht in der Lage und daher mit der Übersendung des Gutachtens erst in etwa vier Monaten zu rechnen sei. Sowohl dem Amtsarzt als auch dem Abteilungsleiter … ist klar, dass sich der Vorgang innerhalb dieser Zeit aus den erörterten medizinischen Gründen erledigen wird, und genau so kommt es auch.“
Das ist agil gehandelt. Dort wo die Festlegungen des Dienstrechts in Widerspruch zu ihrem eigenen Sinn zu treten drohen, haben Amtsarzt und Abteilungsleiter dem Sinn zu seinem Recht verholfen und zwar gerade durch ihre eklatante Regelverletzung.
Die Frage ist nur, ob wir nicht Rechtsformen finden können, die solche humanen Entscheidungswege mit bestimmten prozeduralen Anforderungen (Dokumentation und Transparenz der Entscheidung) erlauben, statt sie zu behindern oder ins Illegale zu drängen. Indem Wolfgang Seibel diesen Fall zum Auftakt seines ganzen Buches gewählt hat, unterstreicht er die Dringlichkeit dieses Anliegens.
Es geht um Beschleunigung
Warum so viel Gerede über solche Einzelfälle?
Ich vermute, dass das Thema der Detailregelungen auf sehr viele Verwaltungsleistungen zutrifft. Z.B. auch auf Genehmigungen von Windparks oder Ähnlichem, die eine ziemlich existenzielle Bedeutung für unsere Gesellschaft haben (energie-effiziente Neubauten übrigen auch). Auch dort spielen exakte Festlegungen eine aktuell wichtige Rolle („Abstandregeln“).
Es gibt die Überlegungen im politischen Raum, Digitalisierung würde dann besonders gut zur Beschleunigung von Verfahren beitragen, wenn man die Gesetze immer kleinteiliger formuliere und dadurch algorithmus-tauglich mache. Dann bräuchte man die störenden Antragsteller überhaupt nicht mehr zu beteiligen, weil ja dann die absolut unparteiische Gerechtigkeit digital gesichert wäre. (Die Sachbearbeiter:innen bräuchte man dann übrigens auch nicht mehr.)
Die Kehrseite dieser Medaille wollte ich ein Stück weit aus dem Schatten holen. Und ich bin ziemlich sicher, dass ein dialogischer Ansatz – mit digitalen Plattformen modern organisiert – unsere Entscheidungswege unterm Strich deutlich schneller und nachhaltiger machen würde.
Anmerkung
/1/ Peter zitiert die LBO, in der es heißt: „Die Sätze 1 bis 3 gelten nicht, wenn die Art der Wohnungen einen Kinderspielplatz nicht erfordert.“ Im Baubescheid der Kreisverwaltung wurde die Anwendung dieser Ausnahmeregelung geprüft und für nicht zutreffend befunden. Denn der Charakter als Seniorenprojekt sei für die Zukunft nicht unverrückbar festgeschrieben. Ein Eigentümer oder seine Erben könnten z.B. seine Wohnung an Jüngere verkaufen, und dann seien die Voraussetzungen vielleicht in 10, 20 Jahren nicht mehr gegeben.
Die Möglichkeit eines Einspruchs bei der Aufsichtsbehörde oder das Beschreiten des Klageweges, die Peter ebenfalls vorgeschlagen hatte, wurde von der Baugruppe nach kurzer Diskussion verworfen. In einer Situation, in der der Bauplatz schon beschafft ist und die Baupreise schnell steigen, ist eine Verzögerung von mehreren Monaten einfach nicht zu finanzieren.