Mythos „Workflows“ – das ewige (unerfüllte) Versprechen

Die öffentliche Verwaltung ist nach wie vor im Workflow-Fieber. Sehr viele Projekte, so gewinnt man den Eindruck, haben zum Ziel, durch klassische Prozessoptimierung die Verwaltungen effizienter zu machen. Das eGovernement-Gesetz in Deutschland drängt die Öffentliche Verwaltung, Dokumentenmanagement-Systeme (DMS) einzuführen. Und DMS-Hersteller versprechen auch eine grundlegende Verbesserung der Arbeitseffizienz, hat man erst einmal ihre Software installiert.

Aber gelingt dies? Und in welchem Verhältnis steht dieses Konzept zu agilen Vorstellungen der Selbstorganisation?

Meine These ist: Workflows stellen (mit wenigen Ausnahmen) keine Verbesserung der Abläufe dar. Vielmehr zementieren sie das Silodenken, also das Denken in Abteilungen, das unsere Verwaltungen so lähmt.

Statt langer theoretischer Abwägereien will ich das an einem konkreten Fallbeispiel darstellen.

Eine typische Situation

Das Landratsamt Oberbergen möchte seine Prozesse optimieren und dafür ein Dokumentenmanagementsystem (DMS) einführen. Davon versprechen sich Landrat und Fachbereichsleiter eine erhebliche Beschleunigung der Durchlaufzeiten von Anträgen und eine Einsparung von Personalressourcen durch effizienteres Arbeiten.

Eine DMS-Software wird beschafft mit Lizenzkosten von 850 € pro Arbeitsplatz (Named User) und 170 € jährlich an Wartungskosten. Das Landratsamt beschließt, als Erstes den Beschaffungsprozess durch das DMS abzubilden. Dabei ist viel von „elektronischer Akte“, „Workflows“, „Abbildung von Vertretungsregelungen“ die Rede. Im Ergebnis werden die Beschaffungsanträge fortan nicht mehr auf Papier ausgefüllt und weiter geleitet, sondern mit elektronischen Formularen abgewickelt.

Nach erfolgter Umstellung werden die Anwender befragt, ob sich ihre Zufriedenheit gesteigert hat. Zum großen Erstaunen der Beteiligten ist das fast gar nicht der Fall. Als einer der Unzufriedensten stellt sich Herr Leichtenberger heraus, der Leiter der Vermessungsabteilung. Der Projektleiter, Herr Schlenk, meldet sich zum Gespräch bei Herrn Leichtenberger an, um an einem Einzelfall die Gründe für die Unzufriedenheit herauszubekommen.

Herr Leichtenberger schildert einen konkreten Fall.

„Gerade letzte Woche war es. Wir brauchen hier unbedingt ein neues Tachymeter. Und man weiß schon vorher, dass man es nicht bekommt. Oder zumindest nicht das, was wir haben wollen.
Unser vorhandenes Tachymeter ist schon älter als 12 Jahre und hinkt hoffnungslos hinter dem heutigen technischen Standard her. Wir brauchen Ersatz, und zwar ein Qualitätsprodukt und nicht irgendeinen billigen Schund!
Tachymeter gibt es schon ab 8.000 €, aber die richtige Qualität beginnt erst so ab 25.000 € aufwärts. Wichtig ist, dass ein neues Tachymeter reflektorlos und zielverfolgend ist. Bei der neuen Generation von Tachymetern werden die Seiten- und Höhentriebe elektrisch angetrieben. Dadurch kann der Tripelspiegel automatisch angezielt werden. Damit wiederum wird der Einmannbetrieb in der Vermessung möglich, weil der Benutzer am Gerät eingespart werden kann. Die Bedienung erfolgt vielmehr nur noch vom Reflektor aus.
Ist das bei der heutigen Personalknappheit vielleicht kein Argument? Ein paar Tausend Euro beim Tachymeter einsparen (nur einmalig) und dafür das Zehnfache (dauerhaft) an Personalkosten ausgeben – wo bleibt da die Logik?“

Herr Schlenk kann Herrn Leichtenberger noch jetzt seinen Ärger deutlich ansehen. Der hatte den neuen elektronischen Beschaffungsantrag mit technischen Spezifikationen ausgefüllt. Dann hatte er in das Feld „Begründung der Anschaffung“ seine Überlegungen zum geringeren Personalbedarf geschrieben. Als „Kostenansatz“ hatte er 29.000 € eingetragen – zugegeben etwas überhöht, aber als Verhandlungsspielraum gedacht. Dürfte man auch gebrauchte Geräte bei eBay beschaffen, könnte man übrigens durchaus auch mit 15.000 € auskommen. Aber an eBay habe ja von der Beschaffungsstelle noch niemand gedacht, das sei denen viel zu modern.

Mit einem Klick auf „Versenden“ war das Formular an die Beschaffungsstelle losgeschwirrt.

Nicht einmal vier Stunden später – die Durchlaufzeit betrug wirklich nur noch ein Viertel des vorher Üblichen! – kam die Antwort von Herrn Helming von der Beschaffungsstelle: „Antrag genehmigt. Voraussichtliche Investitionshöhe 7.500 €.“ Das schlug dem Fass den Boden aus! All seine Begründungen, warum nur ein besseres Gerät in Frage kam, wurden in den Wind geschlagen! Und die 7.500 € lagen noch unter dem Preis des jetzigen Tachymeters, stellten also eine Verschlechterung dar.

Herr Schlenk traut sich noch kein Urteil zu, was in diesem Fall schief gegangen ist. Er verabschiedet sich und meldet sich bei Herrn Helming an, dem zuständigen Sachbearbeiter der Beschaffungsstelle.

Herrn Helming empfängt ihn aufgeräumt und leutselig. „Unser tüchtiger Herr Leichtenberger, hat er sich also bei Ihnen beschwert. Aber der Antrag zum Tachymeter war in dieser Höhe überhaupt nicht genehmigungsfähig. Tachymeter gibt es schon ab 5.995 €. Für etwas mehr gibt es übrigens bei eBay schon gute gebrauchte mit elektrischem Antrieb, wie er Herrn Leichtenberger vorschwebt. Aber mit eBay braucht man ja unseren Ingenieuren sowieso nicht zu kommen.“

Außerdem hat Herr Leichtenberger versucht, ihn auszutricksen. Er hat die technischen Spezifikationen aus dem Katalog von Schmalkopf GmbH & Co KG mit Copy und Paste übernommen. So wollte er den Anschein erwecken, dass nur ein Anbieter in Frage komme. Aber so leicht lässt er sich nicht übertölpeln!

Und dann die Begründung: geringerer Personalbedarf. Als ob das jemals nachweisbar wäre. Alle reden immer vom geringeren Personalbedarf, wenn sie etwas kaufen wollen, und hinterher wird das Personal doch aufgestockt. Und wenn ein einziges Tachymeter 30% des gesamten Beschaffungsetats der Vermessungsabteilung auffrisst? Und wenn dann im Herbst ein Nachtragshaushalt fällig wird? Wer wird dann verantwortlich gemacht? Genau, er, Herr Helming.“

Herr Helming ist während seiner Erklärung sicherer geworden. Er fühlt sich jetzt voll im Recht. „Angeblich eingesparte Personalkosten kann man nicht messen. Tatsächlich eingesparte Beschaffungskosten aber schon. Und meine Zielvereinbarung sieht eine Einsparung von 10% des Beschaffungsbudgets vor. Das ist für mich der Maßstab für gute, nachhaltige Arbeitsergebnisse im Sinne des Landratsamts.“

Überlegungen

Der geschilderte Ablauf kommt so oder ähnlich Tag für Tag in vielen Organisationen vor. Große Profitunternehmen stehen nicht besser da als öffentlichen Verwaltungen.

Der Ablauf ist völlig verkorkst. Er stellt bei beiden Beteiligten – Herrn Leichtenberger wie Herrn Helming – eine große Verschwendung an Energie und Nerven dar, die den produktiven Arbeiten verloren geht. Und das Ergebnis ist, egal mit welchem der beiden Protagonisten man sich als Beobachter identifiziert, sicher nicht optimal.

Was hat das teure DMS also genutzt? Offenbar nicht viel.

Der Grund: die Vorstellung, wie man Abläufe optimiert, ging völlig an der Realität vorbei. Das Konzept bediente sich Ausdrücken wie

* „Prozessoptimierung“
* „Standardisierung der Abläufe“
* „DMS-gestützter Workflow“
* usw.

Daraufhin wurde der digitale Beschaffungsantrag konzipiert. Der nützt jetzt aber gar nichts. Im Gegenteil, er schadet nur. Denn er trennt die Beteiligten voneinander, statt sie  zusammenzuführen.

Was wäre eine agile Antwort auf diese Situation? Was würden wir Herrn Leichtenberger und Herrn Helming empfehlen? Und was wäre eine gute, nachhaltige Methode der Prozessverbesserung?

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

4 Kommentare zu „Mythos „Workflows“ – das ewige (unerfüllte) Versprechen“

  1. Bin auf verschiedene Weise mit Leuten verbunden, welche sich hier (in der CH) sowie in DE mit eGouverment beschäftigen, weshalb ich ein paar Gedanken hinterlassen möchte. Die eine oder andere Aussage kann hart klingen. Bitte keinesfalls persönlich nehmen. Freue mich auf eine Diskussion.

    Prozessoptimierung, Workflow und DSM haben so viel gemeinsam wie ein Stuhl, eine Banane und ein Beamter. Ein DMS managt Dokumente, ein Workflow ist eine Prozessabfolge und die Prozessoptimierung kann „nur“ (in diesem Zusammenhang) Einfluss auf den Workflow haben. Sie greift nicht in das DMS ein, noch ändert es die Arbeits- und Denkweise der Menschen.

    „Ein WF stellt eine Verbesserung der Abläufe dar.“ Kann sein, muss nicht. Er stellt jedoch garantiert einen eigenen, zusätzlichen Ablauf dar. Die möglichen Auswirkungen sind breit gestreut.

    Stimme dem Autor nicht zu, dass ein WF zu Silodenken führt. Wie sollte er das können? Eine Autobahn hat keinen Einfluss auf den Raser.

    Um es an dieser Stelle vorwegzunehmen. Der Satz „die Vorstellung, wie man Abläufe optimiert, ging völlig an der Realität vorbei.“ ist absolut zutreffend.

    Das Beispiel ist grundsätzlich gelungen, enthält aber- aus meiner Sicht – einen Denkfehler, welcher in der Praxis sehr häufig vorkommt. Wunsch „Prozesse optimieren“ = Kaufe ein neues IT-Produkt. Bestehende Prozesse gilt es zuerst einmal zu vereinfachen. Mit kleinstmöglichem Aufwand. Danach schaut man, ob eine technische Unterstützung nötig und sinnvoll ist. Diese sollte idealerweise nahe beim optimierten Prozess liegen oder noch besser sein. Alles andere wäre ein Rückschritt und ev. Verschwendung. Sehr hart ausgedrückt.

    Die Problematik mit den Prozessen ist oft die Gleiche. Der Prozess an sich ist fehlerhaft, doch das eigentliche Problem sitzt auf dem Bürostuhl. Der beste Prozess, das beste DMS und den dazu nötigen Top-WF nützt überhaupt nichts, wenn der Mensch schlicht nicht fähig ist oder eine schlechte Arbeitstechnik besitzt.

    Wie anfangs geschrieben, habe ich oft und intensiven Kontakt mit Leuten, welche Verwaltungsprozesse abbilden und mit IT automatisieren. Ganz böse kann man sagen, ein Haufen fachfremder (auf die Verwaltung bezogen) Spezialisten versucht etwas abzubilden, was sie nicht verstehen. Wie immer mit Ausnahmen. Und die Umsetzung erfolgt nur technisch und ohne vorherige Vereinfachung des Prozesses. Dies übernimmt das System ja dann. Schön wäre es…

    Die Schulung und der Support ist bei einem Schritt wie im Beispiel beschrieben das A und O zum Erfolg. Erfahrungsgemäss ist dies kaum in der notwendigen Tiefe vorhanden. Was sich automatisch auf die Zufriedenheit der Leute auswirkt. Daneben bleiben die Einstellung „wir.. schon.. immer… so.. “ bestehen. Dazu ist ein Chance notwendig, ein sehr tiefer.

    Das Beispiel zeigt wunderschön, wie es in der Praxis abläuft. Unnötige Schritte, falsche Schritte, unnötige Abklärungen.

    Die unterschiedlichen Preise, den Qualitäten und den Beschaffungsanträgen haben rein gar nichts mit Prozessen zu tun. Eher mit „Gärtchen-Denken“, „ich entscheide, wie ich will“ und „wo kann ich mir eine Reserve einbauen?“. Dieses Problem liegt in der Art der Menschen, der Führung und der Kultur einer Verwaltung/Firma. Faktor Mensch. Wer schummelt, der hat andere Probleme. Dazu kommen selbstverständlich noch die unzähligen Gesetze und Verordnungen. Diese machen das Chaos in Verbindung mit dem Rest komplett.

    Ich widerspreche dem Autor hinsichtlich der Aussage, dass der Beschaffungsantrag die Leute trennt. Mensch und Prozess = 2 verschiedene Dinge. Besonders ein elektronischer Mensch.

    Und nein, auch agile Methoden oder Vorgehensweisen können diese Situation wirklich nachhaltig beeinflussen. Zumindest nicht das grosse Ganze. Punktuell bei den Involvierten ist dies möglich.

    Mensch und Team angehen, Arbeitsschritte und -methode ändern, Verschwendung beseitigen, Prozesse verbessern. Zuletzt technische Unterstützung einbinden. Alles andere bringt wenig.. ausser dem Berater.

    PS: Allgemeine Bitte. Lasst Rot und Blau aus diesem Thema raus. Andere Baustelle. Danke. *)

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  2. Immerhin scheint die kürzere Durchlaufzeit dazu zu führen, dass die Reaktionsemotionen stärker werden, da noch nicht so viel Wasser den Bach runter ist …
    Und ja: vor der Einführung gilt noch immer, dass zuvor die Chance genutzt werden sollte, die Organisation nochmals zu durchleuchten. Ich habe immer wieder festgestellt, dass das so mancher alte Zopf vorhanden war, der entweder nicht mehr wirklich am anderen Ende genutzt wurde, oder aber keinen Nutzen mehr erbrachte.

    In diesem Fall ist sehr schön zu erkennen, dass ein bereichsübergreifendes Vorgehensmodell die Silos-Steuerung aussticht. Ich kann zunehmend mit der KPIs für Silos nichts mehr anfangen. Sie behindern immer das Große-Ganze …

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  3. Gerhard Wohland (http://dynamikrobust.com/) würde das ein Havarie nennen. Es macht keinen Sinn, Dynamik im Routineprozess abzuwickeln. Ob nun automatisiert oder nicht. Das bedeutet nicht, dass der Workflow nutzlos ist, sondern lediglich, dass hier etwas hineingepackt wurde was nicht hineingehört.
    Ein kurzes Telefongespräch, zur gemeinsamen Besprechung der „roten“ Ideen kann da viel bewirken. Anschließend dann die „blauen“ Fakten in den Workflow zur schnellen Bearbeitung.

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