Vorgestern, am Mittwoch 11. Juli 2017, hat der Normenkontrollrat seinen Jahresbericht an die Bundeskanzlerin übergeben. /1/ Danach landet Deutschland auf Platz 20 von 28 EU-Mitgliedern beim Index für digitale Verwaltungsleistungen. Länder wie Estland, Dänemark oder Österreich lägen fast uneinholbar vorn.
Dafür gibt es sicherlich sehr viele Gründe. Einer aber dürfte in der äußerst passiven Rolle liegen, den die staatliche Verwaltung sich selbst bei allen Fragen gesellschaftlicher Innovation zuschreibt. Alternativen wären aber durchaus denkbar.
Die Verwaltung – nur nachholende Anpassung?
Die öffentliche Verwaltung geht in Stellung zum Thema „Digitalisierung“, und sie kann dabei prinzipiell eine von zwei zur Verfügung stehenden Positionen einnehmen:
A. eine aktive Position, die die Möglichkeiten der Gestaltung betont oder
B. eine passive Position, die den Akzent auf die Notwendigkeit der Anpassung legt.
Die B-Position ist die in der öffentlichen Diskussion bei weitem dominierende (ich würde schätzen, im Verhältnis 20:1). Um sie darzustellen, bediene ich mich eines Artikels des Innenministers von Niedersachsen, Boris Pistorius. Diese Auswahl ist nicht denunziatorisch gemeint, nach dem Motto „wie kann man nur solche Positionen vertreten“. Sie ist willkürlich und zufällig. Herr Pistorius hat seinen Standpunkt in der renommierten Zeitschrift „Innovative Verwaltung“ unter der Überschrift „Niedersachsens IT-Strategie – digital, sicher und zukunftsorientiert“ publiziert, und das vor relativ kurzer Zeit /2/. Nur deshalb zitiere ich ihn hier beispielhaft.
„Um den tiefgehenden Wandel zu begreifen, den die Digitalisierung verursacht, hilft es, einen Blick in die Zukunft zu werden. (…) Experten gehen davon aus, dass sich die Menge der mobilen Endgeräte zukünftig mindestens verzehnfachen wird. Unsere Autos werden automatisch fahren, und unsere Büros sind da, wo wir gerade sind. Natürlich veranschaulicht diese x-fache Potenzierung der heute bereits vorhandenen Daten auch, wie wichtig die Cyber-Sicherheit, der Datenschutz, aber auch eine neue Datenkultur, insbesondere für die öffentliche Hand, sind.“ /3/
Pistorius gibt seine Vision wieder – es ist eine Vision ohne Akteure. Mobile Endgeräte verzehnfachen „sich“ – die Menschen, die sie bauen, kommen nicht vor. Die Autos entwickeln sich hin zum automatischen Fahren – ohne dass jemand sichtbar ist, der diese Entwicklung ermöglicht oder steuert. Büros werden auf einmal mobil.
In einer solchen Welt, in der Entwicklung – tsunamigleich – von selbst vonstatten geht, bleibt den Menschen oder den Organisationen nur die Anpassung. Wobei die öffentliche Verwaltung als eine Teilmenge der Organisationen auch nicht direkt die Herausforderungen der ungesteuerten Entwicklung annimmt, sondern vermittelt über die Ansprüche der Bürger:
„Die öffentliche Verwaltung muss deshalb strukturell und technologisch an diese Entwicklungen angepasst werden, um den Bedürfnissen und Ansprüchen der Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden. Schließlich arbeitet die Verwaltung nicht für sich in einem eigenen Kosmos, sondern sie muss sich an den gesellschaftlichen Lebensrealitäten ständig und dynamisch orientieren. Da mit umfangreichen und sensiblen Datenmengen in der Verwaltung gearbeitet wird, muss es oberste Priorität sein, diese Daten adäquat zu schützen. Die Voraussetzungen und Bedingungen dafür zu schaffen, ist eine der Kernherausforderungen der öffentlichen Verwaltung in der Zukunft.“ /3/
Ist Innovation identisch mit technologischer Innovation?
Wenn ich jemanden frage: „Nennen Sie mir drei Innovationen, die Sie in den nächsten Jahren erwarten!“, so werde ich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Antworten wie „selbstfahrende Autos“, „sprechende Kühlschränke“ oder „hocheffiziente Solarmodule“ als Antwort erhalten. Stelle ich die gleiche Frage in Bezug auf die Vergangenheit – „drei wichtige Innovationen im letzten Jahrzehnt“ -, könnte die Antwort schon differenzierter ausfallen: vielleicht wären ja neben iPhone und Tablet-PC auch z. B. das Internet selbst oder Praktiken wie Carsharing dabei.
Innovation wird in unserer Umgebung zuerst und vor allem als technologische Innovation verstanden. Soziale Innovationen – also die Verbreitung neuer gesellschaftlicher Verhaltensweisen – hinken demgegenüber scheinbar hinterher, sie folgen der Technik auf den Wegen, die die Technik vorzeichnet. Deshalb achten wir in der Vorschau vor allem auf Technik, im Rückblick aber fallen auch soziale Änderungen auf.
Nehmen wir das Smartphone. Kaum ein Gerät hat offenbar in den letzten Jahren die individuellen Verhaltensweisen so augenfällig umgekrempelt wie dieses.

Die Reihenfolge scheint also klar: zuerst erfolgt die Erfindung, die neue Möglichkeiten eröffnet. Werden diese Möglichkeiten akzeptiert – treffen sie auf eine Nachfrage -, so ändern sich in ihrem Gefolge auch Verhaltensweisen der Menschen: die soziale ist eine Folge der technologischen Innovation.
Diesem Muster folgen, vielleicht noch mit weiteren guten Gründen als der allgemeinen historischen Gesetzmäßigkeit, auch die Versprechungen der großen IT-Konzerne wie Google, Amazon, Apple. Auch ein Peter Thiel verspricht, vom rechten Rand der Gesellschaft aus, mit Innovationen „die Welt zu retten“. /4/
Andere Verlaufsmuster: Wechselwirkungen, Rückkopplungen, Schleifen
Trotzdem ist das Muster nicht allgültig, es gibt auch andere Verläufe.
• Trivial ist, dass eine technische Neuentwicklung ein Bedürfnis treffen muss, um sich durchzusetzen. Der Segway bildet ein Beispiel für eine Innovation, die sich am Markt nicht durchsetzen konnte und heute ein Nischendasein fristet. – Es gibt also zumindest Rückkopplungen zwischen technischer und sozialer Innovation.
- Technische Innovationen können aufgrund sozialer Entwicklungen gebremst oder umgekehrt werden. Ein Beispiel dafür ist die zivile Nutzung der Atomkraft, deren praktische Indienststellung in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nur aufgrund massiver öffentlicher Förderung möglich war und deren Ausstieg auch wieder gesellschaftlich determiniert war.
- Umgekehrt ist die Erfindung moderner Techniken auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien aufgrund von sozialen Bewegungen angestoßen und beschleunigt worden: Erst kam das ökologische Bewusstsein und eine politische Strömung, dann kamen Solarstrom und Windkrafträder.
- Auch das Carsharing begann als gesellschaftliche Praktik und verbreitete sich „von unten“ in die Gesellschaft und wird nun durch neue Techniken der Elektromobilität quasi technisch unterfüttert.
Fazit: Eine Innovation mag als technische starten – aber sie muss immer auf eine gesellschaftliche Nachfrage treffen, um sich durchzusetzen. Sie muss neue soziale Praktiken unterstützen – der Sinn liegt immer in der sozialen Innovation, niemals in der „Technik als solchen“.
Wir „sehen“ das aber nicht so. Wir sehen als Erstes die Technik und die Gerätschaften – denn die sind sinnlich erfahrbar, greifbar.
Angewandt auf den Artikel von Herrn Pistorius: Welche sozialen Praktiken werden denn auf ein gesellschaftliches Bedürfnis stoßen und bedürfen der technischen Unterfütterung? Ist denn – das Beispiel sei hier willkürlich herausgegriffen – ein „Büro, wo wir gerade sind“ ein Sinn-volles soziales Ziel? Oder läuft nicht vielleicht eine weitere Atomisierung unserer Arbeitsweisen nicht der Notwendigkeit von mehr Teamarbeit in Wissensprozessen entgegen?
Anmerkungen
/1/ Frankfurter Rundschau: „Verwaltung liebt das Papier“, Ausgabe vom 13.07.2017
/2/ Boris Pistorius: Niedersachsens IT-Strategie – digital, sicher und zukunftsorientiert, in: Innovative Verwaltung 1-2|2017, S. 34-36
/3/ das., Seite 34
/4/ Peter Thiel, Blake Masters: Zero to One: Wie Innovation unsere Gesellschaft rettet, Campus Verlag, 2014