Aus der agilen Methodenkiste: Anforderungen erheben mit „Speedboat“

Eine Neurobiologin, die sich mit Motivationsforschung beschäftigt, erklärt im Zeitungsinterview, welche Faktoren uns Menschen anspornen. /1/ Dies seien unter anderem das Gefühl der Handlungsfreiheit – also nicht bevormundet zu werden – und der Wirkmächtigkeit – also dass unsere Taten nicht folgenlos bleiben und sinnlos sind.

„Und was nützen Ihnen Ihre Forschungsergebnisse im Alltag?“ fragt der Interviewer etwas provozierend. „Wie bekommen Sie Ihre Kinder dazu, mittags auch Salat zu essen.“ – „Ganz einfach,“ antwortet die Forscherin. „Ich lasse sie bestimmen, welche Zutaten in den Salat kommen. Und am besten, sie den Salat selbst machen lassen. Dann ist es ihr Salat, und den essen sie.“

Was können wir daraus für unsere Projekte lernen?

Mangelnde Anwenderbeteiligung ist ein großes Projektrisiko

Viele Organisationsprojekte in unseren Verwaltungen scheitern oder wollen zumindest nicht recht vorankommen. Mehrere mir bekannte Städte oder Landkreise haben in den letzten Jahren zum Beispiel Dokumentenmanagement-Projekte begonnen, bei denen oft teure Software beschafft, aber auch Jahre später nicht genutzt wurde.

Der gemeinsame Nenner dieser Projektruinen ist einfach: die künftigen Anwender waren weder an der Beschreibung der Anforderungen beteiligt noch an der Erstellung des „proof of concept“. Der DMS-Hersteller glaubte, aufgrund seiner Projektpraxis schon zu wissen, was die Anwender brauchen, und die IuK-Abteilung glaubte dem DMS-Hersteller.

Umgekehrt ist die aktive Beteiligung von Anwendern oder ihren Vertretern einer der mächtigsten Faktoren, um durch Motivation ein Projekt zum Erfolg zu führen.

Die Betroffenen beteiligen mit „Speedboat“

 

Das Speedboat (oder auch deutsch Rennboot) ist eine ganz einfache Methode, um in einem Workshop Anforderungen einer Gruppe von (ausgewählten) Anwendern zu erfassen /2/. Abbildung 1 zeigt eine Folie mit dem Speed Boat. Man kann es aber genauso auf eine Metaplanwand zeichnen.

Abbildung 1: Ein Speedboat mit Schleppankern

Der Moderator erklärt den Teilnehmern den Ablauf:

Stellen Sie sich vor, Ihr Team (oder Ihre Abteilung, je nach Kontext) sei ein Rennboot. Dieses Teamrennboot fährt mit voller Energie auf die Ziellinie zu, um den Sieg im Rennen davonzutragen. Aber, aber ein unglückliches Schicksal oder eine böse Fee haben Schleppanker an das Boot gehängt. Die Schleppanker bewirken, dass der Motor des Bootes sich dauernd abmühen muss, um das Boot in Fahrt zu halten. (Zwischenfrage des Moderators an die Teilnehmer: Wer ist der Motor? Regelmäßige Antwort: Wir, die Menschen, das Team.)

Wir wollen jetzt gemeinsam die Schleppanker sammeln, die uns in unserer Arbeit behindern und bewirken, dass wir Energie unproduktiv verausgaben müssen.

 Die Teilnehmer erhalten PostIts, auf denen sie ihre Schleppanker notieren. Dies tut jeder Teilnehmende erst einmal für sich (Zeitrahmen 7 Minuten).

Danach gehen alle nacheinander mit ihren PostIts nach vorne und heften sie an die Metaplanwand. Bei unklaren Formulierungen können die anderen Teilnehmer fragen stellen, und die Beschreibung des Schleppankers wird präzisiert.

Dabei werden die aufgeschriebenen Faktoren gleich nach Wichtigkeit priorisiert. Der Moderator fragt nämlich jeweils:

Ist das ein langer Schleppanker, den das Boot weit hinter sich herziehen muss? Oder in kurzer?

Ein langer Schleppanker symbolisiert ein wichtiges Arbeitshindernis, ein kurzer Schleppanker ein weniger wichtiges.

Abbildung 2: Eine Metaplanwand mit Schleppankern (Ergebnis eines Workshops mit 12 Mitarbeitenden einer kleinen Verwaltung, 27.09.2017)

Die Zahl der Schleppanker gibt dem Moderator Hinweise auf die Energie, die das Thema im Team weckt. Kommen wenige Schleppanker zusammen (weniger als drei pro Teilnehmer im Durchschnitt), dann ist vermutlich zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Energie im Team für das Projekt zu gering. Umgekehrt haben wir es noch nie erlebt, dass ein Projekt am Widerstand der Anwender gescheitert wäre, die auf diese Weise ins Projekt einbezogen wurden.

Die Ergebnisse stellen den Grundstock für den Anforderungskatalog dar

Speedboat ist keine Augenwischerei, sondern eine wirkliche erste Anwenderbeteiligung. Die Schleppanker werden dokumentiert und den Teilnehmern zur Verfügung gestellt (in Form eines Protokolls oder Ähnlichem).

Abbildung 3: Auszug aus einem Speedboat-Ergebnisprotokoll

Dann werden weitgehend identische Schleppanker zusammengefasst und ins Positive umformuliert. Aus dem Schleppanker

Dauernde Suche, weil keine einheitliche Benennung

wird die Anforderung

Einheitliche Benennungen ermöglichen das Finden von Dokumenten ohne langes Suchen.

Diese Anforderungen bilden den Grundstock für das Product Backlog: In agilen Projekten ist das der Katalog aller Anforderungen, Wünsche und Ideen, mit denen das Projekt gesteuert wird und deren Umsetzungsgrad immer wieder gemessen wird.

So begleitet die Liste der Schleppanker aus dem Projektstart das Projekt während seiner gesamten Laufzeit. Es dient als Grundlage zum Verfassen von Userstorys, zur Vorbereitung von Herstellerpräsentationen und zur Organisation des Rollouts in die Pilotabteilungen. „Schleppanker checken“ ist in einigen Projekten zur stehenden Redewendung geworden, um den Stand der Anforderungserfüllung zu prüfen. Damit gehen die Schleppanker auch ein in die Erfolgsmessung.

Anmerkungen

/1/ Interview mit Tali Sharot: „Die Wahrheit alleine genügt nicht“, Frankfurter Rundschau, 23./24.09.2017, Beilage

/2/ Speed Boat ist eines von mehreren Innovation Games, die von Luke Hohmann entwickelt wurden. Im Internet sind sie unter http://www.innovationgames.com/ zu finden.

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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