Selbstausbeutung: das neue Leiden des 21. Jahrhunderts?

Fremdausbeutung mit extrinsischer Motivation (Foto: Wikipedia)

In der modernen Arbeitswelt mit u.a. agilen Elementen, in der von der besonderen Haltung gesprochen wird, sich selbst weniger fremdbestimmt sondern mehr selbstbestimmt wahrzunehmen, in der nicht befohlen sondern geführt wird, in der Freiräume zur eigenen Entfaltung geschaffen werden, in der eigenverantwortliches Arbeiten Spaß macht, scheint es zu einem neuen Krankheitsbild zu kommen. In meiner Familie als auch im Bekanntenkreis habe ich inzwischen mehrere Fälle von Depression und Burn-Out miterleben müssen.

Prof. Byung-Chul Han führt in seinem Buch Müdigkeitsgesellschaft aus, dass diese Erkrankung eine Selbstausbeutung ist. Während noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts der Arbeiter über offenkundigen Gehorsamkeit angetrieben wurde und so deutlich erkenntlich war, dass er in der Fremdausbeutung war, wandelte sich das Bild nun zunehmend. Die alten Zügel wurden immer mehr gelockert. An ihre Stelle tritt nun eine andere, kaum wahrnehmbare strukturelle Gewalt, die des Können-dürfens, die am Ende auch nur wieder ins Müssen ausufert:

Anstatt sich vor einer wie auch immer gearteten äußeren Macht zu fürchten, kollabiere der Mensch des 21. Jahrhunderts an der Unendlichkeit seiner Möglichkeiten.

so schreibt Svenja Flaßpöhler in ihrer Buchrezension, und weiter:

Heute ist an die Stelle des ehemaligen „Gehorsamssubjekts“ das „Leistungssubjekt“ getreten, das aus sich heraus produktiv ist. Das Leistungssubjekt, so Han, leidet nicht mehr an der Negativität von Verboten, sondern seine Krankheit resultiert gerade umgekehrt aus einem Übermaß an Positivität: Es kann, bis es nicht mehr können kann. Der depressive Mensch, schreibt der Philosoph, „ist jenes animal laborans, das sich selbst ausbeutet, und zwar freiwillig ohne jede Fremdzwänge“.

Ähnlich sieht das Jakob Schrenk in seinem Buch Die Kunst der Selbstausbeutung: Wie wir vor lauter Arbeit unser Leben verpassen. Er zeigt darin eine scheinheilige Arbeitswelt, die den Akteuren eine Selbständigkeit vorgaukelt, die sie nicht besitzen, und in der sie sich am Ende selbst versklaven. In einem Interview  (Die Kunst der Selbstausbeutung – „Arbeitslose auf Bewährung“) stellt er fest:

Um so mehr Freiheiten und Selbstbestimmung wir in unserem Arbeitsumfeld bekommen, umso mehr handeln wir wie ein Unternehmer im Unternehmen. Das ist einerseits freiwillig, weil es unter Umständen Spaß macht, andererseits entstehen ganz neue Zwänge. Wenn in der Arbeit zum Beispiel alle bis 21 Uhr bleiben, bleibt man selbst eben auch bis 21 Uhr. Man ist kein passiver Angestellter mehr, sondern ein Unternehmer der eigenen Arbeitskraftausbeutung.

Auf die Frage, was wir tun könnten, um uns vor der eigenen Ausbeutung zu schützen, kommt leider nicht viel mehr, als wieder das unsägliche Thema Work-Life-Balance:

Die neue Arbeitswelt ist vertrakt und verworren. Wir müssen sie und das Prinzip der Selbstausbeutung erst einmal verstehen und dann neue Grenzen zwischen Job und Freizeit ziehen.

Eines klingt jedenfalls auch immer wieder durch: Viele haben anfangs (angeblich?) richtig Spaß bei der Arbeit, wie bei einer scheinbar befriedigten Sucht, und stürzt sich so richtig rein. Am Ende ist man ausgebrannt, weil es dann doch keine Er-füll-ung gab?

Also gute Frage, wie bekommen wir unser Leben so hin, dass wir auch bei der Arbeit leben und Freude haben ohne in der Selbstausbeutung zu stehen, also ohne auszubrennen?

BLEIBEN SIE GESUND UND PASSEN AUF SICH AUF!

Autor: Dr. Martin Bartonitz

Geboren 1958 und aufgewachsen in Dortmund, am Rande des Kohlenpotts, einem Schmelztiegel während der Gründerzeit eingewanderter Menschen. 1992 nach der Promotion in experimenteller Physik gewechselt von der Messprozess- in die Geschäftsprozesssteuerung. Mit Blick auf die Erfahrungen in der Optimierung der Effizienz von Prozessen in der Bürowelt kam in den letzten Jahren immer mehr die Erkenntnis: Das Business machen die Menschen. Und wenn nur nach der Effizienz geschaut wird, dann wird auch noch die letzte Motivation in den Unternehmen zerstört. Daher sollten Organisation und auch die eingesetzte Software die Menschen in ihrer Kreativitität unterstützen und sie nicht knechten. Selbstbestimmtheit statt Fremdbestimmung sollte uns den nächsten Schub in unserer gesellschaftlichen Entwicklung bringen.

5 Kommentare zu „Selbstausbeutung: das neue Leiden des 21. Jahrhunderts?“

  1. Wobei ich nicht glaube, dass es in der Mitte der Gesellschaft ohne Mitwirkung sehr vieler Beteiligter so weit kommen kann. Das immer ‚mehr wollen‘, steckt nun mehr im kollektiven Geist der Wohlstandsgesellschaft.
    Zu viele streben nach der imaginären Karotte, und das bitte möglichst bequem, irgend wer soll’s richten, und egal welcher Schaden rundum entsteht.
    Ergänzend… „Burnout-Spirale“ von Maslach und Leitner (2001)
    „Burnout ist eine Erosion der Werte, der Würde, des Geistes und des Willens – eine Erosion der menschlichen Seele. Es ist ein Leiden, das sich schrittweise und ständig ausbreitet und Menschen in eine Abwärtsspirale zieht, aus der das Entkommen schwierig ist.“

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